Mit großen Augen stehst du da, weißt nicht, wohin du zuerst schauen sollst. Dein Blick springt von mächtigen Winglets zu einem bestialischen Lufteinlass-Schlund, dann weiter zur futuristischen Vorderradverkleidung. Alles Carbon. Ein feines und doch roh wirkendes Kohlefaserkleid breitet sich vor dir aus, fällt nach hinten passgenau über einen massiv-filigranen Brückenrahmen. Er fasst einen Motor, dessen Potenz im Serienmotorradbau seinesgleichen sucht – der stärkste Serien-Tausender, den der MOTORRAD-Prüfstand je gesehen hat. Wie alles an der neuen BMW M 1000 RR nur zu einem einzigen Zweck geschaffen: Performance und schnelle Rundenzeiten auf dem Track.
Das Homologationsmodell für die Superbike WM macht keine Kompromisse. Nirgends. Dass die M auf öffentlicher Straße maßlos unterfordert ist, dürfte jedem klar sein, der sie erblickt. Mit ihr die Hausstrecke unter die Räder zu nehmen gleicht dem Vorhaben, eine Mondrakete für einen Inlandsflug zu nutzen. Purer Wahnsinn. Aber der Gedanke ist auch verlockend, oder nicht? Komm, steig auf! Lass dir diese Chance jetzt nicht entgehen.
BMW M 1000 RR: ein radikales Superbike
Mit offenen Armen und einem straffen Sitz empfängt dich das Rennsport-Biest aus München. In luftiger Höhe (860 Millimeter) nimmst du Platz, wirst beim Fassen der Lenkerstummel automatisch in eine Angriffsposition gedrückt, die nach Vollgas schreit wie ein kleines Kind nach Schokolade. Du kannst nicht anders als noch vor dem Start des Motors einmal in die Rennhocke zu gehen und dich hinter der üppigen Verkleidung zusammenzufalten. Dabei wirst auch du zum Kind, drehst am Gasgriff und imitierst das Geräusch des Motors. Kurz fühlst du dich auf dem Wanderparkplatz neben der Bundesstraße irgendwo in Deutschland wie Scott Redding am Start eines Superbike-Rennens. Dann erwachst du wieder. "Los, drück endlich das Knöpfchen", flüstert dir die BMW M 1000 RR zu. Du gehorchst.
Als Dank gibt das Bike zum Start einen kurzen, entschlossenen Gasstoß und hebt die Drehzahl eine gute halbe Minute an. Die M faucht furchteinflößend, nicht aber unnötig laut aus dem Akrapovic-Auspuff. Sie ist sich ihrer Fähigkeiten bewusst, hat es nicht nötig, mit Poser-Sound auf sich aufmerksam zu machen. Genauso wenig wie ihre im Vergleich zumindest optisch unscheinbar wirkende Schwester, die BMW S 1000 RR , daneben. Ein ebenfalls überpotentes, aber in vielerlei Hinsicht weniger radikales Superbike. Sie gilt auf der Landstraße als eine der angenehmsten Vertreterinnen ihrer Zunft und zeigt der M 1000 RR heute ihre Hausstrecke.
Leichtgängige Kuppplung bei der BMW M 1000 RR
Ein Ruck fährt beim Einlegen des ersten Gangs durch die Glieder der BMW M 1000 RR und überträgt sich, untermalt vom klassischen "Klonk", in deine. Das kraftfordernde Getriebe ist bereit zum Start. Du lässt die leichtgängige Kupplung einrücken. Los geht’s. Ganz im Gegensatz zu ihrer Optik setzt sich die M geschmeidig und überhaupt nicht furchteinflößend in Bewegung. Ohne Zucken steppt der Quickshifter die Fahrstufen erstmals bei niedrigen Drehzahlen durch, Gasbefehle werden im eingelegten "Road"-Modus präzise in angemessenen Schub umgesetzt. Schon bist du auf Reisegeschwindigkeit angekommen, gleitest von hochfrequenten Vibrationen, begleitet im Sechsten bei Tempo 70 dahin und genießt die Elastizität des Highend-Motors. Dank Shiftcam-Technik fühlt er sich bereits ganz tief unten wohl, braucht keine fünfstelligen Drehzahlen.
BMW M 1000 RR mit 216 PS
Und bekommt sie auch vorerst nicht. Schon im ersten Gang müsste man dafür über 140 km/h fahren und das wäre auf der Landstraße bereits illegal. Die vollen 218 Pferdestärken bleiben also (noch) unerfahren. Richtig gehört: Zweihundertachtzehn. Zwar gibt BMW für die BMW M 1000 RR die gleiche Nennleistung (212 PS) wie für die S 1000 RR an, doch dank der serienmäßigen Akrapovic-Komplettanlage aus Titan und zahlreichen Änderungen im Inneren des 999-Kubik-Reihenvierers presst die M am oberen Ende der Drehzahlleiter noch mal sechs Extrapferdchen aus den Zylindern. Das Wissen um die unfassbare Leistung befriedigt, allerdings eher am Stammtisch als auf der Straße. Schließlich ist schon die BMW S 1000 RR hier maßlos übermotorisiert und verwöhnt mit gleicher Elastizität und tollen Manieren. Alle anderen Verkehrsteilnehmer werden für die beiden BMWs zu Schikanen, die man im Eiltempo hinter sich lässt.
BMW S 1000 RR: umfangreichere Racing-Elektronik
Ordert man bei der BMW S 1000 RR das Dynamik-Paket, gibt’s die für die M serienmäßige renntaugliche Elektronik auch mit dazu. Es stehen drei "Race Pro"-Fahrmodi zur Verfügung, in denen du Ansprechverhalten, Motorbremse, ABS, Traktions- und auch Wheelie-Kontrolle vielfach anpassen kannst. Abseits des Tracks Spielerei, denn schon der "Dyna-mic"-Modus justiert bei S und M alle Helferlein sehr gut für den sportlichen Landstraßenritt und überträgt Gasbefehle schön direkt an die Drosselklappen. Übrigens verfügt die S 1000 RR auf dem Papier sogar über die umfangreichere Racing-Elektronik.
Seit 2023 wacht ein Sensor über den Lenkwinkel und versorgt die ECU mit Informationen für eine Slide-Kontrolle, die auf der Rennstrecke Drifts (in zwei Stufen einstellbar) kontrollieren soll. Gibt’s bei der BMW M 1000 RR nicht. Für die Homologation nicht notwendig, denn in den Superbike-Meisterschaften greifen die Teams ohnehin auf Rennsport-Elektronik-Systeme zurück, die mit der Serienware nur noch wenig zu tun haben. Ebenfalls für die M nicht erhältlich ist das semiaktiv dämpfende Marzocchi-Fahrwerk der BMW S 1000 RR, dessen Dämpfungsverhalten an die Fahrmodi gekoppelt ist. Sein Einstellbereich fällt breit genug aus, sodass S-Fahrer auf der Straße nicht zu sehr malträtiert werden, aber auf der Rennstrecke ausreichend Reserven für ambitionierte Piloten zur Verfügung haben.
Messerscharfe Radien, unbeirrbare Stabilität
Die M dämpft dagegen konventionell und das so radikal straff, wie ihre Optik es erwarten lässt. Komfort? Nö. Satte Straßenlage und unbeirrbare Stabilität. Jup. Zugegeben, auch die BMW S 1000 RR liegt sicher in jeder Schräglage und steht der M auf der Straße in nichts nach. Auf den hypersportlichen Michelin-Power-Cup-2-Reifen gieren die Superbikes nach lang gezogenen Kurven und tiefen Schräglagen. Spürbar mehr auf als im Motorrad sitzend kannst du die BMW M 1000 RR aber noch etwas leichter durch Gewichtsverlagerung steuern. Das glasklare Feedback lässt dich mit dem Asphalt verschmelzen, während du dich ihm mit Knie und Ellbogen in jeder Kurve etwas weiter annäherst.
Die M zieht dich tiefer, zirkelt messerscharf um die Radien und will mehr, als du ihr hier auf der Landstraße bieten kannst. Sie sehnt sich eine Rennstrecke herbei, wo sie das ohnehin weit oben liegende Limit der BMW S 1000 RR nochmals verschiebt. Ganz pragmatisch das Drehzahllimit, das bei der M 1000 RR um 500 Umdrehungen weiter oben liegt als bei der S 1000 RR. Bedeutet, dass im Zweifel auf kurzen Zwischengeraden ein Gangwechsel weniger notwendig ist. Außerdem lassen längere Schwinge und ausgeklügelte Aerodynamik härteres Beschleunigen ohne Wheelie zu.
314 km/h mit der BMW M 1000 RR
Doch weil gerade keine Rennstrecke in Sicht ist, freust du dich, als die Bundesstraße endlich eine Autobahn kreuzt. Endlich hebt die Beschilderung die Geschwindigkeitsbegrenzung auf. Endlich Vollgas. Die Welt um dich herum zerfällt in farbige Fäden, die unwirklich vorbeiwischen. Vor dir nur ein schmaler Tunnel zwischen blauem Himmel und grauem Asphalt. Der Po rutscht weit nach hinten, bis er Halt an der Soziussitzabdeckung findet. Du legst den Kopf auf den Tank. Auf der BMW M 1000 RR herrscht nun Windstille. Die ausladende Verkleidung umschließt deinen Körper und auch die Knie. Du befindest dich im Auge des Tornados. Auch die BMW S 1000 RR spendet dir in Rennhocke guten Windschutz, schirmt dich aber weniger konsequent ab. Außerdem wäre bei ihr "schon" bei 306 km/h Schluss, während du mit der M deren 314 erreichen könntest. Ein weiterer Stammtisch-Boost.
BMW M 1000 RR: nicht nur für die Rennstrecke
Müssen wir die M 1000 RR also auf der Landstraße darauf reduzieren, dass sie dem Viel-zu-viel ihrer, nennen wir sie "moderaten" Schwester, der BMW S 1000 RR, noch einen draufsetzt und ein Mehr-als-viel-zu-viel-Superbike ist? Ja und nein. Gut, betrachtet man sie durch die Brille der Objektivität, dann ja. Doch das machst du nicht, wenn du erst einmal Platz genommen hast. Die BMW M 1000 RR mag für die Rennstrecke gebaut sein. Doch um zu faszinieren, braucht sie sie nicht.
BMW M 1000 RR (2025) | BMW S 1000 RR (2025) | |
Motor | 4, Reihenmotor | 4, Reihenmotor |
Leistung | 160,0 kW / 217,0 PS bei 14.500 U/min | 154,0 kW / 210,0 PS bei 13.750 U/min |
Hubraum | 999 cm³ | 999 cm³ |
Sitzhöhe | 865 mm | 832 mm |
Grundpreis | 36.300 € | 20.890 € |