Test BMW R 1100 S
Sportereignis

Die Krönung der Vierventil-Boxerreihe wird zum freudigen Ereignis: Mit der R 1100 S liefert BMW ein spätes, dafür um so klareres Bekenntnis zum sportlichen Motorrad.

Sport-Tourer, Reise-Enduro, Roadster, Tourer, Cruiser - seit 1993 ist bei BMW unter dem Kennzeichen »R« eine vielköpfige Motorradfamilie entstanden, deren Mitglieder bei aller charakterlicher Verschiedenheit eines gemeinsam haben: den Vierventil-Einspritz-Boxer.
Nun folgt - als vorläufiger Schluß- und Höhepunkt der Familienplanung - die R 1100 S. Eine veritable Sportmaschine, dieses jüngste Münchner Kindl, und unverkennbar der ganze Stolz seiner Erzeuger. Nicht ohne Grund: Mit erstarktem Motor, neuem Getriebe, konzeptionell gründlich überarbeitem Fahrwerk und aufsehenerregendem Design ist der Sport-Boxer weit mehr geworden als die oberflächliche Interpretation eines hinlänglich bekannten Themas. Keine Frage, die »S« ist ein origineller und durch und durch eigenständiger Neuzugang in Sportmotorrad-Kreisen.
Stichwort Motor. Dank durchsatzfreudigerer Atemwege und dezenter flankierender Maßnahmen an Mechanik und Elektronik hat sich der Quertreiber zu nominell 98 PS bei 7500/min aufgerappelt. Keine Übertreibung, wie der Gang zum Prüfstand belegt: Mit stolzen 102 PS im Meßprotokoll kann der Testkandidat den Ort der Wahrheit erhobenen Hauptes verlassen.
Der Zuwachs an Schaffenskraft prägt den Charakter des Sport-Boxers mehr als erwartet. Im Vergleich zu seinen schwächeren Artgenossen wirkt er im unteren und mittleren Drehzahlbereich weniger antrittsstark. Ab zirka 6000/min beißt er dafür um so heftiger zu, um allerdings schon bei 7500/min von ausgeprägter Lustlosigkeit befallen zu werden. Leider geht der Drang nach Höherem mit einem Verlust an Laufkultur einher: Heftige Vibrationen, die vor allem in den Fußrasten zu spüren sind, dämpfen die Lust an hohen Dauerdrehzahlen. Auch der Spaß an niedertourigem Dahinbrummen ist nicht ungetrübt: Bei minimalen Drosselklappenöffnungen stellt sich ausgeprägtes Konstantfahrruckeln ein.
Fahren mit ständig wechselnden Drehzahlen ist das Rezept, das die Nebenwirkungen des S-Triebwerks verblassen läßt. Da trifft es sich gut, daß mit dem angedockten Sechsganggetriebe reichlich Variationsmöglichkeiten geboten sind. Die engen Stufensprünge der Schaltbox kommen nicht nur der Dynamik der Maschine zugute, sie haben auch einen positiven Zusatzeffekt: Dank kleinerer Drehzahlsprünge von Gang zu Gang werden die Auswirkungen des prinzipbedingten Rückdrehmoments spürbar gemildert.
Gemildert, aber keineswegs beseitigt sind die kulturellen Defizite der Boxer-Kraftübertragung. Vornehmlich bei niedertouriger Fahrweise kracht es beim Rückwärtssortieren der unteren Gänge heftig im Räderwerk, und im Stop-and-go-Betrieb - Kupplung rein, Kupplung raus - macht der Antriebstrang abenteuerliche Knackgeräusche.
Stichwort Fahrwerk. Ein neues Rahmenkonzept enthebt das Getriebegehäuse seiner Aufgabe, die Hinterradschwinge aufzunehmen und schränkt gleichzeitig die tragende Funktion des Triebwerksblocks ein. Ein Ziel dieser Übung - störende Motorvibrationen abzukoppeln - darf getrost als gescheitert betrachtet werden: siehe oben.
Von Erfolg gekrönt ist hingegen das Vorhaben, ein spurstabiles Chassis zu kreieren, das auch bei widrigen Fahrbahnbedingungen kaum aus der Ruhe zu bringen ist. Lenkerschlagen beim Beschleunigen auf Holperstrecken - ein hochaktuelles Thema in Supersport-Kreisen - kennt der Sport-Boxer nur vom Hörensagen. Auch Unreinheiten im Geradeauslauf bei Topspeed sind ihm gänzlich fremd. Häßliche Brückenkanten auf schnellen Autobahnabschnitten, angesichts derer man sich auf manch anderer Maschinen in Krisenstimmung versetzt sieht, lassen die R 1100 S ungerührt.
Gehobener Federungskomfort - sonst ein BMW-Markenzeichen - darf dabei jedoch nicht erwartet werden. Das Kennzeichen »S« steht, was die Fahrweksabstimmung angeht, eindeutig für »straff«. Besonders die Telelever-Gabel nervt mit übertreibener Härte. Ihr Ansprechverhalten ist enttäuschend schlecht, selbst kleinste Stöße werden kaum gefiltert zum Lenker durchgereicht. Im Gegenzug zeigt das Fahrwerk kaum Reaktionen auf das Wechselspiel mit dem Gasgriff. So erntet die R 1100 S bei zügiger Fahrt auf kurviger Landstraße sehr gute Haltungsnoten: Da pumpt, schaukelt und wackelt nichts, da wird Spurensuche mit vorbildlicher Linientreue belohnt.
Kein Lohn ohne Mühe freilich: Ein Muster an Handlichkeit ist der Sport-Boxer nicht geworden. Es bedarf schon einigen Nachdrucks an den - glücklicherweise mit ausreichender Hebelwirkung gesegneten - Lenkerhälften, um die Maschine durch Wechselkurven zu treiben. Das trotz aller gegenteiliger Bemühungen doch recht stattliche Gewicht und die hohe Schwerpunktlage fordern in Sachen Handling ihren Tribut.
Nicht mehr als eine Fingerübung ist hingegen gefragt, soll die Geschwindigkeit der Maschine mit der Kraft ihrer Doppelscheibenbremse zusammengestaucht werden. Gute Wirkung, gute Dosierbarkeit - und doch irgendwie gewöhnungsbedürftig: Der durch die Geometrie der Telelever-Radführung realisierte Bremsnickausgleich täuscht immer wieder über die tatsächlich realisierten Verzögerungsraten hinweg - mit der Konsequenz, daß das an der Testmaschine installierte, aufpreispflichtige ABS-System weit häufiger als erwartet Hilfestellung leisten muß.
Stichwort Benutzeroberfläche. Die optischen Signale der R 1100 S auf »Sport« zu stellen ist der Mannschaft um Design-Chef David Robb fraglos gelungen. Ein filigranes Motorrädchen mit Rennmaschinen-Appeal ist sie gleichwohl nicht geworden - was angesichts der technischen Rahmenbedingungen an ein Wunder gegrenzt hätte. Macht aber nichts, im Gegenteil: Die stattlichen Proportionen der »S«, ihre Verkleidung mit überraschend hohem Schutzfaktor und schließlich der Verzicht auf eine übertrieben sportliche Ausgestaltung des Arbeitsplatzes sorgen für spontanes und - wie sich herausstellt - andauerndes Wohlbefinden. Da klemmt nichts, da drückt nichts, da schmerzen keine Handgelenke, da erstarrt kein Genick. Sport ist Mord? Keine Rede davon.
Selbst der Anspruch auf Soziustauglichkeit hält einer Überprüfung stand: Die unter einer (aufpreispflichtigen) Abdeckung versteckte hintere Sitzgelegenheit bietet in Verbindung mit den vernünftig plazierten Fußrasten erstaunlich gute Voraussetzungen, um Reiseziele weit jenseits der nächsten Eisdiele in guter körperlicher Verfassung zu erreichen.
Aus Fahrersicht erfreut eine puristisches Instrumentarium ohne Firlefanz: Tacho, Drehzahlmesser, Zeituhr und die einschlägigen Kontrolleuchten. Die von der K 1200 RS entliehenen Schaltereinheiten sind nach einer Phase der Eingewöhnung narrensicher zu bedienen, und die an langen Auslegern befestigten Spiegel gestatten eine weitgehend ungestörte Rücksichtnahme. Voraussicht bei Nacht bietet ein asymmetrisch aufgebauter Doppelscheinwerfer, dessen Abblendlicht bei der Fahrbahnausleuchtung einen Unterschied zwischen Rechts- und Linkskurven macht. Das ist zumindest gewöhnungsbedürftig.
Wie die gesamte Maschine. Sie macht keinen Hehl aus ihren - meist konzeptionsbedingten - Unzulänglichkeiten, um dann peu à peu, aber um so nachhaltiger ihre Stärken auszuspielen. Ein Sport-Ereignis in schöner BMW-Tradition.

Unsere Highlights

Fazit

Mit der R 1100 S ist BMW ein eindrucksvoller Beitrag zum Thema Sportmotorrad geglückt: kräfiger Motor, stabiles Fahrwerk, gute Bremse und hoher Sitzkomfort - Voraussetzungen für viel Freude am Fahren. Dazu gesellt sich ein Erscheinungsbild, das seriöse Ausstrahlung, Dynamik und Individualität signalisiert. Everybodys Darling wird die »S« gleichwohl nicht werden. Dazu sind das mangelnde Kulturangebot von Motor, Getriebe und Federung sowie die konzeptionell bedingten Eigenarten des Boxer-Layouts zu gewöhnungsbedürftig.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023