Ein Motocross-Wochenende, und dann noch am Schluss der Saison, das saugt den Teams in der Regel die letzten Reserven aus Kopf und Körper. Vor allem bei den Nachwuchsklassen mit den noch nicht volljährigen Piloten. Da dürfen (oder müssen) sich meist die kompletten Familien ins Zeug legen, um den noch nicht so sturmerprobten Erfolgsdampfer über Wasser zu halten. Das ist bei Familie Hsu nicht anders.
Mama Shu-Fang Hsu, ruhender Pol des Familien-Cross-Betriebs, bürstet mit Ausdauer und Gelassenheit die erdverkrusteten Stiefel des Sohnemanns. Papa Zoltan Gacsal, Allesorganisator und Teamschrauber, ist übermüdet und auch ein wenig gestresst wegen eines Technik-Fipses am Motor der 250er-Viertakt-Suzuki. Brian ist samt Freundin Lena unterwegs in Richtung Rennstrecke. Während eines Hoffnungslaufs seiner Klasse will er sich eine Starttaktik für Sonntag ausdenken. Es ist ein ganz normaler Cross-Samstag auf dem Rennplatz. Gemeldete Unwetterwarnung bei aktuell Sonnenschein inklusive.
Brians spannende Familiengeschichte

„Hallo, tut mir leid, dass ich nicht pünktlich war“, meldet sich Brian Hsu zum Termin bei MOTORRAD. Freundlich, Augenkontakt, fester Händedruck. Ab geht es mit der Vierertruppe und dem Moped in Richtung improvisiertem Fotostudio.
Dass es mit Brian Hsu aber doch nicht so unauffällig normal geht, zeigt sich auf dem Weg durchs Fahrerlager. Überall linsen Leute oder tuscheln, was da wohl abgeht. Nun ja, immerhin gewann er schon 2012 den Junioren-Weltmeistertitel in der 85-Kubik-Klasse. Dieses Jahr schnappte er sich die 125er-Zweitakt-Europameisterschaft, und der Verband nominierte Brian neben den gesetzten Fahrern Max Nagl, Marcus Schiffer und Dennis Ullrich zusammen mit Henry Jacobi als Ersatzfahrer für das Motocross der Nationen Ende September in Lettland. Eine Auszeichnung – und ein Fingerzeig in die Zukunft: An den Start wird Brian dort wohl nicht gehen, aber der DMSB macht allein schon mit dieser Nominierung deutlich, dass man für die Zukunft an das Potenzial von Brian Hsu glaubt.
Während der geduldig Faxen vor der Kamera macht, lässt Papa Zoltan sich im alten Presseraum von Teutschenthal auf einen Stuhl plumpsen und gähnt ausgiebig. Doch bevor jetzt noch irgendjemand einschläft, ist vielleicht der richtige Moment, Brians spannende Familiengeschichte zu erzählen: Zoltan Gacsal, gebürtiger Ungar, kam 1978 mit seinen Eltern nach Deutschland und landete schließlich in Freiburg im Breisgau. Schon damals Teil einer motorsportbegeisterten Familie, begann Zoltan Anfang der 80er-Jahre mit Motocross beim MSC Hügelheim. So weit, so gut. Doch nun beschleunigt sich die Sache reichlich international in Richtung Brian: Auf Hawaii lernt Violinenbauer Zoltan in einer Sprachschule seine aus Taiwan stammende spätere Frau kennen – und lieben. Was nicht ohne Folgen blieb, denn am 29. April 1998 erblickt Sohnemann Brian das Licht der Welt, und zwar in Freiburg. Damals arbeitet Shu-Fang Hsu an einer medizinischen Universität in Taiwan für internationale Angelegenheiten, und so wächst Brian erst in Ungarn, später in Taiwan auf. Verwirrend genug? Es geht munter weiter. Mit drei Jahren beginnt Brian mit BMX, drei Jahre später mit Motocross, lernt Piano und Geige spielen. Heute lebt die Familie im italienischen Cremona. Die Heimatstadt Stradivaris, südlich von Mailand gelegen, ist nicht nur Weltzentrum des Geigenbaus, sondern auch ganz nebenbei mit reichlich Motocrossstrecken gesegnet, direkt oder in der nahen Umgebung. Brian, der neben dem deutschen Pass auch einen taiwanesischen besitzt, lernt wie sein Vater das Handwerk des Geigenbaus.
Der Zweitakter ist wie eine Geige, du kannst Musik mit ihm machen
Schmunzelnd erklärt Brian seine Internationalität: „Ich träume auf Englisch und Italienisch, rechne in Mandarin-Chinesisch, meine Freundin Lena lebt im schweizerischen Bern – und Ungarisch spreche ich auch noch. Jetzt muss ich nur noch an meinem Deutsch arbeiten, aber in der Motocross-Welt sprechen mich schon automatisch alle auf Englisch an. In der Zukunft möchte ich allerdings in die USA gehen und Supercross fahren.“ Zum Thema Supercross und Motorräder gibt der Nachwuchsstar mit langjährigem Suzuki-Vertrag aber auch seine Vorlieben preis: „Ich mag den Zweitakter so sehr. Er ist wie eine Geige, und du kannst Musik mit ihm machen. Der Viertakter ist eher ein brummendes Arbeitsgerät und nicht so virtuos. Ich weiß aber natürlich, dass aktuell nur Viertakter zählen, also muss ich mich darauf einstellen.“
Vater Zoltan gähnt schon wieder, und macht damit einmal mehr deutlich, wie viel die Familien heutzutage in den Sport investieren. Die extreme Reiserei zehrt, die eigenen Bedürfnisse stehen hintan. Ob es Brian manchmal zu viel wird? Der wundert sich eher über die Frage, und so antwortet der Vater: „Als wir in Taiwan lebten, das war extrem. Da sind die Kinder jeden Tag bis abends spät in der Schule und bekommen dann noch drei Stunden Hausaufgaben. Dort soll jeder das Maximale leisten und sein Bestes geben. Das halte ich für zu viel.“
Für 2015 steht Brians Programm schon fest: ADAC MX Youngster Cup und die Europameisterschaft der 250er-Viertakter. „Wir schauen immer nur von Rennen zu Rennen und wollen uns gar nicht so über die ganz großen Ziele Gedanken machen. Aber klar hängt vieles davon ab, welchen Schritt der Junior nächstes Jahr fahrerisch macht. Irgendwann gilt es, den richtigen Einstieg in die große MX-Welt zu finden. Aber zusätzlich müssen wir natürlich auch abwägen, was wir mit Brians Ausbildung machen“, so ein nachdenklicher Zoltan.
Die Rennen in Teutschenthal waren für Brian Hsu übrigens nicht der große Lichtblick. Elfter Platz und Ausfall, abhaken und nach vorne schauen. Den Youngster Cup gewann der Däne Thomas Kjer Olsen vor dem Holländer Calvin Vlaanderen. Der Deutsche Henry Jacobi musste seine bis vor Teutschenthal noch berechtigten Titelhoffnungen enttäuscht begraben. Es bleibt also auch weiterhin ein munteres „Multikulti“ bei den ADAC MX Masters.