Fahrbericht und Video
Honda VFR 1200 F

V4, ein Bekenntnis, ein Mythos. Honda hat dieses Bauprinzip perfektioniert: Mit der von Grund auf neuen VFR 1200 F als technologischem Schmuckkästchen fürs kommende Jahrzehnt.

Honda VFR 1200 F
Foto: Dias

Es ist Ende November, doch die Luft duftet nach Frühling, nach wildem Thymian und Oregano hier im Süden Spaniens. Feuerrote Kaktusfeigen huschen vorbei, dornige Agavenblätter ducken sich auf ockergelbem Erdboden. Tief durchatmen, die Szenerie genießen. Und dazu den Pulsschlag des mächtigen Vierzylinder-Herzens unter sich spüren, in jeder Faser des Körpers. Honda hat eingeladen, der VFR 1200 F auf europäischen Landstraßen ausführlich auf den Zahn zu fühlen, nach ersten, kurzen Eindrücken auf der Rennstrecke in Japan (MOTORRAD 24/2009).

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Honda VFR 1200 F
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Dieses gutturale V4-Knurren, unnachahmlich, doch nie aufdringlich, einzig, nicht artig. Die Laufkultur des komplett neuen Antriebsaggregats passt ideal zu dem gediegenen Motorrad, wie ein Mandelplätzchen zum Café con leche: smooth läuft er, der V4, geschmeidig und seidenweich. Roxy Music auf Rädern.

Vibrationen? Ja, aber der angenehmen Art: nie störend, doch stets das Gefühl vermittelnd, dass da ein großes Herz unter der Verkleidung schlägt. Und was für eins: Nach vielen Experimenten zwischen 60 und 90 Grad Zylinderwinkel wählten die Honda-Ingenieure schließlich unkonventionelle 76 Grad. Dies ergibt einen kompakten Motor, höher und kürzer als der 90-Grad-V4 der weiterhin erhältlichen VFR 800.

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Die 1200er vermittelt extrem viel Vertrauen, ist durch nichts und niemanden aus der Ruhe zu bringen.

Und es erlaubt eine schmale Wespentaille im Übergangsbereich vom recht kleinen 18,5-Liter-Stahltank zur bequemen, einteiligen Sitzbank. Dadurch bringen auch kleinere Piloten sicher beide Füße im Stand auf den Boden. So wie der Autor mit 1,71 Metern. Doch momentan geht es nicht ums Stehen und Rangieren. Sondern darum, den 267 Kilogramm die Sporen zu geben.

Gas! Die 1200er hat wie die legendären VFR-Ahnen NR 750 und RC30 eine Big-Bang-Zündfolge. 1237 cm3 misst der Kurzhuber - große 81er-Kolben sausen nur 60 Millimeter zwischen den Totpunkten auf und ab. Andere Hersteller würden ein solches Motorrad 1250er nennen. Allerdings kommt einem der Schub beim Aufreißen der elektronisch gesteuerten Drosselklappen unter 3000 Touren für diese Hubraumklasse eher verhalten vor. Es ist die Ouvertüre vor dem Fortissimo. Ab 4000/min erwacht der V4, von nun an sollen stets mehr als 100 Newtonmeter anliegen. 115 km/h vermeldet dann der Digitaltacho im sechsten Gang des tadellosen Getriebes.

Drehmoment-Wogen

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Weite, geschwungene Bögen und enge, nicht einsehbare Kurven verlaufen wild ineinander verknäuelt.

Zwischen 5500 und 6000 fackelt der Vierzylinder plötzlich ein grandioses Feuerwerk ab. Es herrscht Aufruhr im Maschinenraum! Jetzt öffnet, je nach Last und eingelegtem Gang, eine Klappe im fetten, verchromten Edelstahl-Schalldämpfer. Sie gibt die obere Austrittsmündung und die Bühne für echtes Herzrasen frei. Nun ändert sich die Tonlage, ein tiefes Grollen, das die Nackenhaare aufstellt. Dazu fluten wahre Drehmoment-Wogen die Kardanwelle - ein Novum in der VFR-Historie -, die in einer typischen, mächtigen Einarmschwinge rotiert. Zwar haften die Dunlop Roadsmart, was das Zeug hält. Doch in herzhafter Schräglage kann der rasante Leistungszuwachs durchaus Adrenalinschübe bescheren. Eine Traktionskontrolle hat Honda leider noch nicht fertig entwickelt. Die 173 PS starke VFR soll Ex-Supersportpiloten für sich gewinnen, die genug haben von gebückter Lebenshaltung und gar nicht mehr wissen, wohin mit traumhaften Leistungsgewichten.

Da empfiehlt sich die VFR nun als bequemere, gleichwohl rasante Alternative: Honda positioniert die VFR zu ihrer 25. Saison als tourentaugliches Sportbike, also ein "Tourensportler". Richtung Ronda ist genau das richtige Terrain für ein waschechtes Sportmotorrad. Eine Traumstraße schlängelt sich die Berge rauf: kurvengespickter, ebener Bilderbuch-Asphalt. Hier hält man die Honda stets bei guter Laune, also mittlerer Drehzahl: Im dritten oder maximal vierten Gang, wie es die Digitalanzeige im Cockpit visualisiert.

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Schmale Taille: Die zwei hinteren Zylinder liegen zwischen den vorderen.

Weite, geschwungene Bögen und enge, nicht einsehbare Kurven verlaufen wild ineinander verknäuelt. Links, rechts und zurück, der Horizont kippt dramatisch von einer Diagonale in die Gegenrichtung. Wunderbar leichtfüßig-locker wedelt und rollt die VFR durch die Kurven. Zumindest für diese Gewichtsklasse. Handlich, aber nicht überhandlich. Mit ein wenig Einsatz an den leider nicht verstellbaren Lenkerhälften ist jederzeit eine Korrektur der Linienwahl drin. Lastwechselreaktionen fallen nur in den unteren Gängen, bei niedrigem Tempo lästig aus. Die 1200er vermittelt extrem viel Vertrauen, ist durch nichts und niemanden aus der Ruhe zu bringen. Weder durch Spurrillen noch durch die patrouillierende Guardia Civil.

Neutral bleibt die dick besohlte 1200er auf Kurs. Sie trägt einen 190er-Reifen mit modernem 55er-Querschnitt. 43er-Upside-down-Gabel und "Pro-Link"-Zentralfederbein bieten tolle Rückmeldung. Sie bügeln selbst zerfurchte Asphaltabschnitte glatt, ohne den Fahrer in Watte zu packen. Schon die Standard-Einstellung ist super abgestimmt, knackig-straff und doch feinfühlig. Wer will, kann vorn wie hinten Zugstufendämpfung und Federvorspannung anpassen. Letzteres am Federbein per praktischem Handrad. Der schwarze Aluminium-Rahmen bildet das Rückgrat für ein Chassis feinster Qualität. Der Kompromiss aus Stabilität und Komfort stimmt komplett. Die VFR läuft einfach satt-souverän.

Bremsanlage

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Geheimrezept: Gut dosierbare und kräftige ABS-Anlage und Kardanwelle an Einarmschwinge.

Plötzlich trampelt eine Schafherde über die Straße. Bremsen! Die radial verschraubten Sechskolben-Sättel lassen sich prima dosieren, verzögern heftig. Dabei betätigt der Griff zum Handhebel "bloß" zehn der zwölf Bremskolben; eins der drei linken Pärchen aktiviert der Tritt aufs Pedal - im Verbund mit den beiden Kolben am Schwimmsattel hinten. Das serienmäßige ABS regelt sportiv, sprich spät. Diese Bremsen beseelt, was das ganze Motorrad auszeichnet: der Geist der Perfektion. Hier rollt ein neues Honda-Flaggschiff vom Stapel. Entspannt-sportlich fällt dessen Sitzposition aus. Der Abstand zum Lenker ist nicht klein, der Zug an der Wirbelsäule gerade richtig.

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Schlanker Hintern: Das Heck wirkt luftig uns asymetrisch.

Schade also, dass bereits nach 210 Kilometern flotten Landstraßenritts die Reserveleuchte blinkt. Was auf manchem Supersportler als willkommene Pause dient, ist hier eher lästige Unterbrechung. Gut schirmt die breite, hinterströmte Scheibe den Oberkörper ab; der Kopf liegt völlig turbulenzfrei in laminarer Strömung. Zumindest bis 200 km/h brauchen sich kleinere Fahrer kaum abzuducken; mehr wollen wir auf spanischen Autobahnen, während der Rückfahrt, nicht ausprobieren. Für den prinzipiell nicht tempolimitierten deutschen Markt setzt die VFR ein Zeichen: Sie riegelt bei 250 Sachen ab.

Ende des Wettrüstens. Stattdessen ist die VFR ab Sommer 2010 gegen Aufpreis auch mit automatisch schaltendem Doppelkupplungsgetriebe erhältlich. Bei der Version mit konventioneller Kupplung, sie wird am 30. Januar bei den deutschen Honda-Händlern stehen, fällt die nötige Kraft am Handhebel auf die Dauer recht groß aus; nach der heutigen 375-Kilometer-Runde merkt man den linken Unterarm. Der seltsam unter dem Hupenknopf platzierte Blinkerschalter braucht Gewöhnung. Statt zu blinken, hupt man beim Abbiegen versehentlich. Freude am Fahren vermittelt die VFR enorm. Man will gar nicht mehr absteigen. Dazu passen dreijährige Garantie (auch aufs Zubehör) und lang gestreckte 12000er-Wartungsintervalle. Es wird also eng für die Gebückten.

Technische Daten

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Edel, edler, am edelsten - neben Rot gibt es auch Silber und Weiß.

Motor
Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-76-Grad-V-Motor, je eine obenliegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Gabelkipphebel und Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 570 W, Batterie 12 V/12 Ah, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung (Anti-Hopping), Sechsganggetriebe, Kardan, Sekundärübersetzung 2,699.

Bohrung x Hub       
81,0 x 60,0 mm
Hubraum1237 cm3
Verdichtungsverhältnis         
12:1
Nennleistung127 kW (173 PS) bei 10000/min
Max. Drehmoment129 Nm bei 8750/min

Fahrwerk
Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluminium, Up-side-down-Gabel, 0 43 mm, verstellbare Feder-
basis und Zugstufendämpfung, Einarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis und Zugstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, 0 320 mm, Sechskolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, 0 276 mm, Doppelkolben-Schwimmsattel, Teilintegral-Bremssystem mit ABS.

Alu-Gussräder      
3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen120/70 ZR 17; 190/55 ZR 17

Maße+Gewichte

Radstand 1545 mm, Lenkkopfwinkel 64,5 Grad, Nachlauf 101 mm, Federweg v/h 120/130 mm, Sitzhöhe 815 mm, Gewicht vollgetankt 267 kg, Tankinhalt 18,5 Liter.

Garantie   
drei Jahre
Farben       Rot, Silber, Weiss
Preis ohne Nebenkosten    14900 Eur

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023