Fahrdynamik erklärt: So wirken sich Beladung und Sozius aufs Fahrverhalten aus

Bedeutung des Schwerpunkts für die Fahrdynamik
Wichtiger als das Fahrzeuggewicht selbst

ArtikeldatumVeröffentlicht am 27.08.2025
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Wie sich eine Veränderung der Schwerpunktlage des Motorrads auf sein Fahrverhalten auswirkt, ermitteln wir durch einen Fahrversuch auf dem MOTORRAD Testgelände und betrachten anschließend die fahrdynamischen Details anhand einer Computersimulation.

Versuchsaufbau: Slalom und Kurvenfahrt

Der Versuchsaufbau ist dem aufmerksamen Leser aus anderen Teilen der Fahrdynamik-Serie bekannt (Lenkwinkel vs. Nachlauf Praxistest: Was verändert das Handling wirklich? und Handling-Mythen im Check: Eigenlenkverhalten, Untersteuern und Übersteuern): Ein Slalom (Pylonenabstand 20 m) soll mit konstant 80 km/h durchfahren und eine 180-Grad-Kurve (Radius 47 m) mit 50 km/h absolviert werden.

Als Testfahrzeug dient uns ein Naked Bike: Eine BMW R 1250 R, die wir für das Experiment nach und nach in vier Stufen beladen.

Lenkaufwand ist nicht größer

Wir beginnen den Fahrversuch ohne Beladung und mit fast leerem Tank. In dieser Konfiguration wiegt die BMW inklusive Fahrer 305,4 kg (vorn 160,1 kg, hinten 145,3 kg). Wie erwartet liegt das Bike stabil und lässt sich präzise steuern. Daran ändert auch das Befüllen des Tanks nichts, wodurch das Gewicht um 11,8 kg auf 317,2 kg (vorn 167,5 kg, hinten 149,7 kg) steigt.

Die leichte Verschiebung des Schwerpunkts nach vorn und oben macht sich für Profi-Testfahrer Stefan Nebel sogar positiv bemerkbar: "Das Motorrad liegt schön satt und ich fahre genau dahin, wo ich hinfahren möchte. Der Lenkaufwand ist nicht größer."

"Motorrad fährt im Vergleich total sch…"

Dass das zusätzliche Gewicht an anderer Stelle größere negative Auswirkungen auf das Fahrverhalten hat, zeigt sich nach der Montage des Topcases (+ 4 kg), das wir mit einem 15 kg schweren Sandsack beladen. Es ergibt sich ein Gesamtgewicht von 266,2 kg.

Da die zusätzlichen 19 kg aber nun extrem weit hinten-oben angebracht sind, beschreibt MOTORRAD Top-Tester Karsten Schwers: "Das Motorrad fährt im Vergleich total sch…, die Präzision und das Gefühl fürs Vorderrad sind völlig verschwunden. Interessanterweise bleibt der Kraftbedarf am Lenker aber gleich." Das beladene Topcase hat also eine sehr große Wirkung auf das Fahrgefühl, nicht jedoch auf den Lenkaufwand.

Es geht noch schlimmer

Doch es geht noch schlimmer. Jetzt kommen die beiden Seitenkoffer zum Einsatz, jeweils beladen mit 15 kg. Die BMW R 1250m R wiegt nun ohne Fahrer vorne 121,0 kg und hinten 185 kg, also insgesamt 306 kg.

Das Ergebnis: Es ist schlicht nicht mehr möglich, den Slalom mit 80 km/h zu absolvieren, da das Motorrad durch die Verschiebung des Schwerpunkts nach hinten nun stark untersteuert und beim Einlenken spürbar pendelt. Dieses Pendeln, das dauerhafte Korrekturen erfordert, ist auch in der langgezogenen Kurve präsent. Die Erklärung dafür wird die Simulation liefern, wir steigern aber vorher noch mal die Anforderungen.

Was fehlt noch?

Genau, der Sozius. 88,9 kg schwer, bringt die BMW R 1250 R mit ihm nun 394,9 kg auf die Waage. Inklusive unseres 70-Kilo-Top-Testers überschreiten wir inzwischen sogar mit 464,9 kg das zulässige Gesamtgewicht der BMW (460 kg) um 4,9 kg.

Doch das Ergebnis der Slalomfahrt überrascht: "Viel besser", gibt Karsten zu Protokoll. Fahrdynamiker Dirk Wisselmann scheint davon jedoch kaum überrascht und benennt sofort den Grund für die Verbesserung des Lenkverhaltens und der Stabilität: "Ein Sozius ist im Gegensatz zum Gepäck nicht fest mit dem Motorrad verbunden."

Da er sich im Slalom relativ zum Motorrad bewegen kann, setzt er wie auch der Fahrer dem schwer beladenen Bike mehr dämpfend wirkende Masse entgegen – und das Motorrad lässt sich besser steuern. Im Detail wird auch das in den folgenden Simulationen deutlich.

Simulationsmodell – so funktioniert’s

Das hier bereitgestellte Simulationsmodell besteht aus acht Körpern (Vorder- und Hinterrad, Ober- und Unterteil der Telegabel, Chassis mit Motor, Schwinge und Fahrer, aufgeteilt in Unter- und Oberkörper), die über Gelenke miteinander verbunden sind, sich somit relativ zueinander bewegen können. Das virtuelle Motorrad kann sich also genauso bewegen wie ein echtes auf der Straße.

Damit es auch virtuell fährt, verfügt es über ein komplexes Reifenmodell und über die Feder- und Dämpferelemente der Radaufhängungen. Dazu kommen die Quer-, Längs- und Torsionssteifigkeit der Telegabel, die Torsionssteifigkeit des Rahmens und die Torsions- und Biegesteifigkeit der Schwinge.

Auch der Fahrer ist beweglich modelliert und die Aerodynamik mit Luftwiderstands- und Auftriebskräften wird berücksichtigt. Die Ergebnisse der Simulation von Slalomfahrten mit unterschiedlicher Beladung zeigen die Abbildungen unten.

Simulationsergebnisse

In der Simulation betrachten wir drei verschiedene Beladungszustände: Motorrad mit Fahrer, Tank leer (305 kg), Motorrad mit Fahrer und Gepäck, Tank voll (375 kg) und Motorrad mit Fahrer, Sozius und Gepäck (465 kg). Das zum Umlegen erforderliche Lenkmoment verändert sich kaum, das voll beladene Motorrad lässt sich also mit fast derselben Kraft am Lenker einlenken und wieder aufrichten wie das unbeladene.

Fahrdynamik-Experte Benno Brandlhuber ergänzt: "Wir konnten das während unserer Arbeiten zuerst selbst nicht glauben, aber die statischen Massen beeinflussen das nötige Lenkmoment im Vergleich zur rotierenden Masse des Vorderrads kaum."

Motorrad-Fahrtechnik-Serie Fahrdynamik - Teil 3
Dirk Wisselmann

Die relevanteste Frage, die der Fahrversuch aufgeworfen hat, lautet: Was genau hat das Fahrgefühl so eklatant verändert? Dazu schauen wir uns in den Grafiken oben die Radlast hinten und den damit eng zusammenhängenden Nickwinkel unseres virtuellen Bikes an.

Der Nickwinkel ergibt sich aus dem Ein- und Ausfedern der Vorder- und Hinterradaufhängung, also aus der Bewegung des Motorrades um seine Querachse. Je größer die Differenz zwischen ihnen ist, desto größer auch der Nickwinkel.

Während sich die Vorderradlast im durchgeführten Slalom kaum verändert, erhöht sich die Radlastschwankung hinten mit voll beladenen Koffern und Topcase um den Faktor 1,6. Das Motorrad federt hinten entsprechend deutlich weiter ein und aus als ohne Beladung und der Nickwinkel wächst auf fast das Doppelte an.

Motorrad-Fahrtechnik-Serie Fahrdynamik - Teil 3
Dirk Wisselmann

Diese dynamische Veränderung der Fahrlage – man könnte es auch "wildes Schaukeln" nennen – bewirkt den von den Testfahrern beklagten Verlust des Fahrgefühls. Die Erkenntnis für die Praxis lautet also: In Koffern und Topcase transportiertes Gepäck erhöht die Radlastschwankungen besonders am Heck und das sorgt für Unruhe. Schweres Gepäck sollte man daher in den Tankrucksack laden, und nicht ins Topcase.

Und mit Sozius?

Kommen wir damit zur dritten Frage: Wie kann sich der Sozius stabilisierend auf das Fahrverhalten auswirken? Dirk Wisselmann hat das schon in Kürze umrissen. Schauen wir aber noch einmal genau hin und betrachten das Durchfahren der 180-Grad-Kurve – bestehend aus Einlenken, Kurvenfahrt und wieder Aufrichten.

Es hat sich gezeigt, dass der Sozius eine dämpfende Wirkung hat, und zwar besonders auf das Pendeln des Bikes um die Lenkachse. Sein Gewicht zählt nämlich nicht zur unbeweglichen Masse des Motorrads, sondern wirkt ihr entgegen. Zwar steigen die für das Manöver nötigen Lenkwinkel an (bedingt durch einen erhöhten Nickwinkel), das Pendeln wird aber deutlich sichtbar verringert.

Beschleunigen mit Beladung

Die Lage des Schwerpunkts ist für viele fahrdynamische Anwendungsfälle, nicht nur das Kurvenfahren von zentraler Bedeutung. Nehmen wir zum Beispiel eine Vollgas-Beschleunigung und gehen davon aus, dass wir es mit einem Reibwert von µ = 1 zu tun haben. µ ("mü") ist ein Maß für die Haftung des Reifens auf der Fahrbahn. µ = 1 wird auf trockener Fahrbahn mit normalen Straßenreifen erreicht.

Für unseren Anwendungsfall können wir das Motorrad auf den Schwerpunkt und den Radaufstandspunkt hinten reduzieren. Man kann nun für eine Beschleunigung eine Linie zeichnen, vom Radaufstandspunkt hinten ausgehend. Ist µ = 1, verläuft diese Linie in einem Winkel von 45° nach vorne-oben.

Dann kommt es zu einem Wheelie

Liegt der Schwerpunkt unseres Motorrad-Fahrer-Systems unterhalb dieser Linie, dann würde bei einer Vollgas-Beschleunigung das Hinterrad (ohne Traktionskontrolle) durchdrehen (natürlich vorausgesetzt, unser Bike verfügt über die entsprechende Power). Wenn der Schwerpunkt aber weit oben und hinten liegt (etwa aufgrund schwerer Beladung und Sozius) und damit über der Linie, dann kommt es (ohne elektronische Helferlein) zu einem Wheelie. Und optimale Verhältnisse für das Beschleunigen hätten wir dann, wenn der Schwerpunkt genau auf der Linie läge.

Hätten wir Reibwerte, die größer als µ = 1 wären, wie zum Beispiel mit wohltemperierten Supersport-Reifen, dann wäre die Linie flacher als 45° und es käme (wieder unter der Annahme ausreichender Motorleistung) eher zu einem Wheelie.

Beim Bremsen gilt übrigens Ähnliches: Je weiter der Schwerpunkt nach oben wandert, desto eher produziert man (ohne ABS) einen Stoppie. Praktisch veranschaulicht das eine Bremsmessung mit einer BMW R 1250 RT. Ohne Sozius verzögert sie in 41,6 Metern von 100 km/h auf null, mit Sozius braucht sie 44,2 Meter.