Es ist ein Abtauchen mit allen Sinnen in die jüngere Geschichte des Motorradfahrens, speziell des Rennsports. Im brandneuen DAR, dem „Dainese Archivio“, beleuchtet eine intelligent gemachte Multimediashow die Facetten dieser Historie. Schon im „Dschungel der Motorradkombis“ überkommt den Besucher Ehrfurcht: In diesem Raum hängen über 1.000 Rennkombis berühmter Fahrer, jede von mindestens einem Sturz bei hoher Geschwindigkeit gezeichnet, abgeschabt, zerschlissen, manche fast zerfetzt. Die Deutschen Ralf Waldmann und Toni Mang trugen sie, die Italiener Valentino Rossi und Giacomo Agostini, die Amerikaner Kevin Schwantz und Freddie Spencer, um nur ein paar Namen zu nennen. Jeder ihrer Stürze brachte Dainese einen Schritt weiter bei der Entwicklung hoch spezialisierter Schutzkleidung. „Unser Fokus lag und liegt auf dem Rennsport“, sagt Vittorio Cafaggi von Dainese, Mastermind hinter dem DAR. „Nirgends gibt es so viele Stürze in so kurzer Zeit wie dort, und nur aus ihnen lässt sich lernen, wie man den Schutz verbessern kann.“ Der perfekte Ort also für eine Firma, die es ernst meint mit der Schutzkleidung.
Knieschleifer für Kenny Roberts entwickelt
Ernst meinte es Firmengründer Lino Dainese von Anfang an, wie die Ausstellung im DAR illustriert. Auf Europatour mit seiner Vespa bestaunte er 1968 in London die englischen Motorradfahrer auf ihren schweren Maschinen, viele in schwarzes Leder
gehüllt – in Italien damals eine völlig unbekannte Erscheinung. Wieder zu Hause im Veneto, schneiderte sich der damals 20-Jährige eine Cross-Hose aus Leder, heute im DAR einschließlich des Schnittmusters zu sehen. Ihre Funktionalität überzeugte ihn, und 1972 gründete er seine heute weltbekannte Firma. Schon bald begann die Zusammenarbeit mit internationalen Rennfahrern. Der Deutsche Dieter Braun, damals 250er-Weltmeister, ging 1974 als Erster in einer Dainese-Kombi an den Start, bald gefolgt vom legendären Giacomo Agostini. Dainese etablierte sich schnell im Rennzirkus, zumal die Firma nicht nur auf Sicherheit, sondern auch auf Design setzte und mit ihren bunten Farben auffiel.
Lino Dainese versuchte, Anregungen und Wünsche der Fahrer umzusetzen, wie die Ausstellung mit zahlreichen Beispielen zeigt. Für Agostini verwendete er stärkeres Leder und machte die Kombi mit elastischen Einsätzen bequemer. Der Engländer Barry Sheene ließ sich Schaumstoff auf den Rücken packen, um die Wirbelsäule besser zu schützen; daraus entstand 1979 der erste Rückenprotektor. Als der schräglagenbegabte Kenny Roberts mit seinem rasanten Fahrstil die Motorrad-WM enterte, entwickelte ihm Dainese flugs die ersten Knieschleifer. Mit Toni Mang ging man dazu über, die Kombi perfekt der Sitzposition des Fahrers anzupassen.
Gürteltier als Ideengeber
Das DAR schildert diese spannenden Entwicklungen, die kurze Zeit später jeweils auch in die Serienproduktion für den allgemeinen Markt eingingen. Ebenso wie der aerodynamische Rückenhöcker und die Airbag-Kombi, an der Dainese über zehn Jahre forschte, ehe sie zur Serienreife gelangte. Sie verbessert den Schutz der Rennfahrer so stark, dass die FIM sie seit 2018 in allen Klassen der Motorrad-WM verbindlich vorschreibt.
Nicht nur der Rennsport ist Ideengeber: „Wir nehmen viele Anleihen bei Natur und Geschichte, bei Ritterrüstungen ebenso wie beim Gürteltier“, erklärt Vittorio Cafaggi die zahlreichen Bezüge im DAR. Besonders stolz ist die Firma darauf, dass ihre Entwicklungen heute nicht nur Motorradfahrern dienen, sondern auch im Reitsport, beim Downhill und bei Skirennen viele Athleten schützen. Die Ideen gehen den Entwicklern nicht aus, wie die Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology und der NASA für Raumanzüge zeigt, ebenfalls Thema im DAR. „Genau deswegen nennen wir uns Archiv und nicht Museum“, sagt Cafaggi. „Denn unsere Geschichte ist noch längst nicht zu Ende.“
Interview mit Lino Dainese
Dainese
Lino Dainese (70) gründete die Firma Dainese 1972, nachdem er in England die ersten Motorradfahrer in schweren Lederkombis gesehen hatte.
2014 verkaufte der Unternehmer 80 Prozent seiner Firma an einen Investmentfonds aus Bahrain, um ihre Zukunft mit internationalem Wachstum zu sichern; den Erlös spendete er. Er selbst gründete mit seinem engsten Mitarbeiter Vittorio Cafaggi das Forschungslabor D-Air lab, das eng mit Dainese zusammenarbeitet.
Lino, woran forschen Sie gerade?
Wie immer an der Luft (lacht), daran, wie man sie einsetzen kann, um Menschen zu schützen. Das Thema fasziniert mich seit fast 25 Jahren. Luft wiegt nichts, sie braucht keinen Platz und kann doch viel bewirken, sie kann zu einem regelrechten Schutzpanzer werden. Das beweist allein der Airbag, ob nun für Auto- oder für Motorradfahrer.
An welchen Projekten sind Sie konkret dran?
Aktuell an einer Airbag-Weste für den Stromanbieter Enel hier in Italien. Wir haben sie für Ingenieure und Techniker entwickelt, die in großer Höhe arbeiten, an Stromleitungen oder auf Ölbohrinseln. Die sind natürlich gesichert, doch bei einem Sturz kommt es durch das Eigengewicht oder durch einen Aufprall oft zu Knochenbrüchen im Brust- oder Schulterbereich. Das soll unsere Weste verhindern, sie geht in Kürze in den Praxiseinsatz.
Mit Motorrädern hat das ja nichts mehr zu tun ...
Wir forschen und entwickeln schon lange auch außerhalb der Branche. Ich bin stolz darauf, dass wir Motorradfahrer mit unseren Entwicklungen anderen sozusagen etwas vormachen. Nehmen Sie nur unseren Airbag, den auch Skirennfahrer nutzen und der bei einigen üblen Stürzen bereits Schlimmeres verhindert hat. Wobei meine erste Idee für den Airbag mit Skirennen zu tun hatte.
Wie das?
Ausgangspunkt war der tragische Tod von Ulrike Maier, der österreichischen Skirennläuferin, die 1994 auf der Kandahar stürzte und sich das Genick brach. Das hat mich stark beschäftigt, wir haben in der Firma intensiv über einen möglichen Schutz für den Hals nachgedacht, denn der ist ein neuralgischer Punkt. Der Mensch ist nun mal zum Gehen gemacht, nicht dafür, sich mit 150 km/h Abhänge hinunterzustürzen oder mit 300 km/h über die Rennstrecke zu donnern.
Wie kamen Sie auf die Idee, Luft zu nutzen?
Das war bei einem Tauchgang im gleichen Jahr. Ich habe das Jacket aufgeblasen und hatte plötzlich ein Gefühl von Sicherheit. Da dachte ich, wenn eine aufblasbare Weste die Brust schützt, könnte das Prinzip auch beim Hals funktionieren. Wobei der Airbag für Motorradfahrer wirklich kompliziert ist, wir haben lange geforscht. Beim MIT in Boston haben sie mich aber mehr oder weniger ausgelacht, als ich davon erzählt habe. Allerdings war das ganz am Anfang, da hatte ich noch gehofft, dass es vielleicht eine Chemikalie gäbe, die bei Todesangst im Gehirn entsteht und über die man den Airbag steuern könnte. Das habe ich auch gesagt, und das war wohl selbst für das MIT allzu futuristisch (lacht).
Luft ist und bleibt Ihr Thema. Was für Anwendungen können Sie sich da noch vorstellen?
Jede Menge, wir stehen erst am Anfang. Wir können mit Airbags in smarter Kleidung alte Menschen vor Knochenbrüchen schützen oder Kinder im Auto in einer Art Luftkapsel sichern. Gerade forschen wir intensiv an der Möglichkeit, querschnittsgelähmten Menschen zumindest einen Teil ihrer Bewegungsfähigkeit zurückzugeben, und zwar ebenfalls mithilfe von Luft. Aber darüber darf ich eigentlich gar nicht sprechen, fragen Sie mich nicht nach Einzelheiten! Das Feld ist jedenfalls weit und überaus spannend.