BMW-Mastermind Chris Gonschor im Interview

BMW-Mastermind Chris Gonschor
„Motorsport ist wichtig für den Serienbau“

Veröffentlicht am 30.01.2025
BMW-Mastermind Chris Gonschor im Interview, Motorsport
Foto: BMW
Die Entwicklung der S 1000 RR beziehungsweise der M 1000 RR läuft jetzt schon seit über einer Dekade. Wie viel Einfluss haben die unterschiedlichen Regelwerke von WSBK, IDM oder MotoAmerica auf die Entwicklung des Serienmotorrades?

Die diversen Reglements der unterschiedlichen Meisterschaften haben einen massiven Einfluss auf die Entwicklung eines Serienmotorrades oder einer Weiterentwicklung. Von wie viel Einfluss man da spricht, kann man leider nicht quantifizieren. In jeder einzelnen Rennserie herrschen andere Anforderungen, sei es vom Regelwerk oder den äußeren Gegebenheiten. Auch wenn auf den ersten Blick jede Rennklasse ähnlich beziehungsweise die eingesetzten Motorräder gleich erscheinen, so kann man beispielsweise Road Racing – also TT oder North West 200 – kaum mit der Langstrecken-Meisterschaft vergleichen. Oder die WSBK: Das Regelwerk in der WM ist sehr strikt, doch durch die Professionalität und das extrem hohe Niveau sind wir da in einer ganz anderen Welt. Um es mal so zu formulieren: Wir versuchen im Sinne der Serienentwicklung so viele Grund-Gene aus den unterschiedlichen Rennklassen in eine Weiterentwicklung einfließen zu lassen, um dementsprechend weiterhin überall konkurrenzfähig zu sein. Das gilt auch für die Serienproduktion.
Auf der anderen Seite kannst du durch die Vielzahl an Regelwerken mit einem Serienmotorrad nicht direkt reagieren und bist in manchen Fällen in einem zu engen "Straßen-Korsett" geschnürt. Wie bei vielen Dingen im Leben herrscht auch hier die Devise eines Kompromisses. Um diesen Kompromiss so klein wie möglich zu halten, haben wir 2021 auch die M 1000 RR als Evolutionsstufe der S 1000 RR auf den Markt gebracht. Mit der S 1000 RR haben wir ja schon einen großen sportlichen Erfolg in nationalen Rennserien feiern können, doch mit der M sollte dann auch endlich der richtige Durchbruch in den WM-Klassen geschehen. Die M ist sozusagen unser "Motorsport-Anforderungsgeber-Motorrad" um erfolgreich Motorsport zu betreiben, primär in den WM-Klassen, aber auch in nationalen Rennserien. Die M soll also genau hier funktionieren, sprich radikal auf Rennsport getrimmt sein.
Dennoch muss man als Hersteller eine realistische Balance zwischen Einsatzzweck und Stückzahl im öffentlichen Verkauf bewahren. Konkret: Es würde jetzt nicht so viel Sinn ergeben, eine M 1000 RR so zu entwickeln, dass das Motorrad alles auf der Isle of Man in Grund und Boden fährt, aber für den normalen Endkunden komplett sinnlos ist. Zwei Hardcore-Road-Racing-Motorräder für Peter Hickman und Davey Todd versus zehntausend Serienbikes, die von öffentlichem Straßenverkehr, über Trackday bis hin zu nationaler Meisterschaft Straßen super funktionieren? Ich glaube, die Antwort brauche ich nicht erklären. Aber, um ganz konkret auf deine Frage zurückzukommen: Ja, der Motorsport ist sehr wichtig für den Serienmotorradbau. Alles, was in der M steckt oder was noch hinzukommen wird, kommt direkt aus dem Rennsport und hat dementsprechend auch seine Daseinsberechtigung.

2023 war für euch fast schon ein Seuchenjahr. Mal abgesehen von Toprak: Was war der entscheidende Kniff in der Saison 2024, dass alle vier BMW-Piloten top Resultate abliefern konnten?

Im Jahr 2023 bleiben wir klar unter unseren Erwartungen. Gut, Michael van der Mark war lange verletzt, dennoch konnten wir in dem Jahr keinen einzigen Podestplatz mit nach Hause nehmen. Es war also definitiv "Room to emprove". Um auf die letzte Saison zu kommen: Im Grunde gab es nicht "den" Kniff, warum wir an Performance zugelegt haben – wenn es so trivial wäre, dann wäre mein Job wohl obsolet (lacht). Als Entwickler gehe ich stets von der Maxime aus, das ganze Motorrad im Kontext von Erfolg oder Misserfolg zu sehen und nicht ein spezifisches Teil oder Baugruppe. Sprich: Was muss ich wo in welchem Detail optimieren, um dem Gesamtpaket sowie dem Zusammenspiel aller Komponenten ein Plus an Performance zu bescheren. Zum Beispiel beim Elektronikpaket, heute ein wichtiger Baustein: Motorbremse, Eingriff der Traktionskontrolle und so weiter haben einen Einfluss auf den Reifenverschleiß, die Bremsstabilität und viele weitere Parameter, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht direkt auf dem Zettel hat. Oder auch das Chassis: Hier kann ich Struktursteifigkeiten gestalten, die mehr oder weniger mechanischen Grip erzeugen, dann aber gleichzeitig auch wieder einen Einfluss auf das Elektronikpaket haben. Und so geht das bis in die letzte Schraube immer weiter – alles hat in irgendeiner Art und Weise einen Einfluss auf das Gesamtpaket.
Ein Entwicklungsfeld, was bekanntermaßen in aller Munde ist: Aerodynamik. In den letzten zehn Jahren hat das Thema große Bedeutung im Motorradbereich gefunden, auch weil in dem Bereich noch viel dazugelernt wird – es gibt noch nicht seit fast einem Jahrhundert Flügel an einem Motorrad wie beispielsweise im Automobil-Sektor. Hier lernt man als Ingenieur mit jeder neuen Flügel-Generation oder mit Fahrer-Feedbacks immer noch viel dazu und erörtert neue Entwicklungs-Anforderungen, die man dann versucht umzusetzen. Wenn wir jetzt retrospektiv auf den größten Unterschied zwischen 2023 und 2024 bei uns sprechen, dann würde ich sagen, dass wir jede Erfahrung mit dem Motorrad – auch die negativen – uns genaustens angeschaut haben und das Fahrzeug so weit verändert haben, dass wir in ein Arbeitsfenster kamen, indem die Hauptkritikpunkte erkannt und attackiert wurden. Als wir das geschafft haben, konnten wir das Puzzle neu sortieren und jedes Teil an seine richtige Stelle setzen. Im Grunde lag der Fortschritt also nicht in einer spezifischen Baugruppe, sondern in einem Methodenwechsel, wie wir die Dinge am Motorrad betrachten und verändern.

Apropos Aerodynamik: Wo denkst du wird sich das Thema in den kommenden Jahren noch hin entwickeln?

Ich glaube die Reise kann überall hingehen. Dennoch würde ich ein bisschen differenzieren: Oftmals hat man beim Thema Aero die MotoGP mit ihren mächtigen Flügeln im Kopf. Doch hier handelt es sich um eine Prototypen-Klasse, die im Grunde wenig mit einer seriennahen Meisterschaft wie der WSBK zu tun hat. Wie ich schon sagte, sollten oder müssen die Basis-Bikes der WSBK auch beim Endkunden funktionieren. Und wenn man sich dann zum Beispiel die Heckflügel bei den MotoGP-Bikes anschaut: Im Normalfall kann – oder sollte – hier ein Sozius platz nehmen können. Ein ausufernder Heckflügel wäre im Grunde also eine Limitierung für den Kunden, selbst wenn es sich um ein Monoposto-Heck handelt. Es gibt schon Dinge im Bereich der Aero, die kann und sollte man vielleicht in Zukunft mit in die Serienproduktion einfließen lassen, aber nicht so arg wie in der MotoGP. Das kann man aber eigentlich über viele Teile sagen: Nicht jedes Bauteil, was wir im Werkssport verwenden, bringt für den öffentlichen Verkauf etwas. Oft kann das auch ein Nachteil sein.
Ohne das böse zu meinen, aber nicht jeder, der sich eine S 1000 RR kauft, bewegt sich in den Sphären wie im Werkssport, um dies oder jenes wirklich ausnutzen zu können. Es heißt ja nicht: Du hast dir jetzt eine S 1000 RR gekauft, nun darfst du damit nur Rennstrecke fahren. Du kannst ja auch damit auf der Landstraße fahren – da brauchst du keine Werks-BMW. Wir in der Entwicklung müssen daher den Spagat schaffen, dass wir uns Dinge überlegen, die dem Endkunden entweder helfen oder aber nicht schaden. Kurzum: Vieles aus den Prototypen-Klasse wird es nie in die Serie schaffen. Dennoch schauen auch wir rüber zu den Prototypen und lassen uns inspirieren, weil alle Dinge, die dort genutzt werden, haben einen physikalischen Einfluss auf die Performance eines Rennmotorrades.

Worauf verlasst ihr euch bei der Entwicklung eher: Daten oder Fahreraussagen?

Als Ingenieur würde ich gerne sagen: Wir verlassen uns zu einhundert Prozent auf die Daten, weil das unsere Guideline ist. Der Grund: Durch die zig Daten, ist jeder Fahrer und jedes Motorrad sehr gläsern. Dadurch kannst du physikalische Gegebenheiten genau erkennen, verstehen und optimieren. Jetzt kommt das Aber: Am Ende sitzt ein Mensch – in unserem Fall die besten Piloten der Welt – auf dem Motorrad. Die Jungs und Mädels stellen dann Fahrsituationen mit den Bikes an, die ein Normalsterblicher wohl nie könnte und eventuell über die strikte Datensammlung hinaus gehen. Jeder Pilot ist unterschiedlich – Körperbau, Fahrstil und so weiter – und beeinflusst dadurch unglaublich viele Parameter.
Selbst ein nach einer theoretischen Datensammlung perfektes Motorrad kann durch den Fahrer nicht mehr richtig funktionieren. Beispielsweise sitzt der Pilot in Kurve fünf drei Zentimeter weiter hinten als angenommen – zack, die Theorie funktioniert nicht mehr. Oder es kommt so: drei Fahrer sagen irgendetwas funktioniert in Kurve fünf nicht, laut Daten müsste aber alles paletti sein – da kann muss dann ja etwas im Busch sein. Daher sind die Aussagen der Fahrer für uns, trotz des gläsernen Grundgerüstes, unglaublich zielführend. Wichtig ist jedoch, dass du das Fahrer-Feedback immer mit den Daten übereinanderlegst, um eine Lösung zu finden. Um es zusammenzufassen: Als Guideline dienen die Daten, aber den Faktor Mensch darfst du nie vergessen.

Ihr nutzt in der WSBK eure eigene Elektronik und vertraut nicht auf einen Zulieferer wie Magneti Marelli, was viele andere Hersteller machen. Siehst du das als Vor – oder Nachteil an?

Ich bin überzeugt, dass wir dadurch einen Vorteil ziehen. Der Grund ist einfach: Wir haben das System selbst in der Hand. Eine andere Elektronik beispielsweise hat aber auch seine Vorteile, besonders dann, wenn alle eine einheitliche Elektronik fahren – einerseits ist es dann für alle gleich, andererseits geht so auch die Weiterentwicklung schneller. Dennoch setze ich auf unsere Elektronik, weil wir dadurch alle Parameter an der Wurzel fassen können und somit viel mehr Spielraum in der Entwicklung haben. Als Ingenieur finde ich das richtig geil, für das Rennteam selbst kann das aber auch zu Kopfschmerzen führen – je weniger die verändern können, desto einfacher sind die Elektroniksysteme in der praktischen Umsetzung. Trotzdem werden wir weiterhin auf unser eigenes System setzen, weil wir von einem weißen Blatt Papier bis zum Produkt am Motorrad alles selbst entscheiden. Das macht die Arbeit komplizierter und wir müssen haargenau arbeiten, um Fehler zu vermeiden – aber der Aufwand ist gerechtfertigt (lacht).

Ab 2025 dürfen in der WSBK nur noch 47 Kilogramm Sprit pro Stunde verbraucht werden – es ist also Spritsparen angesagt. Wird sich das sehr auf die Power auswirken?

Definitiv. Weniger Sprit bedeutet weniger Leistung, eine einfache Gleichung. Es wird ein Effekt auf alle Hersteller haben, aber dadurch, dass die Regel für alle gilt, bin ich da ziemlich schmerzfrei – da muss sich eben jeder ranhalten. Ob ich das nun gut oder schlecht finde, ist daher egal. Klar, die geforderte Spritmenge zu erfüllen wird bei den WSBK-Hochleistungstriebwerken natürlich eine Herausforderung, was für uns Ingenieure natürlich ein bisschen mehr Tüftelarbeit bedeutet. Im Hinblick auf den Grund der Regel, die Sicherheit des Sports zu verbessern – weniger Topspeed etc. – kann ich aber unterstützen. Als Zuschauer wird man das aber eh nicht wirklich mitbekommen, auch die Rundenzeiten werden sich nur marginal ändern und der Sport wird darunter nicht leiden. Also von daher: Passt, das kriegen wir hin (lacht).

Warst du als Ingenieur überrascht von Topraks brutaler Performance auf der Bremse?

Überrascht war ich nach den ersten Daten, die wir sammelten, ehrlich gesagt nicht. Was mich überrascht hat: Sein Bremsen ist visuell unfassbar, aber der eigentliche Bremsdruck ist gar nicht so extrem wie man erwarten würde und daher auch nicht der Grund für diese schiere Stopp-Performance. Es ist eher, wie er es macht, wann und wo er die Bremse zieht oder löst in Kombination mit seiner Bewegung auf dem Motorrad. Das war eigentlich die Überraschung. Was aber besonders außergewöhnlich ist, ist seine Fähigkeit, unfassbar präzise den Bremsdruck zu entlasten – da habe ich schon gestaunt.

Denkst du, Motorsport wird auch in Zukunft – immer strengere Vorschriften etc. – ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung sein?

Natürlich müssen wir unsere Entwicklungsschritte mit einer gewissen Vorhersage auf zukünftige Gegebenheiten stetig anpassen. Wie ich schon sagte, ist nicht alles, was wir im Motorsport entwickeln oder entwickeln wollen im öffentlichen Raum nicht umsetzbar – durch Vorschriften, Gesetzgebung und so weiter. Dennoch ist Motorsport als Entwicklungsplattform immer noch die gültige Norm. Und wenn Motorsport auch weiterhin global valid ist, werden wir auch weiterhin versuchen dort zu entwickeln. Nichtdestotrotz muss man auch über den Tellerrand schauen: Wie entwickelt sich die Welt und Wirtschaft weiter, Stichwort Elektrifizierung, und wie sieht Mobilität der Zukunft aus. Man muss aber hier schon eine Trennung zwischen dem Gesamtportfolio von BMW und den sportlichen Aktivitäten ziehen. Konkret: Wir werden Motorsport so lange betreiben wie es geht und daraus viele Erkenntnisse und Vorteile – erstmal unabhängig von äußeren Einflüssen – ziehen.

Wäre ein Wechsel oder Einstieg in eine andere Weltmeisterschaft demnach in Zukunft vorstellbar?

Vorstellbar ist vieles (lacht). Natürlich schauen wir nach, welchen Benefit diese oder jene Meisterschaft für das Unternehmen hat oder welche Wirkung Meisterschaft XY in der Öffentlichkeit inne hat. Wir schauen mal, was die Zukunft bringt.