Nachdem MOTORRAD berichtet hatte, dass die insolvente KTM AG den italienischen Motorrad-Hersteller MV Agusta fallen lässt, verschickte das Management von MV Agusta einen Brief, der seine "Premium"-Kunden beruhigen soll – und stiftete damit noch mehr Verwirrung.
MV Agusta im Dezember 2024 – der Brief vom Management
Der Brief des MV Agusta-Managements, der am 13. Dezember 2024 an gute Kunden und "Freunde der Marke" ging, liegt MOTORRAD im Original vor. Doch ob sich die damit erhoffte Beruhigung der Lage einstellt, scheint fraglich. Dass sich die Wahrnehmung des Managements nicht unbedingt mit der Realität deckt, zeigt schon die Behauptung, MV Agusta habe 2024 neun neue Modelle vorgestellt – dabei handelte es sich jedoch schlicht um die altbekannte Palette, die mit neuen Farben, Euro-5+-Updates und ein paar neuen Details aufgehübscht worden war.
KTM wird gar nicht mehr erwähnt
Wirklich stutzig macht aber, dass die Muttergesellschaft KTM, die ja aktuell noch 50,1 Prozent und damit die Mehrheit an MV Agusta hält, in dem Brief mit keinem Wort erwähnt wird. Stattdessen heißt es, dass "… alle in Varese produzierten Motorräder und deren Ersatzteile in Logistikzentren in Österreich für den europäischen Markt … gelagert und von dort aus … verteilt werden." Für die momentane Situation stimmt das, doch ob es auch für die Zukunft gilt, bleibt offen. Abschließend schreibt das Management um den langjährigen KTM-Mann Luca Martin: "Die derzeitige Aktionärsstruktur wird noch definiert, die Aktionäre arbeiten zusammen, um die zukünftige Unternehmensstruktur zu bestimmen."
Noch keine Entscheidung von Timur Sardarov
Offenbar, so lässt sich daraus schließen, hat der frühere Alleineigner Timur Sardarov, der nun noch 49,9 Prozent an MV Agusta hält, noch nicht entschieden, ob er versuchen will, die Mehrheit an der Marke zurückzukaufen. Einen anderen interessierten Investor scheint es derzeit nicht zu geben, und ohnehin dürfte beim Verkauf der KTM-Mehrheit der Sanierungsverwalter in Österreich das letzte Wort haben.
2.000 Motorräder retour von Österreich nach Italien
Aus Gewerkschaftskreisen verlautete inzwischen außerdem, dass rund 2.000 Motorräder von MV Agusta, die in dem im Brief zitierten Logistikzentrum von KTM in Österreich stehen, demnächst nach Varese zurückgebracht werden und MV Agusta dafür im Werk Platz schaffen müsse. Für eine weitere Zusammenarbeit spricht das nicht gerade – auch wenn in Reaktion auf den MOTORRAD-Bericht sowohl KTM als auch MV Agusta zunächst inoffiziell erklärt hatten, dass noch gar nicht entschieden sei, ob und wie die Kooperation weitergehe.
KTM lässt MV Agusta fallen
Los ging es mit der Verunsicherung bei MV Agusta am 9. Dezember 2024: Da trafen sich die örtlichen Gewerkschaften mit den Vertretern von KTM beim Arbeitgeberverband in Varese, wo MV Agusta seinen Sitz hat. Dabei erklärten die KTM-Vertreter, dass MV Agusta aus Sicht des insolventen österreichischen Unternehmens KTM "kein strategisch wichtiger Vermögenswert" mehr sei – und damit obsolet. Alles, was die Produktion betreffe, so heißt es in dem Statement der Gewerkschaft CISL weiter, solle komplett zurück ins MV Agusta-Werk nach Varese gehen. Am 17. Dezember 2024 folgte die Bekanntmachung vom KTM-Insolvenzverwalter: "Zur Veräußerung gelangen 50,1 % der Geschäftsanteile an der MV Agusta Motor S.p.A. in Italien".
Paukenschlag in Varese
Damit steht fest: MV Agusta ist in Zukunft wieder ganz auf sich gestellt und kann nicht mehr mit Unterstützung aus Mattighofen rechnen. "KTM zieht sich komplett von MV Agusta zurück", sagt Agostino Casati von der italienischen Gewerkschaft CISL aus Varese. Er war beim Treffen mit den Vertretern von KTM und dem Arbeitgeberverband der Lombardei am 9. Dezember dabei, und er fasst die Situation so zusammen: "MV Agusta muss in Zukunft wieder auf seinen eigenen Beinen stehen."
Demzufolge fährt Hersteller KTM, der erst im März 2024 die Mehrheit an MV Agusta übernommen hatte, nicht nur seine Investitionen bei der italienischen Marke auf Null herunter, sondern gibt auch sämtliche Aufgaben ab, die er in den vergangenen Monaten für MV Agusta übernommen und in Mattighofen zentralisiert hatte: Einkauf von Komponenten, Vertrieb, Logistik und Marketing. Für MV Agusta eine dramatische Entscheidung. Im Grunde bedeutet sie einen kompletten Neustart, der in wenigen Monaten bewältigt werden müsste – und nach Einschätzung von Insidern allein kaum zu schaffen ist. Denn es gilt, neue Verträge mit Zulieferern und Händlern weltweit zu schließen.
Das Management rund um Luca Martin, der bereits im Dezember 2022 von KTM als Geschäftsführer zu MV Agusta entsandt wurde, arbeitet offenbar mit Hochdruck an den Plänen für den Neustart. Die Motorradproduktion in Varese wurde zurückgefahren und soll im Januar 2024 ganz aussetzen. Ob Hubert Trunkenpolz, den KTM im März als neuen CEO installierte, weiter in Varese bleibt, ist derzeit unklar bis unwahrscheinlich.
Im MV Agusta-Werk in Varese, Ortsteil Schiranna, herrscht große Unruhe, Angestellte und Arbeiter sorgen sich um ihre Arbeitsplätze. KTM wollte vor seiner Insolvenz die Zahl der rund 200 Beschäftigten bei MV Agusta um 24 kürzen und 500.000 Euro für Abfindungen bereitstellen. Dieses Angebot zogen die Österreicher inzwischen zurück. Stattdessen einigten sich das MV Agusta-Management und die Gewerkschaften auf Kurzarbeit für alle Beschäftigten, mit solidarischem Lohn- und Gehaltsverzicht.
Gewerkschaften wollen das Werk in Italien halten
Laut den Gewerkschaften beginnen in diesen Tagen Verhandlungen über die Rückführung des operativen MV Agusta-Geschäfts von Mattighofen nach Varese, sie sollen bis Ende März 2025 abgeschlossen sein. Im Jahr 2025 soll MV Agusta dann rund 3.000 Motorräder bauen und wieder ganz auf eigenen Beinen stehen. Voraussetzung für eine gesunde Produktion, auch wenn sie noch so klein ist, dürfte aber sein, dass die Lagerbestände abgebaut werden: Noch stehen etwa 2.000 MV Agusta-Modelle auf Halde – im Lager bei KTM. Für die rund 200 MV Agusta-Beschäftigten im Werk in Varese, Ortsteil Schiranna, gilt ab sofort der "Solidaritätsvertrag", eine italienische Version der Kurzarbeit.
Übernimmt Timur Sardarov MV Agusta wieder komplett?
Ob Timur Sardarov MV Agusta wieder komplett übernimmt? Von KTM kam "kein Kommentar" zurück, somit auch kein Dementi. Also bleibt bis auf Weiteres offen, was die Erklärung gegenüber den Gewerkschaften genau bedeutet: Heißt es nur, dass die in die tiefroten Zahlen gerutschte Marke KTM Ballast abwirft? Oder kauft Timur Sardarov, vor dem Einstieg von KTM Alleineigner von MV Agusta, die Marke komplett zurück? Wird sie ihm von KTM überlassen, womöglich zum üblichen Insolvenz-Preis von einem Euro? Sardarov hält im Moment 49,9 Prozent an MV Agusta, KTM mit 50,1 Prozent die knappe Mehrheit.
Investiert Rashid Sardarov noch mehr Millionen?
Theoretisch denkbar ist auch eine Finanzspritze von Sardarovs Vater, dem russischen Oligarchen Rashid Sardarov, dessen Vermögen auf 4 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Mit einem Bruchteil davon könnte die MV Agusta-Produktion wieder ans Laufen kommen. Allerdings hat die Familie Sardarov bereits in der Vergangenheit viel Geld in MV Agusta investiert, nämlich nach eigener Aussage rund 200 Millionen Euro – bislang ohne Aussicht auf Profit. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass die Sardarovs noch mehr Geld in die Firma pumpen.
Produktion soll im März 2025 wieder anlaufen
Die praktische Unterstützung von KTM für MV Agusta bestand bisher unter anderem im gemeinsamen Einkauf von Komponenten und dem gemeinsamen Vertrieb der fertigen Maschinen, weshalb MV Agusta seine eigenen Verträge mit den Zulieferern und mit den Händlern weltweit gekündigt hatte. Diese Verträge nun wieder neu auszuhandeln, würde viel Zeit kosten. Das geplante Wiederanlaufen der Produktion bei MV Agusta Mitte März 2025 wäre so wohl nicht zu machen.
Steigt Qianjiang/QJMotor bei MV Agusta ein?
Umso mehr rückt ein Gerücht in den Fokus, das schon auf der Mailänder Messe EICMA Anfang November 2024 die Runde machte: Der Einstieg eines neuen Investors, möglicherweise aus China. Auf der EICMA wurde QJMotor, Mutterkonzern von Benelli, als heißer Kandidat gehandelt, denn mit dem großen chinesischen Hersteller hatte MV Agusta bereits vor dem KTM-Einstieg über eine Zusammenarbeit verhandelt, sogar mit konkreten Projekten wie der Lucky Explorer 5.5 angefangen.
Auf direkte Nachfrage von MOTORRAD auf der Mailänder Messe hatte Timur Sardarov diese Option aber ausgeschlossen und eine mögliche Verlagerung der Produktion nach China weit von sich gewiesen. Damit dürfte er richtig liegen, denn in Massen produzierte Motorräder aus China mit MV Agusta-Logo hätten wohl kaum kommerziellen Erfolg, zumindest nicht im Luxus-Preissegment, in dem sich die Nobelmarke bewegt. Zumal QJMotor ohnehin bereits eigene Modelle mit kopierter MV-Agusta-Technik vorgestellt hat.