Jetzt noch auf den Col de Sommeiller? Ivo Pirazzoli zeigt mit der flachen Hand, wie hoch der Schnee dort oben liegt. Der Mittfünfziger kennt sich aus, tuckert mit seiner betagten Suzuki DR 400 im Sommer oft hinauf. Bis auf 2996 Meter führt die Schotterstraße, ist damit der höchste legal zu befahrende Pass der Alpen. Und wir? Sind zu spät dran. Doch es ging nicht anders. INTERMOT-Standdienst, MOTORRAD-Katalog 2017 – vieles Wichtige musste vor dem Wandertag noch erledigt werden. Eine symptomatische Situation für die vier Leichtenduros. Denn im Rampenlicht stehen meist andere. Stärkere, schnellere, spektakulärere.
Doch die dicke Hose zählt hier nicht. Im Gegenteil. Schmal, leicht und handlich muss eine Wanderenduro sein. Effiziente Schalldämpfer und moderat profilierte Reifen unterstreichen den Respekt vor der stillen Bergwelt, der Flora sowie den Einheimischen. Wie weit wir in Richtung des Sommeiller fahren können? Ivo grinst. Fragt nicht so viel, probiert’s doch. Sagt er nicht, denkt er aber. Wir haben trotzdem verstanden.
Zunächst windet sich der Erdweg breit und glatt geschoben nach oben, bringt das schlanke Quartett gerade mal auf Betriebstemperatur. Den Rhythmus gibt Winfried auf der Honda vor. Sorry, auf der Montesa. Seit dem Jahr 1985 gehört die Traditionsmarke aus Barcelona dem Honda-Konzern. Wurden in der katalanischen Dependance bis vor Kurzem noch Maschinen wie die Honda Varadero oder Deauville produziert, laufen dort mittlerweile nur noch die Trial-Modelle vom Band. Auf deren Technik basiert die einzige Neuerscheinung in der Wanderenduro-Nische, die in diesem Jahr vorgestellte 4Ride. Von ihren Geschwistern unterscheidet sie sich durch Federelemente mit größerer Einbaulänge (Gabel um 38 mm, Federbein um 12 mm), ein breiter gespreiztes Getriebe, den von 1,9 auf 4,4 Liter vergrößerten Tank und eine Sitzbank statt der kargen Kunststoff-Sitzmulde der Basismodelle.
Möglicherweise haben die Honda-Produktplaner einen Blick nach Österreich geworfen. Denn ganz so klein fällt die Population der Hobby-Klettermaxen gar nicht aus. Seit KTM im Jahr 2012 die Freeride 350 präsentierte, hält sich die Freireiterin hierzulande ununterbrochen unter den 100 meistverkauften Motorrädern. Sicherlich, weil nicht nur Wanderer, sondern auch Enduro-Einsteiger vom unkomplizierten Wesen des gezähmten Sport-Singles im schmalen Hybrid-Rahmen angetan sind – und mit rund 7700 Euro auch genauso viel für sie bezahlen wie für die Montesa 4Ride.
Zu dieser pekuniären Demarkationslinie halten die Beta und Kawasaki (je rund 4700 Euro) gehörigen Respektabstand. Wie die Montesa nähert sich die Alp 200 dem Wandergedanken von der trialsportlichen Seite. Immerhin darf sie den luftgekühlten Suzuki-Motor stolz zwischen ihren Rahmenrohren tragen. Schließlich waren es die Italiener, die im Jahr 1990 mit dem ersten Alp-Modell den sanften Endurotourismus ausriefen. Mit einem ideellen Überbau versucht es die KLX 250 erst gar nicht. Die Kawa gilt seit ihrer Präsentation im Jahr 2009 als unkompliziertes Bike – das mit moderater Lautstärke und umgänglichen Dimensionen hier das enduristische Low-Budget-Pendant zur KTM darstellt.
Ein komisches Gefühl, wenn das Ziel nicht das Ziel ist. Wir wissen, irgendwann wird uns der Schnee den Aufstieg zum Pass versperren. Vielleicht hat es deshalb niemand eilig. Oder liegt’s an den Motorrädern? Die Wechselwirkung zwischen Maschine und Mensch ist frappant. Ohne nerviges Geplärr und mit kinderleicht zu beherrschendem Leistungseinsatz schiebt uns das Quartett entspannt nach oben. Natürlich könnte man auch fragen: Wie viel Emotionen sind bei höchstens 23 PS noch im Spiel? Und hätte nichts verstanden. Denn für die Antwort braucht es keinen Leistungsprüfstand, sondern einen wachen Blick für die grandiose Landschaft. Dennoch sorgt auch die Technik für emotionale Unterschiede. Die KTM zeigt: Mehr als 23 PS braucht hier niemand. Ganz sauber setzt der dohc-Single nach den Kehren ein, lässt dem Fahrer die Wahl. Drehzahl oder Drehmoment? Im Zweifel das Letztere. Denn während sein Sportsfreund in der 350 EXC-F bis 11 800/min dreht, riegelt der Leisetreter bei 9900 Touren ab, schiebt im Drehzahlkeller dafür ruckfrei an. Eine gute Wahl. Hochgeschaltet wird deshalb meist bei gefühlten 6000/min. Das reicht.
Wie bei der Montesa. Die Trial-DNA scheint dem Einzylinder eingegossen. Quasi ab Standgas legt der mit einer batterielosen Einspritzung arbeitende Treibsatz los, ermuntert sofort, das eng gestufte Getriebe durchzuschalten. Dass dabei – wie bei Trialern üblich – der linke Fuß von der weit hinten montierten Fußraste genommen werden muss, stört nur am Anfang. Stattdessen begeistert der saubere Lauf des kleinen Motörchens. Die mechanischen Geräusche sind minimal, Schaltung und Kupplung arbeiten präzise. Alles wirkt sehr direkt. Bereits der kleinste Dreh am Gasgriff hebt die Front über die immer wieder querlaufenden Entwässerungsrinnen. Leichter geht’s nimmer. Erst ab der Drehzahlmitte atmet der 18 PS starke ohc-Einzylinder etwas flach, hechelt nach dem nächsthöheren Gang, um einmal mehr mit seinem Drehmoment-Hügel im Drehzahlkeller zu glänzen.
Ganz im Gegensatz dazu verlangt die KLX 250 nach Drehzahlen. Je mehr, desto besser. Intuitiv lässt man den 22 PS starken dohc-Single jubeln, bleibt im Zweifel im niedrigeren Gang. Die Front über die Auswaschungen zu heben, gelingt dennoch nur mit kräftigem Zug am Lenker. Liegt’s an dem mit 138 Kilogramm höchsten Gewicht im Feld oder den großen Sprüngen in den unteren Gängen? Wohl an beidem. Statt prickelndem Bergläufer gibt die Kawa eher den gediegenen Wanderburschen.
So wie die Beta. Doch nicht nur der mit 199 cm³ geringste Hubraum der vier bringt die Italienerin bergauf ins Schwitzen. Als einziger noch von einem Vergaser gefütterter Eintopf fehlt dem luftgekühlten Single die Unkompliziertheit der Einspritzer-Konkurrenz. Ein unrunder Leerlauf hier, ein kurzer Verschlucker beim Gasaufziehen da, die etwas teigige Schaltung dort – im Vergleich zum Montesa-Treibsatz wirkt der 15 PS starke Suzuki-Motor schwächlich und wie aus einer vergangenen Zeit. Zur Orientierung: Die gerade mal 1000 Euro teurere Alp 4.0 mit dem Motor der Suzuki DR 350 schlägt sich in dieser Beziehung um Klassen besser.
Ivo hat’s geahnt. Hinter ein paar schattigen Kehren klopft der Winter an. Die von Geländewagen in den jungen Schnee gedrückten Fahrspuren sind vereist. Jetzt schon umdrehen? Nach einer Auffahrt, die mit jeder dicken Reiseenduro auch zu machen gewesen wäre. Wir erinnern uns an eine schmale Abzweigung. Einen Versuch ist’s wert. Wir schrauben uns wieder die Kehren hinab. Bergab stellen sich die Entwässerungsgräben noch ausgewaschener und kantiger in den Weg als bergauf. Wieder brillieren die KTM und die Montesa. Diesmal mit einer progressiven Federungsabstimmung. Während man das von den WP-Federelementen der Freeride längst kennt, überrascht die außerhalb der Trial-Szene kaum bekannte Fahrwerks-Kombo der Montesa. Sowohl die konventionelle Gabel des italienischen Spezialisten Tech als auch der Monoshock vom spanischen Hersteller R16V sprechen sensibel an und besitzen auch bei harten Kanten noch genügend Reserven. Im Gegensatz zu den Bremsen. Bereits nach ein paar scharf angebremsten Kehren heizt sich die ebenfalls in Spanien produzierte Braktec-Anlage auf und irritiert mit matschigem Druckpunkt. Schuld daran dürfte die mit nur 180 Millimeter Durchmesser kleinste vordere Bremsscheibe des Testfelds sein. Auch die Beta macht ihre Sache in dieser Beziehung nicht besser. Die Bremse enttäuscht mit hoher Betätigungskraft und mäßiger Wirkung. Kenner tauschen die Grimeca-Handpumpe gegen ein Pendant von Nissin (zirka 100 Euro). Doch auch die Federung braucht Nacharbeit. Mit mäßigem Ansprechen und geringen Reserven holpert die Alp am unkomfortabelsten des Quartetts zu Tal. Worüber der Kawa-Pilot nur lächeln kann. Zumindest bei Wandertempo saugen Gabel und Federbein jedes Schlagloch rückstandslos auf.
Nebenbei sehen wir, dass wir fast nichts sehen. Die weichen Trialreifen der Beta und Montesa und die etwas gröber profilierten Semi-Trialpneus der KTM haben beim Aufstieg kaum Spuren hinterlassen. Nur die Abdrücke der Softenduro-Pellen der Kawa (Dunlop D 605 G) lassen sich im feuchten Schotter ablesen.
Jetzt rechts. Ein unscheinbarer Wanderweg führt über einen Bach auf die gegenüberliegende Talseite, steigt sofort steil an. Für GS und Co. wäre hier Endstation. Gut so, jetzt kann sich die Wandertruppe beweisen. Je enger sich die Schleifen winden, desto mehr kommt der Kawasaki-Pilot ins Schwitzen. Der relativ lang übersetzte erste Gang, der zahme Druck in unteren Drehzahlen und die im Vergleich mit 138 Kilogramm moppelige Figur addieren sich zu einem relativ behäbigen Charakter. Nur wer mit dem Finger an der Kupplung die Drehzahl hochhält, rumpelt stetig nach oben.
Leichter tut sich der Beta-Pilot. Zentrale Sitzposition, kurze Übersetzung. Das passt. Lediglich der wachsweiche Antritt im Drehzahlkeller sorgt für Verunsicherung. Das Vorderrad mit einem Gasstoß über Kanten zu heben, gelingt nicht immer. Im Zweifel wählt man eher die Schwung erhaltende weite als die direkte Linie. Wie zum Trost sitzt es sich auf 82 Zentimeter Höhe mindestens 65 Millimeter niedriger als beim restlichen Trio. Dies und der tolle Grip der butterweichen Trialreifen bringen nicht nur der 1,65 Meter großen Kollegin Tanita eine große Portion Sicherheit zurück.
Doch wieder sind es die beiden Upperclass-Wandervögel, welche hier die Latte hochlegen. Problemlos kraxelt die KTM. Draufsetzen, Gas geben, hochfahren. Narrensicher mag der richtige Ausdruck für den mühelosen Aufstieg sein.
Die Montesa braucht ein wenig Schnupperzeit. Doch wer sich an die leichte Front gewöhnt hat, findet im Vergleich zur Freeride zusätzliche Reserven. Wie die Saugnäpfe von Krakenarmen legen sich die Trial-Wettbewerbsreifen (Dunlop D 803 GP) um jede Felskante, saugen die mit 89 Kilogramm federleichte 4Ride nach oben. Völlig entspannt rollt Winni auf ihr an der wartenden Gruppe vorbei, hält an, klappt die Sitzbank nach oben, holt ein Fläschchen aus dem Staufach – und tankt. Denn mit kargen 4,4 Liter Spritvorrat schafft es die Montesa keine 100 Kilometer weit. Wer keinen Nachschub bunkert, wird hier lange schieben müssen. Auch dass die 4Ride als Einzige keinen E-Starter besitzt, will nicht so recht ins Bild der hochpreisigen Wanderurlauberin passen.
Bis zum finalen Aufstieg am „Rifugio Scarfiotti“ sind es noch drei Kilometer. Schon von Weitem sehen wir die zugeschneiten Serpentinen. Wir drehen um, zirkeln hinunter ins Susatal und tuckern die letzten Meter auf der Landstraße zur Pension. Enttäuscht? Im Gegenteil. Denn die Mission ist noch nicht erfüllt. Wir werden wiederkommen. Vielleicht mit der nächsten Generation von Wanderenduros. Dann aber ganz sicher vor der INTERMOT.
Euro 4 und die Folgen
Mit der ab Januar geltenden Euro 4-Norm erhöht sich auch die Zulassungshürde für die vier getesteten Wanderenduros. Die Neuregelung hat gravierende Folgen.
Die gute Nachricht: Sportenduros und Trialer sind von der im Zuge der Euro 4-Norm geltenden ABS-Pflicht ausgenommen. Die schlechte: Bei Geräusch- und Abgasverhalten gibt es für die Sportler keine Ausnahme. Für die Kawasaki KLX 250 und die Beta Alp 200, die beide nicht die gesetzlich festgelegten Kriterien für Trial- oder Sportenduro-Maschinen erfüllen, bedeutet Euro 4 nichts Gutes. Die Kawa wird definitiv für 2017 aus dem Programm genommen. Beta äußert sich zur unsicheren Zukunft der Alp 200 und ihrer 350er-Schwester zur Zeit noch nicht konkret. Die KTM Freeride 350 gilt zwar als Wettbewerbsenduro, besitzt derzeit aber nur die Euro 3-Homologation. Euro 4-homologierte Freeride-Modelle sind in der Planung und sollen in der zweiten Hälfte des Jahres 2017 präsentiert werden. Klarheit herrscht bei Montesa: Alle 2017er-Modelle der 4Ride werden Euro 4-konform ausgeliefert.
MOTORRAD-Testergebnis
Beta Alp 200
Sie ist klein, handlich, schmal und nicht teuer. Viele Gründe sprechen für die Beta. Doch der schwachbrüstige und noch vergaserbefütterte 200er-Motor von Suzuki reduziert den Spaß an dem flinken Wandervogel. Die getrübte Stimmung hellen auch die schwachen Bremsen und die wenig komfortable Federung nicht auf. Man merkt: Die Alp kommt in die Jahre.
KTM Freeride 350
KTM hat mit dem Freeride-Konzept Akzente gesetzt. Ausreichend Leistung, moderater Lärm und geländeschonende Reifen kombinieren Fahrspaß und Umweltbewusstsein. Durch die Sportenduro-Ergonomie weitet die KTM aber auch ihr Zielpublikum aus. Neben Endurowanderern profitieren vor allem Offroad-Einsteiger vom unaufgeregten Charakter der Österreicherin.
Kawasaki KLX 250
Konzeptionell gesehen steht die Kawa etwas im Abseits. Denn die KLX ist eher Alltags- als Wanderenduro. Mit vergleichsweise komfortabler Unterbringung und bewährter Technik fühlt sie sich auf Landstraßen und moderaten Feldwegen am wohlsten. Wenn das Terrain enger oder schwieriger wird, kämpft die Kawa mit ihrem Gewicht und dem im Drehzahlkeller etwas zahmen Motor.
Montesa 4Ride
Mit der 4Ride nähert sich Montesa der Wanderenduro-Szene von der trialsportlichen Seite. Wer sich an die spezielle Ergonomie gewöhnt, wird begeistert sein. Das Fliegengewicht, der bullige Durchzug des Singles und die Trial-Wettbewerbsreifen setzen abseits der Straße kaum Grenzen. Typisch für die Montesa-Konzernmutter Honda: Auch die Verarbeitungsqualität stimmt.