Da könnte so mancher Topseller neidisch werden. Seit dem Stapellauf im Jahr 2006 bis vergangene Saison zählte die Kawasaki ER-6 ununterbrochen zu den fünf bestverkauften Motorrädern Deutschlands. Das hat im selben Zeitraum nur eine einzige weitere Maschine geschafft: der Dauerbrenner BMW R 1200 GS. Und jetzt? Wird aus der ER-6n die Z 650 . Der neue Name folgt der Logik der Modell-Nomenklatur von Kawasaki. Neben der Z 1000 und der neuen Z 900 rundet nun der populäre Working-class-Hero die Naked Bike-Palette von Kawasaki nach unten ab. Doch das Kürzel Z signalisiert noch mehr. Mit heruntergezogenem Scheinwerfer, ansteigender Heckpartie und kantigeren Konturen nimmt das brave Mittelklasse-Bike auch die Formensprache der größeren Schwestern auf. Schluss mit Biedermann, her mit der Brandstifterin? Die ER-6n wird in diesem Toptest ständig im Rückspiegel der Neuen aufflackern und helfen, die innerfamiliäre Umorientierung einzuordnen.
Deshalb: Auf geht’s. Beine über die Sitzbänke schwingen, Maß nehmen. Straffer, schmaler und flacher spannt sich das Polster der Z über die Sitzmulde. Sportlicher? Ja. Niedriger? Ebenfalls. 1,5 Zentimeter, um genau zu sein. Unbequemer? Nein. Später werden wir wieder einmal feststellen, dass es sich auf festeren Polstern auf Dauer sogar komfortabler residiert. Passend zum sportiven Ansatz streckt sich auch der Lenker zwei Zentimeter tiefer dem Fahrer entgegen, positioniert ihn aktiver und vorderradorientierter. Selbst die um immerhin 60 Millimeter nach vorn und – zum Ausgleich für die reduzierte Sitzhöhe –
15 Millimeter nach unten versetzten Fußrasten verwässern das sportlichere Sitzgefühl nicht, öffnen langen Kerls den an der ER-6n bislang etwas eng geratenen Kniewinkel. Der Rest? Passt, wie gehabt. Selbst der Hebel der seilzugbetätigten Kupplung lässt sich in der Griffweite einstellen. Nett. Wie auch die Aussicht. Denn nun wertet erstmals eine Ganganzeige das Display auf und imitiert eine Flüssigkristall-Nadel den analogen Drehzahlmesser der ER-6n.
Beim Druck aufs Startknöpfchen unterscheiden sich die Geschwister kaum. Euro 4 ließ den ohnehin schon recht gedämpften Sound des Zweizylinders ungeschoren. Abfahrt. Hoppla, was ist das? Gefühlt braucht es etwa halb so viel Kraft, um die Kupplung zu ziehen. Der Grund: Unter der Bezeichnung Assist-Clutch dreht sich nun eine Kupplung mit Anti-Hopping- und Servo-Funktion im Maschinenraum. Die Servotechnik spannt unter Last das Lamellenpaket vor, erlaubt dadurch weichere Kupplungsfedern. Neu ist die Idee nicht, wird in aller Regel aber eher bei hochpreisigen und kräftigen Big Bikes als in der Economy-Klasse eingesetzt. Ob’s an der Kupplung liegt oder am nun über eine Umlenkung arbeitenden Schalthebel, sei dahingestellt. Fakt ist: Die Zahnradpaare flutschen bei der Z spürbar weicher und müheloser ineinander als bei der ER.
Und doch ist dies alles nur ein erster Vorbote einer neuen Leichtigkeit des Seins. 19 Kilogramm soll die bodenständige Kawa ER-6n während der Metamorphose zur Z 650 abgespeckt haben. 19 Kilogramm? Richtig gelesen. Auf die MOTORRAD-Waage drückt die Neue sogar mit 20 Kilos weniger, wiegt 188 statt 208 Kilo. Unglaublich. Allein knapp 13 Kilo sparen der neue Rahmen und die neue Schwinge ein. Den Rest der Speckschicht knapsen leichtere Räder und Bremsen, das zwei Kilo leichtere Motorgehäuse und die zierlicheren Kunststoffteile ab. Ein knappes Kilo steuert noch der von 16 auf 15 Liter reduzierte Tankinhalt bei.
Mit ihrer neuen Sportsfigur wirft sich die Z denn auch stolz und schwungvoll in die ersten Kurven. Die frontorientierte Sitzposition sorgt für mehr Druck auf dem Vorderrad, der um ein halbes Grad (65,5 statt 65 Grad) steiler stehende Lenkkopf und der um zehn auf nun 100 Millimeter reduzierte Nachlauf addieren mehr Agilität in der Lenkung. Zusammen mit der Radikal-Diät summiert sich das Leichter-Leben-Paket bei jedem Abwinkeln zu einem beschwingteren und präziseren Fahrgefühl. Spielerisch kippt die Z ab, schneidet präzise und sauber am Radius entlang. Nebenbei bemerkt: Die riesige Schräglagenfreiheit der ER-6n-Basis begrenzen auch die tiefer montierten Fußrasten an der Z 650 nicht nennenswert. Nach wie vor gilt: Wenn’s im Solobetrieb kratzt, wird aus schräg bald flach. Nicht einmal die Original-Reifen, die den Z-Modellen von Kawasaki in der Vergangenheit oft ein eigenwilliges Lenkverhalten bescherten, trüben den gelungenen Auftritt. Die Dunlop D 214 lenken neutral und haften ordentlich. Nur bei Rückmeldung und Nassgrip schwächeln die Pellen.
Schwamm drüber, denn auch zwischen den Bögen lässt die Baby-Z ihre Vorgängerin alt aussehen. Dem mit den üblichen Mitteln (reduzierte Drosselklappen-Durchmesser, zahmere Steuerzeiten) moderat erstarkten mittleren Drehzahlbereich ist der neue Elan wohl nicht allein zuzuschreiben. Eher ist es wieder eine Kombination aus der schlanken Linie und dem spontaneren Leistungseinsatz, mit der sich die Z 650 in Szene setzt. Als hätten die Techniker der Neuen eine kürzere Übersetzung implantiert, spurtet die Z 650 an jedem Kurvenausgang davon. Egal ob beim Parallelsprint aus den Ecken in den unteren Gängen oder dem Durchzug im sechsten Gang für die MOTORRAD-Fahrleistungen – die Neue macht sich immer und überall aus dem Staub. Zwei Sekunden nimmt die Neue der ER-6n – bei identischer Übersetzung wohlgemerkt – beim Spurt von 60 auf 140 km/h ab.
Allerdings: Der schnittige Auftritt verlangt Opfer. Oberhalb von 7000 Umdrehungen – und dieser Drehzahlbereich ist für eine 650er durchaus noch praxisrelevant – muss sich der Z-Treibsatz vom ER-Triebwerk überflügeln lassen. Dabei sind es weniger die vier Pferde, die das 68 PS starke Z-Aggregat auf den 72 PS leistenden ER-Motor in der Spitze einbüßt. Erstaunlich ist eher, dass der Druck der Z 650 bereits bei 8000/min abflacht und bei 9500/min endgültig vom Drehzahlbegrenzer abgewürgt wird. Liegt’s an den strengeren Abgasgrenzwerten der Euro 4-Norm? Mag sein. Denn der mechanisch weitgehend identische ER-6n-Twin darf 10 800/min drehen. Letztlich ist die eingebremste Drehfreude auch der Grund, weshalb der 191 km/h schnellen Z neun Kilometer auf den 200 km/h Topspeed der ER fehlen. Wer’s wissen will: Geradeaus läuft das nackte Duo bei diesen Tempi immer noch ohne Fehl und Tadel. Daran ändert auch die auf besseres Handling ausgerichtete Fahrwerksgeometrie der Z 650 nichts.
Freilich, zum zentralen Thema gehört Topspeed bei Naked Bikes nicht. Auf der Landstraße zählen andere Werte. Neben Handling und Druck vor allem die Federung. Hier hat sich die ER-6n noch nie mit Ruhm bekleckert. Vor allem das Federbein gibt harte Kanten schroff an den Piloten weiter. Und nun? Wandert der bislang seitlich angelenkte Monoshock bei der Z 650 zur Rahmenmitte und wird – wie bei den großen Zetts – über eine Umlenkung aktiviert. Vorn soften weichere Federn (15 statt 17,5 N/mm Federrate) die Gabel ab. Theoretisch könnte das zusätzlichen Komfort bringen. In der Praxis bleibt der Fortschritt aber aus. Trotz der progressiv wirkenden Umlenkhebelei saugt das Z-650-Heck weder kleine Wellen noch gröbere Absätze besser weg als die Hinterhand der ER-6n. Die geänderte Gabel spricht zwar gut an, taucht beim scharfen Bremsen jedoch tiefer ein als das Pendant in der ER-6n. Einstellmöglichkeiten gibt es – abgesehen von der Federbasis des Monoshocks – nicht. Wie meist in dieser Preisliga. Je zügiger der Schwung, desto aufgeregter pumpt sie sich mit der sowohl vorn als auch hinten verringerten Dämpfung durch die Federwege. Gerade vor dem Hintergrund der insgesamt sportlicheren Ausrichtung der Z verwundert diese Abstimmung.
Schließlich hätte man ihr gerade aus diesem Grund sogar den Egotrip verziehen. Von dem mit breitem Sitzkissen und stabilen Haltegriffen ausgeprägten Passagierkomfort der ER-6 ist bei der Z 650 nämlich nicht viel geblieben. Ein schmales Sitzbrötchen ohne Haltemulden und die hoch angebrachten Soziusrasten degradieren die Rückbank der Z zum Notsitz à la Supersportler.
Vertragen könnte sie einen strammen Mitfahrer zumindest in Sachen Bremsen. Im Vergleich zu den Tokico-Stoppern der ER-6n beißen die aus der Versys 650 stammenden Nissin-Zangen der Z kraftvoller und besser dosierbar in die Wave-Bremsscheiben. Im Ernstfall regelt das weiterentwickelte Bosch-ABS zudem feiner als der Vorgänger in der ER-6n.
Geteilte Freude ist doppelte Freude? Zumindest scheint die Zeit doppelt so schnell zu vergehen. Abbiegen an die Tanke. Das Zapfpistolenduell entscheidet die Z knapp für sich. 4,0 zu 4,2 Liter auf 100 km/h. Damit kompensiert die Z ihren kleineren Spritbehälter fast bei der Reichweite. Erstaunlich, dass so wenig Sprit so viel Fahrspaß möglich macht. Zumal Mäßigung auch preislich angesagt ist. Mit 6920 Euro (inklusive Nebenkosten) ruft Kawasaki für die Runderneuerte moderate 300 Euro mehr auf. Dass dem pekuniären Würgegriff wahrscheinlich die optimierungsfähige Federungsabstimmung, den Lettern des Gesetzes möglicherweise der in der Spitze kurzatmige Motor und der sportlichen Ausrichtung ganz sicher die Ignoranz gegenüber dem Passagier geschuldet sind, muss man an der Neuen akzeptieren. Und kann es auch. Denn mit der Bikini-Diät, dem spritzigen Antritt, dem agileren Handling und dem akkuraten Lenkverhalten hat die Neue mehr Trümpfe auf der Hand. Oder ganz simpel ausgedrückt: Die Z 650 ist die bessere ER-6n.
MOTORRAD-Fazit
Der Name ist Programm. Bei der Metamorphose von der ER-6 zur Z 650 nimmt der Topseller die Fährte der sportlichen Z-Modellreihe von Kawasaki auf. Agileres Handling, ein antrittsstärkerer Motor, bessere Bremsen und – vor allem – die 20-Kilo-Diät verleihen der Z eine spürbar frische Note. Die reduzierte Drehfreude und die mäßige Federung mögen zwar einen Schatten auf die Sportsfigur werfen – für nicht einmal 7000 Euro ist und bleibt die Z 650 ein tolles Angebot.