An dieser Stelle laden wir ein zu einem Gedankenexperiment, um in Ruhe einen Vorgang zu betrachten, bei dem sich alles in irrwitzig schneller Bewegung befindet. Nicht nur Fahrer und Motorrad, die im Augenblick des Innehaltens 252 km/h schnell sind. Auch die Kurbelwelle, die rund 15.000 Umdrehungen pro Minute absolviert. 15.036/min im Honda-Motor, wenn wir den Reifenschlupf im 4. Gang vernachlässigen.
Wegen ihrer kürzeren Übersetzung ist die Panigale bei gleicher Geschwindigkeit bereits im fünften Gang bei 14.921 Umdrehungen pro Minute. Rechnen wir also für beide mit 15.000/min, also 250 Umdrehungen in jeder Sekunde, und lassen auf uns wirken, was bei dieser Drehzahl in und mit den Motorrädern passiert.
Das mechanische Herz schlägt: 500 Funken pro Sekunde
Fangen wir oben an. In einer Sekunde brennen die Zündkerzen der jeweils vier Zylinder ein Feuerwerk von 500 Funken ab. Diese entzünden das Benzin-Luft-Gemisch, das sich bei der Verbrennung ausdehnt und damit den Druck auf die Kolben erzeugt, der sie in Auf- und Abwärtsbewegung versetzt und über Pleuel und Hubzapfen in die Rotation der Kurbelwelle umgesetzt wird.
Der Kampf um Millisekunden: Der Ansaugvorgang
Doch woher kommt das Benzin-Luft-Gemisch? Es wird vom Ram-Air-Effekt bei schneller Fahrt ein wenig geschoben und unter Ausnutzung aller möglichen Resonanzeffekte und Druckunterschiede kräftig angesaugt, die ein Mehrzylindermotor phasenverschoben hervorbringt. Das geht weit hinaus über den Unterdruck, den ein abwärtsgleitender Kolben erzeugt. Laut Angabe der Ducati-Motortechniker strömt das Gemisch an der engsten Stelle des Ansaugwegs kurz vor den Ventilen mit mehr als 150 m/s oder 540 km/h.

Maximale angesaugte Luftmenge: 250 l/s. Maximale Geschwindigkeit der Luft: 150 m/s ~ 540 km/h.
Präzise Ventilsteuerung in 0,003 Sekunden
Der Grund für diese Eile wird klar, wenn man die Steuerzeiten kennt. Die Einlassventile der Ducati sind 247 Grad geöffnet, bei der Honda 248 Grad. Bei 15.000/min entspricht dies einer Zeitspanne von 0,0027444 Sekunden bei der Ducati, 0,0027555 bei der Honda. Tatsächlich dürften beide Motoren auf etwa 30 Hundertstel Sekunden kommen, da die Steuerzeiten auf einen Millimeter Ventilhub bezogen werden. Am nominellen Öffnungszeitpunkt ist das Ventil schon einen Millimeter offen, am Schließzeitpunkt noch einen Millimeter.
Ventilbeschleunigung: Das geheime Ballett der Mechanik
Das schafft man mit Nockenprofilen, die eben nicht scharf, sondern möglichst stumpf sind. Das Profil solcher Nocken ist quasi einem Rechteck angenähert – zack, auf, lange offen, zack, wieder zu. Die Ventile erfahren Beschleunigungen von 11.317 m/s² bei der Honda, der ventilfederlose Ducati-V4 kommt dank Desmodromik sogar auf 14.339 m/s². Das ermöglicht einen Einlass-Ventilhub von 13,5 Millimetern bei der Ducati und 10,5 Millimetern bei der Honda. Übrigens: Würde man ein Auto 1 Sekunde mit der Ventilbeschleunigung der Ducati bewegen, wäre es gut 51.000 km/h schnell.
Höllische Temperaturen im Brennraum
Dieser mechanische Stress wird verstärkt durch höllische Temperaturen im Brennraum. Nach der Zündung des Gemisches steigt dessen Temperatur kurzzeitig auf rund 3.000 Grad Celsius an; die Auslassventile glühen im Dauerinferno vorbeiströmender heißer Gase mit 800 Grad. Nur wenn sie geschlossen sind, können sie kurzzeitig auch über die Sitzringe statt nur über die Führungen Hitze an den Zylinderkopf abgeben und werden von vergleichsweise kühlem Frischgas umströmt. Wobei die Temperatur im Zylinder allein durch den Verdichtungsprozess wieder ansteigt.

Die Einlassventile werden zwischen 400 Grad heiß, die im Auslass bis zu 800 Grad.
Kolben unter Extrembelastung: 137 km/h in fünf Zentimetern
Die Kolben der Honda mit ihren 48,5 Millimetern Hub legen bei 15.000/min in einer Sekunde 24,25 Meter zurück, die der Ducati wegen des um einen Zehntelmillimeter kürzeren Hubs 24,2 Meter – wiederum im Mittel. Im Maximum sind es knapp über 38 m/s. Anders ausgedrückt: Auf diesen nicht ganz fünf Zentimetern Hub werden die Kolben bis 137 km/h beschleunigt und wieder bis zum Stillstand abgebremst.
Weitaus heftiger als ein Frontalcrash gegen eine Mauer. Bei maximalen Kolbenbeschleunigungen von 59.711 (Ducati) oder 59.834 (Honda) m/s² entsprechen die Verzögerungskräfte der Ducati-Kolben einer Gewichtskraft von 1.461 Kilogramm, die der Honda-Kolben von 1.486 Kilogramm. Obwohl deren Hub nur einen Zehntelmillimeter länger ist und sie mit Bolzen und Ringen gerade einmal 3,6 Gramm schwerer sind als diejenigen der Panigale, die nur einen Kompressionsring und einen Ölabstreifer tragen.
Schon ein "normales" Abbremsen oder Beschleunigen des Kolbens verbiegt den Kolbenbolzen um zwei Hundertstel Millimeter, ein Wert, der sich unter dem höchsten Verbrennungsdruck nach dem Zündungs-OT verdoppelt – die von Ducati zur Verfügung gestellten Diagramme zeigen den dramatischen Druckanstieg.

Kräfte, die auf das obere Pleuelauge wirken: Bei 0 und 720 Grad gut 21.000 N, nach der Zündung bei 360 gut 42.000 N, was ~ 4,2 Tonnen Gewicht entspricht.
So viel Druck herrscht im Brennraum
Die Beschleunigungen der Kolben – ob mit positivem oder negativem Vorzeichen – und die Kräfte, die auf sie wirken, sind aus Drehzahl, Kolbenhub und Kolbengewicht errechnete Werte. Sie berücksichtigen jedoch nicht die im Arbeitstakt entstehenden Drücke, sondern simulieren Verhältnisse, die herrschen würden, wenn ein Motor von einem externen Antrieb, etwa einem Elektromotor, mit 15.000/min geschleppt würde. Das nebenstehende Diagramm zeigt den Anstieg des Arbeitsdrucks nach der Zündung des Benzin-Luft-Gemischs etwa 40 Grad vor dem OT. Kurz danach ist es weitgehend durchgebrannt. Die Spitzenkräfte auf Kolben, Pleuel und Kurbelwelle sind entsprechend hoch.

Druck zum Zündzeitpunkt: circa 7 bar. Maximaler Druck: über 90 Bar beim Ausdehnen des gezündeten Gemischs.
Leistungskurven und Übersetzungsdilemma
Nach dem Hochschalten in den vierten Gang liegt die Drehzahl des Honda-Motors bei 13.000/min und das Drehmoment bei 111 Nm. Die Ducati hingegen steht vor einem Dilemma: Den fünften Gang bis 16.000/min ausdrehen oder in den sechsten Gang schalten und das höhere Drehmoment bei 13.600/min nutzen?
Strömungsgeschwindigkeiten und Ventilquerschnitt
Die CAD-Simulation zeigt, wo die Strömungsgeschwindigkeiten im Verlauf der Ventilöffnung am höchsten sind – in den rot eingefärbten Bereichen. Hier wird der "Windschutz" durch den Ventilschaft deutlich, der die Strömung behindert.

So kommt das Gemisch am Ventil vorbei. Rot: sehr schnell, blau: langsamer durch die Verwirbelung des sich öffnenden Ventils, grün: sehr langsam durch den „Windschatten“ des Ventilschafts.
Die Hitzebelastung der Kolben
Aluminium schmilzt bei 660 Grad, und obwohl für die Kolbenherstellung optimierte Legierungen einen höheren Schmelzpunkt haben, bleibt die Hitzebelastung durch das bis zu 3.000 Grad heiße Gas eine Herausforderung.

Maximale Temperatur am Kolbenboden: 250 bis 270 Grad.
Kräfte und Verformung unter Last
Die beschriebenen Beschleunigungen und Verzögerungen biegen Kolbenbolzen und Hubzapfen der Kurbelwelle. Doch diese Verformungen sind notwendig, um zu verhindern, dass der Kolben mit den Ventilen kollidiert. Sogar bei der präzisesten Motorkonstruktion bleiben kleine Spielräume für Verformungen.

Am oberen Totpunkt verformt sich der Hubzapfen der Kurbelwelle aus massivem Stahl um bis zu 0,03 Millimeter.