Kontra von Roman Engwer: "Ich bin für Hubraum statt VTEC"
Eines muss ich sofort eingestehen: Wenn es ein nachrüstbares ABS für die alte VFR 750 F gäbe, würde ich es sofort kaufen. Vor einer Schreckbremsung ist niemand gefeit – nicht mal ein Profi. Dabei verzögert meine in die Jahre gekommene RC36 frisch wie am ersten Tag. Mit einer Stahlflexbremsleitung ausgerüstet, besitzt die Bremse sogar einen anständigen Druckpunkt und damit keinen nennenswerten Nachteil gegenüber der neuen VFR 800. Und je genauer ich diese anschaue, desto weniger weiß ich, weshalb ich meine alte VFR gegen die neue eintauschen sollte.
Moderner sieht die neue aus, klar. Aber ansonsten? Ein bockstabiles Fahrwerk besitzen beide, eine Vollverkleidung sowieso, und selbst die Einarmschwinge und der Auspuff stehen wieder im selben Winkel wie früher. Nur: Der Edelstahltopf der 750er klingt viel besser. Dieses heisere V4-Grollen beherrscht die 800er nur noch in Ansätzen. Doch damit nicht genug: Will man bei der RC36 das Hinterrad ausbauen, muss man exakt eine Schraube lösen, den Auspuff via Kugelgelenk eine paar Grad nach hinten ziehen und hat so ausreichend Platz für die Demontage. Bei der RC79 muss man dafür den ganzen Endschalldämpfer abmontieren. Soll das Fortschritt sein?
1990 - Honda VFR 750 F (RC36/1)

Die VFR ab Baujahr 1990 ist eben ein bis ins Detail perfekt verarbeitetes und durchdachtes Motorrad – und in dieser Disziplin bis heute unerreicht. Weiteres Beispiel gefällig? Wer bei der 800er den Sitzbankhöcker abnimmt, guckt ins Leere. Wo bei der alten VFR die Sitzbank sichtbar wird, unter der sich die ausklappbaren Soziusgriffe befinden, sucht bei der neuen vergebens danach. Wer spontan jemanden mitnehmen will, muss bei der 800er Soziussitz und -griffe stets im Rucksack spazieren fahren. Was denken die sich dabei?
Und ganz ehrlich: Beim Lesen des Datenblatts der RC79 kam bei mir Frust auf. Muss dieses VTEC wirklich sein? Warum hat man dem Motor nicht einfach 100 oder gleich 200 Kubik mehr Hubraum spendiert und dafür das teure Ventilsteuerungssystem rausgeworfen? Das Ziel, die Drehmomentstärke eines Zweiventilers mit der Drehfreude eines Vierventilers zu verbinden, hat ja nicht wirklich jemals richtig funktioniert.
Wer in den MOTORRAD-Ausgaben von früher blättert und die Prüfstandskurve der alten mit der der neuen vergleicht, der wird mir recht geben: Die 750er ohne VTEC hat trotz Hubraumnachteils eine fast identische Leistungs- und Drehmomentkurve. Nicht mal der Verbrauch oder das Gesamtgewicht der beiden unterscheiden sich nennenswert. Die neue VFR wiegt sogar ein Kilo mehr. Dabei liegen zwischen beiden Modellen satte 24 Jahre Entwicklungszeit. Und nette Gimmicks wie selbstrückstellende Blinker, Griffheizung und LED-Licht rechtfertigen für mich keine Neuanschaffung. Die überlege ich mir erst dann, wenn Honda eine VFR 1000 baut. Ohne VTEC.
Pro von Rolf Henniges: "24 Jahre Entwicklung sind wirklich spürbar"
Kollege Roman Engwer hat vordergründig recht. Wer wie er schon eine VFR besitzt, wird es nicht für nötig halten, auf die neue umzusatteln. Zumindest so lange nicht, bis er die neue mal Probe gefahren hat. Mal ehrlich: Es wäre doch in der Tat fatal, wenn Honda in den letzten 20 Jahren entwicklungstechnisch stehen geblieben wäre. Die neue VFR sieht nicht nur besser aus, wie ich finde, nein, sie fährt auch stabiler, sicherer und liegt satter auf der Straße als sein viel geliebtes Exemplar von 1992. Es ist wie immer: Man verklärt die Vergangenheit und verwebt schöne Erinnerungen mit subjektiven Fahreindrücken. ABS und Traktionskontrolle sind ein echter Fortschritt, das ist nicht wegzudiskutieren.
2014 - Honda VFR 800 (RC79)

Was die technische Seite hingegen angeht: Dass der Radausbau bei seiner alten Schüssel schneller geht, weil er den Schalldämpfer über ein Gelenk wegbiegen kann – geschenkt! Heutzutage fahren die meisten zum Reifenwechsel sowieso in die Werkstatt, verbinden den Aufenthalt womöglich gleich mit einer Inspektion. Und dass seine 24 Jahre alte VFR mit Stahlflex-Bremsleitung und Doppelkolben-Schwimmsätteln auf ähnlich hohem Niveau verzögert wie die neue mit radial verschraubten Vierkolben-Festsätteln, halte ich für ein Gerücht. Hier wäre eine Vergleichsmessung tatsächlich angebracht. Überhaupt sollte man ihn und sein Alteisen gleich mal zum Duell auffordern. Und ihn auf die neue setzen. Ist sicher ganz blöd, mit anzusehen, wie er seiner eigene Maschine davonfährt …
Doch bleiben wir objektiv. Roman kritisiert das Entweder-Sitzbank-oder-Abdeckung an der neuen VFR. Bei seiner sei beides möglich. Das stimmt. Doch mit ein wenig handwerklichem Geschick lassen sich bestimmt in die Abdeckung der neuen VFR ein paar Aussparungen feilen, damit diese trotz Sitzbank und Sozius-Haltegriffen montiert werden kann.
In puncto VTEC gebe ich ihm dagegen völlig recht. Das technisch aufwändige System ist überflüssig, da es leistungstechnisch wirklich keine Vorteile bringt: Seine alte RC36 produziert fast identische Power.





Trotzdem würde ich die neue VFR wählen. Zum einen, weil sie mir optisch gefällt, zum anderen, weil es durch die verwendete Technologie theoretisch möglich ist, neue Steuersoftware aufzuspielen und so immer up to date zu bleiben. Und natürlich auch, weil ich als Tourenfahrer Features wie serienmäßige Heizgriffe, das perfekt regelnde ABS, die Traktionskontrolle, die selbstrückstellenden Blinker oder auch das gleißend helle Licht mag. Ehrlich: Noch nie sind vor mir so viele Autos freiwillig zur Seite gefahren. Der VFR-LED-Scheinwerfer blendet nicht. Aber er signalisiert, dass etwas Schnelles, Wichtiges von hinten kommt. Damit ist das LED-Licht alles andere als ein Gimmick, Roman, sondern ein Zugewinn an Sicherheit. Ich bleibe dabei: Unabhängig davon, was der Gebrauchtmarkt hergibt – wer einen der letzten Sporttourer auf dem Markt neu kaufen möchte, kommt an der VFR 800 nicht vorbei!