Vergleichstest Big Bikes
Das große Ganze

Integral: ein Ganzes ausmachend. So steht es im Duden. Ebnet die jüngste BMW-Bremsengeneration mit Bremskraftverstärker der K 1200 RS den Weg zum umfassenden Erfolg in der großen Klasse?

Das große Ganze
Foto: fact

Wenn man ein Paradebeispiel dafür sucht, wie sich die Zeiten ändern, wird man nirgendwo schneller fündig als bei der aktuellen Big-Bike-Palette. Es reicht ein Blick auf den Tacho, um festzustellen, dass die Vorzeichen gewechselt haben. Vor Jahresfrist noch ein Muss, sind Skalierungen jenseits der 300er-Marke nun Vergangenheit. Selbst die Protagonistin der Szene, die Suzuki GSX 1300 R, stapelt neuerdings tief und markiert jene Schallmauer, die sich Importeure und Hersteller in Sachen Topspeed ein für alle Mal gesetzt haben, nur noch mit einem belanglosen Strich.
Wer das für reines Understatement hält, liegt nicht ganz richtig. Denn in der Tat ist im Jahr eins nach dem Rennen um das Blaue Band bei echten 295 km/h Schluss. Ganz falsch liegt er aber auch nicht. Denn im sechsten Gang unterbindet ein Begrenzer bei 10500/min das Streben nach weiterem Geschwindigkeitszuwachs so abrupt wie rigoros, auch wenn da durchaus Leistung für mehr wäre.
Sei´s drum. Bei BMW sagt man das leichten Herzens. Weil sich die Münchner an diesem Wettlauf nie beteiligten und nun ihre Zeit gekommen sehen. Mit der renovierten K 1200 RS setzen die Bayern Schwerpunkte, die denen der Vergangenheit entgegenstehen. Nicht mehr das Generieren von Kraft und Geschwindigkeit ist das Thema, sondern das möglichst effektive Vernichten. BMW Integral ABS in teilintegraler Ausführung heißt das neue Mittel hierfür. Wobei in diesem Lindwurm der Bremskraftverstärker – und damit eine echte Weltpremiere im Motorradbau – noch gar nicht berücksichtigt ist.
Sei´s drum. Sagt sich auch Honda. Dual Combined Braking System: Das mit dem Integral ist bei der CBR 1100 XX ein alter Hut. Wenn auch ohne Bremskraftverstärker. Ein Zug am Handbremshebel – und es bremst vorne und hinten. Anders wie bei dieser BMW – dafür gibt’s das vollintegrale System, zum Beispiel an der RT – bremst die Honda beim Tritt auf den Fußbremshebel schon seit Jahren auch vorne mit. Neu hingegen ist das Cockpit, bei dem im Zuge der freiwilligen Selbstbeschränkung die früher bis 320 reichende Skalierung des analogen Tachos gleich einer digitalen Geschwindigkeitsanzeige wich. Und das, weil man gerade dabei war, komplett umgeräumt wurde. Drehzahlmesser zentral und analog, links daneben ein digitales Panel mit zwei Tripzählern, Wassertemperatur, Tank- und Zeituhr. Zudem legte Honda auch in stilistischer Hinsicht Hand an, verpasste der Doppel-X einen mattschwarzen Rahmen, der gut mit der Lackierung in Silbermetallic und der getönten Windschutzscheibe harmoniert.
Sei´s drum. Sagt auch Kawasaki. Weil man jetzt, wo es nicht mehr um Fabelwerte jenseit der 300 km/h geht, gleich zwei Eisen im Feuer hat. Da sollte sich auch die ZZ-R 1100 mit ihrer ganzen Routine wacker schlagen, zumal gute Bremsen bei den Grünen Tradition haben. Ganz ohne ABS und CBS. Und genug Dampf besitzt die Überfliegerin von vorgestern nach wie vor. Aktualisiert wurde nur an jener einzigen Stelle: Die magische 300 taucht nicht mehr auf dem Tacho auf.
Dafür tauchen die Piloten unter. Tief geduckt, hinter den Verkleidungen kauernd sind – political correctness hin oder her – die Topspeedwerte nach wie vor ein Thema. 295 km/h für die Hayabusa, 278 km/h schafft die Honda, 274 km/h die Kawa. Die BMW lässt sich mit 247 km/h gar von manchen vierrädrigen Produkten aus eigenem Hause verblasen, kann dem eiligen Trio vorneweg nicht folgen. Eine Tatsache, die auf der K 1200 RS keineswegs Neid, sondern vielmehr Gelassenheit auslöst, weil das bayrische Flaggschiff nach der jüngsten Überarbeitung das Motto »Reisen statt Rasen« noch stärker akzentuiert. So wanderten Fahrer- und Beifahrerfußrasten um 30 beziehungsweise 20 Millimeter nach unten und der bisher optional angebotene hohe Komfortlenker gehört nun zur Serienausstattung. Außerdem wuchs das nach wie vor zweistufig verstellbare Windschild in Breite und Höhe, während das Verkleidungsoberteil schmaler baut und mit nierenförmiger Abdeckung des Ölkühlers sowie neu positionierten Blinkern insgesamt deutlich gefälliger wirkt.
Allen Änderungen zum Trotz wir der Kopf kleiner wie groß gewachsener Piloten immer noch von Turbulenzen gebeutelt. Das ist ärgerlich, weil sie gerade in der touristischen Variante – Sitzbank und Scheibe hoch – auftreten. Und noch ärgerlicher, weil es nur Zentimeter sind, die zwischen himmlischer Ruhe und Orkan liegen. Da hilft lediglich, den Kopf einzuziehen, was aber zur aufrechten Position des Oberkörpers nicht recht passen will. Oder Scheibe runter, wodurch sich der Winddruck auf den Oberkörper spürbar erhöht.
Und die BMW damit ungefähr auf das Niveau von Honda und Kawasaki befördert. Auch diese beiden ermöglichen mit ihren hohen Verkleidungen längere Hochgeschwindigkeitsetappen, eine gewisse Demutshaltung vorausgesetzt, problemlos. Auf der Hayabusa hingegen hilft selbst der tiefste Bückling vor der versammelten Kraft und Herrlichkeit auf Dauer nicht weiter. Einmal kurz Vollgas, sehen was geht, okay. Dann aber findet sich die Suzuki wieder in der Meute ein, um angesichts der miesen Witterung hierzulande als D-Zug Richtung Süden zu dampfen.
Dabei fühlt man sich – das nötige Kleingeld vorausgesetzt – auf der BMW durchaus wie im 1. Klasse-Abteil. Weil sie zweistufige Heizgriffe (340 Mark) ebenso anbietet wie neuerdings einen Tempomat (575 Mark). Und dass sich die K 1200 RS bei flottem Tempo – mit Koffern deutlich eher – zu sehr bestimmten, aber harmlosen Rührbewegungen verleiten lässt, nimmt man gerne in Kauf, weil sie selbst auf übelsten Pisten nicht einmal ansatzweise mit dem Lenker zuckt. Eine Qualität, die man der Kawasaki nicht ohne weiteres nachsagen kann. Mit zunehmendem Tempo wird die Vorderhand leichter, Störimpulse wie Fahrbahnkannten und Brückenabsätze regen die Lenkerenden schon mal zu Eigenmächtigkeiten an.
Derartiges Ungemach droht – wenn überhaupt – auf der Honda und erst recht auf der Suzuki nur bei extremen Beschleunigungs- oder Topspeedorgien. Doch die sind – wir erinnern uns – politisch in hohem Maße unkorrekt. Und die Ausfahrt ins südfranzösische Landstraßenglück liegt – dank des hohen Reiseschnitts – bereits direkt vor der Nase.
Die Provence bietet mit ihren frühlingshaften Temperaturen, gewundenen Asphaltbändern und der traumhaften Kulisse eine Erweiterung des Horizonts, der deutlich über den tunnelartigen Autobahnblick hinausgeht. So reift schon nach wenigen Metern die Erkenntis: Obwohl die Big Bikes mit imageträchtigen PS- und Höchstgeschwindigkeitswerten protzen, ist sture Geradeausbolzerei höchstens ein Aspekt zweirädrigen Lustgewinns. Die Bestimmung dieser Boliden liegt mindestens im selben Maße auf der Landstraße, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung.
Am stärksten wird dieser ganzheitliche Ansatz von der Honda CBR 1100 XX verkörpert. Weil sich auf diesem Motorrad kleine wie große und dicke wie dünne Fahrer gleichermaßen wohlfühlen. Und weil die Doppel-X neben ergonomischen Qualitäten konstruktive Eigenschaften ins Feld führt, die man angesichts der nicht eben feingliedrigen Statur nicht erwartet. Die ausgeprägte Handlichkeit zum Beispiel, die im Verbund mit der besten Lenkpräzision und dem mächtigen Schub des Motors Kurvenradien jeder Art mit chirugischer Präzision seziert. Einlenken, rumzirkeln, herausbeschleunigen, fertig. Da werden saubere Schnitte zur gelungenen Operation. Auch, weil der weiche Leistungseinsatz und die komfortablen, aber dennoch ausreichend straff abgestimmten Federelemente routiniert assistieren und das nach wie vor vorhandene Spiel im Antriebstrang geschickt kaschieren.
Auf derart eingespielte Helfer kann sich der ZZ-R-Pilot trotz jahrelanger Zusammenarbeit nicht verlassen. Zwar lenkt die Kawasaki fast so leicht ein wie die Honda, will dann jedoch viel gezielter auf Kurs gehalten werden. Vor allem, wenn unerwartete Komplikationen in Form von Fahrbahnunebenheiten auftreten, verlieren Gabel und Federbein schnell die Übersicht, wippen und stuckern aufgeregt im Takt. Am Kurvenausgang verschluckt sich dann die 40er-Vergaserbatterie mitunter, wenn der Gashahn zu abrupt aufgezogen wird. Und selbst, wenn dieses kleine Malheur durch sanften Gaseinsatz vermieden wird, ist die Leistungsentfaltung des 1100ers nicht ohne Fehl und Tadel.
Ein Blick auf die Prüfstandskurven offenbart nämlich, das der Kawa-Vierling just im unteren Drehzahlbereich zwischen 2000 und 4000/min, der bei den Kraftprotzen auf der Landstraße gern genutzt wird, eine ausgeprägte Delle aufweist. Mehr noch: auch im weiteren Verlauf liegt die Kurve bis zirka 8000/min unter allen anderen. Eine Tatsache, die der ZZ-R in diesem potenten Feld im Verbund mit dem recht hohen Gewicht von 278 Kilogramm vollgetankt eine etwas lethargische Anmutung verleiht.
Dieses Schicksal bleibt der BMW trotz ihres noch höheren Gewichts von satten 295 Kilogramm erspart. Weil den Münchnern pure Spitzenleistung schon seit jeher Weißwurst war, konnten sie sich in aller Ruhe der Drehmomentpflege widmen. Mit dem Ergebnis, dass die K 1200 RS selbst die Honda bis 7000/min eindost und so ihre Leibesfülle in weiten Bereichen erfolgreich überspielt. Die Einschränkung gilt für ganz enge Ecken und ganz schnelle Bögen. In Kehren oder im Stadtverkehr irritiert auch die jüngste K-1200-Generation mit ausgeprägter Kippeligkeit und bei hohem Tempo erfordern Kurskorrekturen viel Kraft.
Damit ist es beim Verzögern ein für alle Mal vorbei. Evo-Bremse (320- statt 305-Millimeter-Scheiben), Bremskraftverstärker: Die Zeiten, als bei BMW richtig zugelangt werden musste, gehören der Vergangenheit an. Im Gegenteil: Schon sanfter Druck auf den Handbremshebel reicht, um Vorder- und Hinterrad vehement zu verzögern. Den Spaß an der Sache erhöht das Bewusstsein, dass bei überbordende Euphorie notfalls das ABS eingreift. Derart ausgerüstet gewinnt das Umwandeln von Bewegungsenergie in Wärme auf der K 1200 RS eine neue, dynamische Qualität. Das gilt erst recht bei Regen und zweifelhaften Gripverhältnissen, die üblicherweise selbst erfahrenen Piloten Probleme bereiten. Einziger Kritikpunkt: Der Druckaufbau des Verstärkers erfolgt erst nach einem gewissen Leerweg, dann aber äußerst abrupt. Mit dem Ergebnis, dass die plötzlich einsetzende Verzögerung bei langsamem Tempo – zum Beispiel vor Spitzkehren – durchaus die angepeilte Linie verderben kann.
Ein Schicksal, das dem Kawasaki-Piloten erspart bleibt, weil dessen Bremsanlage trotz des in dieser Hinsicht guten Rufs der Marke in Ehren ergraut ist und im Vergleich zu den BMW-Stoppern bestenfalls noch in der Traditionsmannschaft spielt. Bremsen kann die Honda viel, die Suzuki nur etwas besser, was bei der Honda in Anbetracht ihres ausgeglichenen Wesen wie selbstverständlich, bei der Suzuki nur mit Erstaunen hingenommen wird. Denn abgesehen von den etwas stumpfen Stoppern ist die mächtige Hayabusa auch im engen Kurvengeschlängel überaus gut sortiert. Beispiel Motor: Der 1300er liegt quasi vom ersten Zündfunken bis zur Nenndrehzahl von 9800/min derart haushoch über den Konkurrentinnen, dass in Kombination mit dem geringsten Gewicht der Begriff »Souveränität« selbst in diesem Feld nochmals neu definiert wird. Kurz gesagt: Der sechste Gang passt eigentlich immer. Dazu gesellen sich bei der sportiv ausgelegten Hayabusa Federelemente, die zwar nicht den Komfort der BMW oder Honda vermitteln, dafür aber solo als auch zu zweit über die größten Reserven verfügen. Trotzdem stürmt die Suzuki nicht so selbstverständlich durchs Kurvengeschlängel der Provence wie die Honda. Aufgrund ihres etwas stureren Handlings muß der Lenkimpuls deutlich kräftiger ausfallen und der breite 190er Hinterradreifen reagiert auf Fahrbahnunebenheiten weitaus empfindlicher als der 180er auf der Honda oder gar dem 170er auf der BMW, deren Fahrwerk dennoch ein permanentes Eigenleben entwickelt. Das sie nicht deren Komfort bietet, liegt an der gebeugteren Sitzposition und an dem Raubauz von Motor, der es an Laufkultur weder mit dem seidenweich laufenden Honda-Triebwerk noch mit den Gummilagerungen der BMW aufnehmen kann.
Doch das sieht man ihm nach, angesichts seines Potenzials. Genau wie der BMW ihre früh aufsetzenden Fußrasten angesichts ihrer Auslegung. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sich diese mit wenigen Handgriffen nach oben versetzen lassen und die Federbasis des Federbeins einfach per Handrad einstellbar ist. Auch bei der Kawasaki scheint angesichts ihres Alters Nachsicht angebracht, die sich aber beim Blick auf die Preisliste in die Erkenntnis verkehrt, dass Bescheidenheit nicht unbedingt eine Zier der späten Jahre sein muss. Einzig der Honda braucht man, abgesehen von der zu geringen Zuladung, kaum etwas nachsehen. Sie hat alles, kann alles – und macht daher immer und überall Spaß. Und das ist – im Großen und Ganzen – einen verdienten Sieg nach Punkten wert. Auch wenn die BMW nun – im ganz Speziellen – über die wirkungsvollsten Bremsen verfügt.

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1. Platz - Honda CBR 1100 XX

Das große Ganze: Das ist die Summe aller Qualitäten. Dazu gehört eine zeitgemäße Abgasreinigung mit G-Kat ebenso wie ein exaktes Getriebe, helles Licht, guter Sitzkomfort, ein handliches Fahrwerk sowie ein kräftiger, kultivierter Motor. Das alles kann die Honda bieten – und gute Bremsen obendrein. Sogar mit Dual CBS, was bei BMW teilintegral hieße. Aber das würde zum ganzheitlichen Auftritt der Doppel-X dann ebenso wenig passen wie Anglizismen zu bayrischem Brauchtum.

2. Platz - Suzuki GSX 1300 R

Nun ist es also vorbei mit der 300-km/h-Herrlichkeit, die der Hayabusa eine Popularität ohne gleichen bescherte. Das Schöne ist – der Jagdfalke nimmt es mit Würde. Weil er zwar die 300 auf dem Tacho verloren hat, sonst aber nichts an Qualitäten einbüßte. Straff, stabil, bärenstark wie eh und je zieht er seine Bahn, hat nicht die gepflegten Umgangsformen einer Doppel-X, dafür rauen Charme. Trotzdem könnte er an Tourer-Qualitäten zulegen. Jetzt, wo der Run auf Rekorde vorbei ist.

3. Platz - BMW K 1200 RS

Lag es am »teilintegral«, dass es nicht zum vollen Erfolg langt? Nein, sicher nicht, denn das neue Bremssystem ist bis auf die schlechte Dosierbarkeit bei santen Bremsungen ein Gewinn. Genauso wie die optionalen Ausstattungsfeatures. Geht es um lange Reisen, liegt die K 1200 RS ganz weit vorne. Geht es aber um den Fahrspaß auf der Landstraße, ist noch Raum für Verbesserungen. Leichter, stabiler, weniger Lastwechselreaktionen: Das brächte die BMW dem großen Ganzen näher.

4. Platz - Kawasaki ZZ-R 1100

In Ehren ergraut: Von älteren Herrschaften spricht man gemeinhin mit Ehrfurcht, würdigt die Verdienste der Vergangenheit. Aber nicht, wenn sie den Jüngeren noch einmal zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Im direkten Vergleich mit BMW, Honda und Suzuki hat die ZZ-R nichts zu bestellen. Klar, sie ist kräftig, aber sonst? Fahrwerk und Bremsen sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit, die übrigen Qualitäten bestenfalls Durchschnitt. Windschutz und Reichweite dagegen gehen in Ordnung.

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Erscheinungsdatum 26.05.2023