Die Abendsonne hüllt die flache Kuppe des Col de la Lombarde in ein goldbraunes Licht. Es ist kurz vor 20 Uhr, als sich die Tester ein letztes Mal an diesem Tag die 21 Kilometer des wenig bekannten, aber wunderschönen Passes hochgeschraubt haben. Motoren aus. Nach ein paar Augenblicken unterbricht Sergio Romero die andächtige Stille. „Qué día“, was für ein Tag, murmelt der Redakteur von Motociclismo, des spanischen Schwesterblatts von MOTORRAD ehrfürchtig vor sich hin. Bringt mit diesen beiden Worten jenen unvergleichlichen Reiz einer Tour in den Alpen auf den Punkt. Es ist die Kombination zweier Extreme: die in ihrer schroffen Übermacht so eindrucksvolle Bergwelt und des im alpinen Umfeld auf die Essenz konzentrierten Erlebnisses Motorradfahren. Bremsen, Kuppeln, Schalten, Abklappen, Aufrichten, Beschleunigen – alle anderen Aspekte eines Motorrads werden in jenen Momenten ausgeblendet und unwichtig.
Genau hier setzt das MOTORRAD-Alpen-Masters an. Denn nirgendwo sonst werden Mensch und Material vor extremere Herausforderungen gestellt als in den Passauf- oder -abfahrten der Alpen. Nirgendwo sonst wechseln so abrupt die Straßenbeläge, zwingen enge Kehren zum derart sorgfältigen Spiel mit Gas und Kupplung oder verlangen plötzlich auftretende Hindernisse wie Geröll, Kuhfladen oder Asphalteinbrüche blitzschnelle Linienwechsel. Ganz zu schweigen von den im Gebirge ungewöhnlich stark beanspruchten Bremsen oder den zusätzlichen Belastungen im Zwei-Personen-Betrieb.
MOTORRAD reduziert bei den Alpen-Masters die reguläre 1000-Punkte-Wertung deshalb ganz bewusst auf die fahrdynamisch wichtigen Kriterien, gewichtet relevante Aspekte stärker und lässt in dieser Hinsicht weniger entscheidende Elemente wie Garantie, Höchstgeschwindigkeit oder Unterhaltskosten unberücksichtigt.

Insofern balgen sich jeweils die aktuellsten Maschinen des betreffenden Modelljahrgangs um die Krone der Gipfelstürmer. Die Orte wechseln. Die Premiere feierte die Alpen-Masters-Reihe im Jahr 2005/2006 am legendären Stilfser Joch, siedelte für die Ausgaben 2007/2008 nach Frankreich an die Pässe rund um den Galibier um, bevor in den Jahren 2009 und 2010 die Dolomiten zum Prüfstein wurden. Nach einem Comeback am Stilfser Joch klettert die Testtruppe mit den insgesamt 21 Testmaschinen in diesem Jahr erstmals die steilen Rampen der französischen Seealpen hinauf. Und – Hand aufs Herz – unter fahrerischen Gesichtspunkten lohnt sich die um etwa 300 Kilometer längere Anfahrt im Vergleich zu Südtirol. Griffiger Asphalt, mäßiger Verkehr und eine Fülle von über 20 Kilometer langen Passauffahrten sind einzigartig. Tipp: Der erfahrungsgemäß deutlich besseren Gastronomie wegen wohnte die MOTORRAD-Mannschaft auf der italienischen Seite der Pässe im kleinen Örtchen Pietraporzio.
Unverändert bleibt der Austragungsmodus des Alpen-Masters. Um sämtliche Neuerscheinungen werden insgesamt fünf möglichst homogene Gruppen aus jeweils vier Maschinen gebildet, die in einer Vorrunde von der MOTORRAD-Testcrew nach einem Punkteschema bewertet werden. Der jeweilige Sieger der Gruppe zieht ins Finale ein.

In welchem alle Fünf dann auf den amtierenden Alpen-Master, also den Gewinner des Vorjahres treffen. Im Ausscheidungsmodus geht es dann zur Sache. Die Punktezahl aus der Bewertung der Vorrunde spielt keine Rolle mehr. Die Entscheidung basiert ausschließlich auf den subjektiven Eindrücken der Tester. Auf jedem Pass einer gegenüber der ursprünglichen Testrunde deutlich erweiterten Finaltour wird ein Motorrad von der aus den Kollegen der ausländischen Schwesterzeitschriften und einigen MOTORRAD-Redakteuren bestehenden Jury per geheimem Votum abgewählt. Die letzte verbliebene Maschine wird demnach zum neuen Alpen-Master gekrönt.
Was sich zunächst so profan anhören mag, bringt die Jury-Mitglieder oft genug ins Grübeln. Denn mit unbeschwertem Eckenwetzen allein ist es für einen potenziellen Alpen-Masters-Sieger nicht getan. Zwei-Personen-Tauglichkeit, Windschutz für die An- und Abreise, Reichweite und ABS spielen trotz der Fokussierung auf die Kernkompetenzen auch bei dieser eher emotionalen Wahl eine Rolle. Mit ein Grund, weshalb bei den bisherigen Alpen-Masters-Auflagen nicht die fahraktiven, aber unter jenen rationalen Aspekten schwächelnden Fun- oder Naked Bikes ganz oben landeten, sondern eher die moderatere Fraktion der Allrounder oder Reiseenduros.
Zumal gerade den aktuellen Reiseenduros der Spagat zwischen komfortablem Tourer und sportlichem Landstraßenmotorrad immer besser gelingt. Schluckfreudige Federung, aufrechte Sitzhaltung mit viel Spielübersicht und druckvolle Motoren prädestinieren diese Konzepte geradezu für die große Alpentour. Kombinieren sie damit doch – von den Dimensionen und dem Gewicht einmal abgesehen – fast alle unter den Extrembedingungen des Gebirges entscheidenden Aspekte. Ob deshalb die gekürte Siegerin der Reiseenduro-Kategorie, die Triumph Tiger Explorer, der amtierenden Alpen-Meisterin, der BMW R 1200 GS, das Leben schwer machen kann, das liegt allerdings in der Hand besagter Jury.
Wertungssystem und Testcrew

Die Besonderheiten der Alpen-Masters-Wertung
Kein Terrain stellt höhere Ansprüche an Motorrad und Fahrer als die Alpen. Deshalb unterscheidet sich die Alpen-Masters-Wertung deutlich von der sonst von MOTORRAD angewendeten 1000-Punkte-Wertung. Zusätzliche Aspekte oder eine stärkere Gewichtung bereits existierender Kriterien betonen den auf die fahrdynamischen Eigenschaften gelegten Fokus - während in diesem Umfeld weniger relevante Aspekte (Topspeed, Garantie et cetera) nicht berücksichtigt werden.
Zusätzliche Kriterien
- Beschleunigung 0-140 km/h
- Durchzug in 2700 m ü. NN / im 2. Gang bergauf mit Sozius
- Federungsreserven, Schräglagenfreiheit und Bodenfreiheit bei Beladung
- Bremsverhalten bergab/Fading
- Traktionskontrolle
- Reichweite auf Passstraßen
Stärker gewichtete Kriterien
- Ansprech-/Lastwechselverhalten
- Kupplung
- Schaltung/Getriebeabstufung
- ABS-Funktion
- Aufstellmoment beim Bremsen
- Gepäckunterbringung
- Sitzkomfort Sozius
- Wind- und Wetterschutz

MOTORRAD-Testcrew
Peter Mayer (52)
Testredakteur
Spricht fünf Sprachen - nur nicht Hochdeutsch. Besitzt ein Faible für Off- roader und Radsport.

Karsten Schwers (40)
Top-Tester
Wer sich mit ihm misst, muss sich mit Platz zwei bescheiden- egal ob im Job oder beim Sport.

Stefan Kaschel (46)
Testredakteur
Kritischer Geist, hat an allem was auszusetzen - und meist eine gute Lösung.

Eva Breutel (52)
Italien-Korrespondentin
Sie hat das Ohr an Ducati, Guzzi und Co. - verständlich, sie lebt in Bologna.

Sven Loll (38)
Junge für alles
Ob Motorradinstruktor, Model oder Fotofahrer - Sven ist der Mann für die schönen Seiten des Lebens.

Rainer Froberg (48)
Fuhrparkleiter
Domptiert den zweirädrigen Floh- zirkus der Redaktion - und das meist mit guter Laune.

Die Gäste
Sergio Romero (34)
Motociclismo, Spanien
dreifacher Isle-of-Man-Teilnehmer
Liebt die Berge - sowohl auf dem Motorrad als auch beim Klettern.

Thomas Cortesi (25)
Moto Journal, Frankreich
Fühlt sich nur innerhalb Galliens wohl, hält nur fürs Foto das Vorderrad am Boden - wenn auch ungern.

Andrea Tourmaniantz (48)
Inmoto, Italien
Startete vor dem Alpen-Masters bei einem Supermoto und danach beim Motocross - Motorrad-leidenschaft auf Italienisch.

Freddy Papunen (29)
MOTORRAD, Schweden
Dreifacher schwedischer Superbike-Meister. Rennsport geht ihm über alles - außer der großen Party beim Mittsommerfest.
Die Teststrecke


Nach der Region um den Col de Galibier in den Jahren 2007 und 2008 kehrte das MOTORRAD-Alpen-Masters für die Ausgabe 2012 wieder in die französischen Alpen zurück. Die Vorteile: zumeist moderater Verkehr, griffiger Asphalt und die Häufung vieler langer Passauffahrten. Zudem interessant: die Nähe zur nur 130 Kilometer entfernten Côte d Azur.
Auf der 155 Kilometer langen Testrunde (siehe Karte) kommen nahezu alle für das Gebirge typischen Straßenverhältnisse vor. Bereits der Col de la Lombarde bietet mit seiner ver-schlungenen Ostrampe (21 Kilometer) und der weitläufigen Westseite (20 Kilometer) fast alle Facetten alpinen Straßenbaus. Denen das - im Wortsinn - Highlight folgt, der 25 Kilometer lange Aufstieg zum höchsten aller asphaltierten Alpenpässe, dem 2715 Meter hohen Col de la Bonette.
Nach der Abfahrt nach Jausiers biegt die D 900 zum Col de Larche ab. Die äußerst schnellen Schwünge werden erst kurz nach der relativ niedrigen Passhöhe (1991 Meter) von 14 zurück ins Sturatal führenden Kehren unterbrochen.
Den Ausgangspunkt des MOTORRAD-Alpen-Masters 2012 bildete das Hotel Regina delle Alpi (www.reginadellealpi.com) im italienischen 120-Seelen-Dorf Pietraporzio. Mit moderaten Preisen (Zimmer mit Halbpension ab 55 Euro), sehr gutem Essen, hausgemachtem Eis, Hallenbad und Motorradgaragen kann die MOTORRAD-Redaktion das Haus der Italienisch und Englisch sprechenden Eheleute Maura und Massimo nur empfehlen.