Auf Achse mit der Honda GL 1000 Gold Wing

Auf Achse: Honda GL 1000 Königin der Landstraße: Honda Gold Wing

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Seit 1974 kreuzt Hondas Luxusliner Gold Wing über die Straßen dieser Welt. Wie kaum ein anderes Motorrad spaltete der Meilenstein die Gemüter der Motorradfahrerszene – bis heute.

Königin der Landstraße: Honda Gold Wing Jahn
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Ausgerechnet eine Gold Wing! Der Name weckt Assoziationen. Ungefragt drängen sich Erinnerungen an meine frühen Motorradtage in den Vordergrund. Im motorradfahrenden Freundeskreis lästerten wir damals über Hondas Dickschiff, das vor gut 20 Jahren als sechszylindrige GL 1500 unsere Wege kreuzte. Dieser Luxusliner mit Rückwärtsgang und Tempomat war das genaue Gegenteil von dem, was wir unter Motorradfahren verstanden. Für uns eine Doppelhaushälfte auf Rädern  mit Einbauküche. Vollverkleidet, vollausgestattet, voll leise und voll spießig. Der Begriff Immobilie erhielt eine neue Bedeutung.

Heute steht eine Honda GL 1000 aus dem Jahr 1977 in der milden Wintersonne Südfrank- reichs vor mir, der Urahn aller Gold Wings. Keck reckt die 1000er ihre vier Zylinder seitlich unter der Tankattrappe hervor, als wolle sie sagen, "sieh her, was ich zu bieten habe."

Rückblende. Im Herbst 1974, als Honda die Gold Wing auf der IFMA in Köln erstmals präsentierte, hatte sie in der Tat einiges zu bieten: Mit ihrem Layout mit wassergekühltem  Vierzylinder-Boxermotor, 999 cm³, 82 PS, 80 Nm und 295 Kilogramm beschritt sie neue Wege und setzte konzeptionell Maßstäbe. Zum ersten Mal hatte ein japanisches Großserienmotorrad Kardan statt Kette, ein japanischer Viertakter Wasserkühlung. Weitere beflügelnde Highlights waren ihre drei Scheibenbremsen, ein unter der Sitzbank platzierter Tank und die jeweils von einem Zahnriemen angetriebenen beiden obenliegenden Nockenwellen. Nach der CB 450 von 1965 und der CB 750 Four von 1969 beschritt Honda konstruktives Neuland und hob ein völlig neues Konzept aus der Taufe. Und die Motorradszene spaltete sich ob dieser schweren Maschine, die in keine der damals vorhandenen Schubladen so recht passen wollte. Die einen feierten enthusiastisch ihren technischen Fortschritt, die anderen lehnten sie aufgrund ihrer opulenten Erscheinung und ihres hohen Gewichts entschieden ab.

Mit Schwung schiebe ich sie vom Hauptständer und starte ihren Motor. Eine herrlich benebelnde Note aus verbranntem Benzin-Luft-Gemisch erfüllt die Atmosphäre. Das verhaltene, sonore Brabbeln des Boxers erinnert mich spontan an einen VW Käfer.

Jahn
Flottes Kurvenkratzen war nie ihre Domäne. Das merkten auch die Tester 1975. Bei niedertourigem Dahingleiten ist sie dagegen in ihrem Element.

Auch den Journalisten fiel 1975 bei der Testmaschine das seidenweich laufende Aggregat auf, das im Leerlauf kaum mehr Geräusche produzierte als ein Pkw-Motor unter der Haube. Sie schrieben es dem geräuschdämpfenden „Wasserschutzmantel“ zu. Der ungewohnt leise Motor, der gerade einmal 79 dB(A) bei der Fahrgeräuschmessung produzierte, suggerierte dem Fahrer stets eine niedrigere Geschwindigkeit. Er war also permanent schneller unterwegs, als es die Straßenverkehrsordnung erlaubte. Und das auch noch verdammt komfortabel. Honda tat sich damals schwer, sein Topmodell mit eindeutigen Botschaften im Motorradmarkt zu positionieren. Tester von Das MOTORRAD prügelten die Vorserienmaschine mit Höchstgeschwindigkeit über Autobahnen und um den Hockenheimring. Die tief angebrachten Rasten und die Auspuffanlage hinterließen bei schnellen Schräglagenwechseln Spuren im Asphalt. Immerhin gelangten die Tester zu der Einsicht, dass die GL 1000 zum „rennmäßigen Fahreinsatz nicht konzipiert sei, eher dem allgemeinen Trend folgend als Reisemaschine mit Reserven“. Da verwunderte auch ein Verbrauch von über zehn Litern nicht.

Größer, stärker, komfortabler stand im Las-tenheft. Genussvolles Motorradfahren, cruisen, wie man heute sagen würde, war den japanischen Herstellern bis dato noch fremd. Der Gold Wing sah man dagegen auf Anhieb an, wofür sie konzipiert wurde: das gestreckte Fahrwerk, eine auch für zwei Personen bequeme Sitzbank, ein wartungsarmer Kardan, ein servicefreundlich konstruierter Boxermotor, der Bezintank schwerpunktgüns-tig unter der Sitzbank platziert, der Motor laufruhig und sparsam, alles Fakten, die für sich selbst sprachen.

Die Motorradszene war Mitte der 1970er-Jahre noch nicht bereit für die komfortable Gold Wing. Skeptisch fragte der Redakteur in Das MOTORRAD 5/1975: "Ist das die Zukunft im Zweiradbau? Ist der Kolossalbau erstrebenswert, macht er Schule?" Und in Ausgabe 23/1975 prognostizierte der Autor: "Honda hat einen Weg beschritten, der eine neue Zeit einleitet. Motorradfahren des guten alten Stils scheint der Vergangenheit anzugehören." Die GL 1000 wagte es, das Image vom hartgesottenen Biker in Frage zu stellen.

Jahn
Ein Kardan aus Japan? Mitte der 1970er-Jahre kamen Motorräder mit Kardan vor allem aus Deutschland. Honda zeigte, dass sie auch ohne Kette konnten.

Während ich noch darüber nachdenke, gewöhnen wir uns auf den ersten Kurven langsam aneinander. Aus dem Drehzahlkeller schüttelt sie ihre Kraft, urwüchsig, bärig, und beschleunigt mit geringem Aufstellmoment des Kardans. Dank eines genialen Massenausgleichs entfällt das sonst boxertypische Kippen um die Längsachse. Leicht geschwungene Streckenabschnitte laden zum schaltfaulen Dahingleiten ein. Moderate  Drehzahlen sind das Lebenselixier der Gold Wing – einfach mal die Drehzahl des Alltags herunterschrauben, Stress reduzieren. Reisen statt rasen. In einer Anzeige warb Honda einst mit dem Slogan „Die Inkarnation für Fahrkomfort auf allen Straßen“. Langsam beginne ich meine Vorurteile abzubauen und zu verstehen.

Kurz nachdem Kawasaki 1972 seine Z 900 Super 4 vorstellte, machten Gerüchte die Runde, dass Honda ein neues Supermotorrad entwickle. Von einem mächtigen Dreizylinder bis hin zu einem Zwölfzylinder mit 1,8 Litern Hubraum reichte die Fantasie. Tatsächlich entwickelte Hondas Chefingenieur Soichiro Irimajiri 1972 in nur kurzer Zeit einen Prototypen, Codename AOK. Er besaß einen Sechszylinder-Boxermotor mit 1470 cm³ und 80 PS, der das 220-Kilo-Geschoss auf weit über 200 km/h beschleunigen sollte. Doch der Prototyp kam nie über das Versuchsstadium hinaus.  Das Thema Super-Tourer ließ Honda jedoch nicht in Ruhe. Ursprünglich war die Gold Wing für Amerika und seine geschwindigkeitsbeschränkten weitläufigen Highways konzipiert. Dann kam die Ölkrise dazwischen. Weil sich die Kauflaune der Amerikaner nach überwundener Zwangslage in Grenzen hielt, entschieden die Marketingstrategen von Honda, mit der Präsentation bis Herbst zu warten und sie zeitgleich in Europa vorzustellen. So stand sie im Herbst 1974 auf der IFMA und ab 1975 in den Verkaufsräumen der Händler.

1979 brachte Honda die Nachfolgerin GL 1100. Mit Stufensitzbank, breitem Hirschgeweih-Lenker und flacherem Lenkkopf mutierte sie zum Softchopper. Doch auch sie sprach komfortorientierte  Tourenfahrer an, vor allem auf der anderen Seite des großen Teichs. Spätere Modelle führten das Konzept fort.

Jahn
Angesichts der erhellenden Fahreindrücke mit der Honda Gold Wing von 1977 muss so manches alte Vorurteil gerade gerückt werden.

Der Urahn aller Gold Wing-Modelle, die GL 1000, hat nicht nur bei Honda eine eigenständige Modellreihe eröffnet, die bis heute permanent weiterentwickelt und mit sechs Zylindern zusätzlich kultiviert, eine verschworene Anhängerschaft hat. Man muss die alte Gold Wing einfach am eigenen Leib erleben. Innerlich schalte ich einen weiteren Gang herunter, erfreue mich an dem milden Fahrtwind, der mir um die Nase weht.  Die unverkleidete 1000er bereitet auf dem gut ausgebauten Asphalt-Geschlängel eine Menge Fahrfreude. Was damals die Messlatte des technischen Fortschritts in die Höhe schraubte, ist heute noch immer ein angemessenes Konzept.

Mittlerweile schreckt mich selbst eine echte Doppelhaushälfte nicht mehr. Und die Vorstellung von einer betagten Honda GL 1000, deren Fahrer nach langer Reise vom Ende der Welt schwärmt erscheint nicht mehr spießig. Oder? Mit etwas Glück können Sie vielleicht bald selbst mit genau dieser Gold Wing, als Gewinner der Leserwahl, den Komfort des ersten Honda-Supertourers genießen und die Straßen der Welt erkunden. Ganz in Ruhe.

Technische Daten

Jahn
Wie sie so in der Wintersonne funkelt, wirkt sie heute wie ein schlichter Klassiker. Mitte der 1970er-Jahre erregte das ungewöhnliche Konzept dagegen die Gemüter.

Motor
Bauart  Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Boxermotor, je eine obenliegende, über Zahnriemen getriebene Nockenwelle, je zwei über Kipphebel betätigte Ventile
Bohrung  72,0 mm
Hub  61,4 mm
Hubraum  999 cm3
Verdichtung  9,2 : 1
Leistung  82 PS bei 7500/min
Drehmoment  80 Nm bei 6500/min
Gemischaufbereitung  Vier Keihin-Gleichdruckvergaser, Ø 32 mm 
 
Elektrische Anlage
Starter  E- und Kickstarter
Batterie  12 V / 20 Ah
Zündung  Kontaktgesteuerte Batterie-Spulenzündung
Lichtmaschine  12 V / 300 W
 
Kraftübertragung
Kupplung  Mehrscheiben-Ölbadkupplung
Getriebe  Fünfgang, klauengeschaltet
Sekundärantrieb  Kardan
Sekundärübersetzung  3,4
 
Fahrwerk
Rahmenbauart  Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr
Radführung vorn  Telegabel, Ø 37 mm
Radführung hinten  Zweiarmschwinge aus Stahlrohr, zwei Federbeine, Federbasis fünffach verstellbar
Räder  Drahtspeichenräder
Reifen vorn  3.50 H 19
Reifen hinten  4.50 H 17
Bremse vorn  Doppelscheibenbremse, Ø 232 mm,  EinkolbenSchwimmsättel
Bremse hinten  Scheibenbremse, Ø 250 mm, Einkolben-Schwimmsattel
 
Maße und Gewichte
Länge  2330 mm
Radstand  1540 mm
Gewicht  295 kg (vollgetankt)
Tankinhalt  19,3 Liter
Fahrleistungen
Höchstgeschwindigkeit  198 km/h
 
Preis  9268 Mark (1976)
   
Hersteller
 Honda Motor Co. Ltd. Tokio, Japan

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