Autokäufer kennen einen einzigen Punkt in der Ausstattungsliste, der keinen Aufpreis kostet: »Entfall des Modellschriftzuges«. Und es gibt zwei ganz unterschiedliche Gruppen, die hier gern
ihr Kreuzchen machen: Käufer großer und starker Vierräder verzichten des Under-
statements wegen auf die Modellbezeichnung. Und wer das Einstiegsmodell wählt, will ebenfalls nicht unbedingt auf Anhieb identifizierbar sein. Käufer der Multistrada 620 werden gar nicht erst vor die Wahl gestellt: Die kleinere Version des italienischen Funbikes kommt ohne jegliche Schriftzüge, während die große Schwester sich klar als 1000 DS zu erkennen gibt.
Kenner der Materie lassen sich indes nicht täuschen: Auch ohne Aufkleber ist die 620er schon von weitem an dem fehlenden Ölkühler und der konventionellen Zweiarmschwinge zu identifizieren, die aus Kostengründen der Einarmschwinge vorgezogen wurde. Ob auch am Lack gespart werden musste? Jedenfalls sieht die neue Farbe, das Rotorange des Testexemplars, so aus, als hätte beim Mischen des typischen Ducati-Farbtons der Rotstift eine Rolle gespielt. Weitere Unterschiede wie die nicht einstellbare Gabel und der
fehlende Bordcomputer im Cockpit fallen erst beim zweitem Blick auf.
Ansonsten fühlt man sich auf den
ersten Metern mit der kleinen Multistrada gleich an die große Schwester erinnert. Obwohl die Federwege im Vergleich um
20 Millimeter kürzer ausfallen und sich dadurch die Sitzhöhe um ebendiese Differenz verringert, ist die Fahrerhaltung der auf der 1000er ausgesprochen ähnlich. Man sitzt aufrecht und entspannt, dabei klar vorderradorientiert auf der nach vorn schmaler zulaufenden Bank; der Abstand zum Lenker ist relativ gering. Während man sich an die spezielle Sitzposition schnell gewöhnt, macht einem die zu weiche Polsterung
vor allem auf langen Autobahnetappen zu schaffen, wenn man sich wenig auf dem Motorrad bewegt. Positiv dagegen ist die im Vergleich zur Multistrada 1000 um fünf Zentimeter höhere Verkleidungsscheibe, die für einen spürbar besseren Windschutz als bei der 1000er sorgt.
Für gelegentliche Ausflüge auf die linke Spur ist die 620er mit nominell 63 PS
aus dem luftgekühlten Zweiventil-Triebwerk ausreichend gerüstet. Das reicht laut Hersteller immerhin für eine Spitzengeschwindigkeit von 185 km/h, wobei der Tacho gar optimistische 200 anzeigt. Es würde wohl noch ein bisschen schneller gehen, wäre der sechste Gang nicht reichlich lang übersetzt. Zum Glück bieten die Spiegel bei Höchstdrehzahl einen guten Rückblick, so dass man drängelnde TDIs früh erkennen und die linke Spur räumen kann. Bei reduziertem Tempo hingegen, zwischen 3000 und 4000 Umdrehungen, versetzen die starken Motorvibrationen die Spiegel derart in Schwingungen, dass sich der rückwärtige Verkehr nur noch erahnen lässt. Obwohl die 620er-Multistrada durchaus
fürs Kilometerfressen taugt, liegt ihre Bestimmung woanders.
Deshalb runter von der Bahn und rein in die frühlingshaft duftenden Wälder der Schwäbischen Alb. Vor der Kür steht allerdings das Pflichtprogramm: Landstraßenverbrauch fahren. Also voll tanken und dann die Ducati mit angezogenen Zügeln über die vorgegebene Verbrauchsstrecke schaukeln. Und schon mal jede Menge Testeindrücke sammeln. Erstaunlich, wie weich der kleine Zweizylinder bereits ab 2000 Umdrehungen Gas annimmt, sich zwischen 3000 und 4000 Umdrehungen kurz, aber heftig schüttelt, so dass neben den Spiegeln auch die sonst sehr gut ables-
baren Armaturen lediglich ein verwackeltes Bild liefern, um anschließend wieder den kultivierten Gentleman zu geben. Untermalt wird all dies durch das typische Ducati-Bollern, das dem Sound des 1000er-Triebwerks in nichts nachsteht.
Leicht und präzise rasten die Gänge ein beim Hochschalten. Beim Runterschalten ist mehr Kraft vonnöten, und es bleibt ein teigiges Gefühl beim Einrasten der Gangstufen. Wie das Getriebe hat die »APTC«-Kupplung, die durch eine spezielle Hebelkinematik die benötigte Handkraft reduziert, ebenfalls ihre zwei Seiten. Der extremen Leichtgängigkeit steht ein sehr kurzer Weg und ein später Zeitpunkt des Einrastens gegenüber. Beides erschwert die Dosierbarkeit. Plus und Minus gibt
es auch bei der Vorderradbremse zu verzeichnen, die einen sehr kurzen Weg und knackigen Druckpunkt bietet, aber nach hoher Handkraft verlangt. Zu kritisieren ist zudem die fehlende Einstellmöglichkeit von Brems- und Kupplungshebel.
Verbrauchsrunde beendet, rasch noch einmal voll tanken, den Verbrauch bestimmen, und weiter geht es. Doch halt: 6,5
Liter auf 100 Kilometer, kann das sein? Schließlich begnügte sich die 1000er mit 5,2 Litern. Und Monster-Modelle mit dem 620er-Triebwerk, die bis auf den Luftfilterkasten und den Auspuff mit dem Multi-
strada-Triebwerk identisch sind, mit knapp über vier Litern. Vielleicht ist da etwas beim Nachtanken schief gelaufen, was bei diesem stark zerklüfteten Tank mit seinen oben liegenden und nach vorn zeigenden Nasen, in denen sich Luftblasen halten können, leicht passieren kann.
Es hilft nichts, eine Kontrollmessung ist angesagt. Ergebnis: erneut 6,5 Liter. Dieser hohe Verbrauch wird später durch die Messung von 7,0 Litern bei konstant 130 km/h bestätigt. Eine Nachfrage bei Ducati brachte keine Erklärung. Bleibt abzuwarten, ob das nächste Testmotorrad, das dem-
nächst im großen Funbike-Vergleich antritt, genügsamer mit dem Kraftstoff umgeht und trotzdem von der Leistungscharakteristik so überzeugen kann wie das aktuelle Testexemplar.
Der ungewöhnlich hohe Spritkonsum mindert zwar die Finanzreserven, nicht aber den Fahrspaß, den die 620er-Multi-
strada auf der Landstraße vermittelt. Das bevorzugte Revier sind kleine Sträßchen mit vielen Wechselkurven, wobei der Un-
tergrund gern etwas wellig sein darf. Die weich abgestimmten Federelemente verrichten ihre Arbeit so gut, dass man an der Gabel die fehlenden Einstellmöglichkeiten nicht vermisst. Das Federbein ist eben-
falls eher komfortabel abgestimmt, muss jedoch selbst im Zwei-Personen-Betrieb keineswegs kapitulieren. Die kommode Sitzposition für den Sozius wird allenfalls durch die zu nah am Polster montierten Haltegriffe eingeschränkt. Mit den komfortablen Federelementen, die auch gröbere Unebenheiten klaglos wegstecken, und dem klassischen Zweizylinderknurren aus den beiden großen Endstücken unter der Sitzbank, kann die kleine Multistrada ihrer großen Schwester nicht nur im Sozius-
Betrieb Paroli bieten.
Die letzte Etappe führt die 620er auf den Top-Test-Parcours. Hatte dort schon die 1000er-Multistrada eine gute Figur gemacht, kann es die 620er mit 13 Kilogramm weniger Gewicht und einem Handling-fördernden 160er-Hinterreifen gar noch besser. Mit fast 110 km/h am Messpunkt des schnellen Parcours deklassiert sie die 1000er um satte 14 km/h. In der Rundenzeit liegen die beiden mit 20,9 Sekunden gleichauf, da die große Multistrada ihre Mehrleistung beim Antritt nutzen kann. Im langsamen Slalom und in der Kreisbahn spielt die Schräglagenfreiheit eine entscheidende Rolle, diesbezüglich können beide nicht glänzen. Die Kleine hat aufgrund der gekürzten Federwege, die auch die Bodenfreiheit minimieren, sogar noch mehr das Nachsehen. Auf der rechten Seite ist es der nicht einklappbare Fußbrems-
hebel und auf der linken der Seitenständer, der ziemlich hart aufsetzt und die Grenze an Schräglage und somit der Geschwindigkeit markiert.
Bleibt noch eine Hürde im MOTORRAD-Messprogramm: der Bremstest, bei dem auf der letzten Rille verzögert wird. Was sich auf der Ducati etwas heikel gestaltet wegen der schwierigen Dosierung durch den harten Druckpunkt und den
kurzen Weg des Hebels. Die Gefahr, das Vorderrad zu überbremsen, ist bei heftigem Verzögern stets präsent. Mit etwas Übung und viel Erfahrung kommen trotzdem gute Werte zustande, die mittlere Verzögerung von 9,7 m/s2 kann sich in dieser Motorradklasse sehen lassen. Das stabile Fahrverhalten und die noch über Reserven verfügende Gabel würden wohl einen noch besseren Wert ermöglichen. Im normalen Straßenbetrieb hinterlässt die Multistrada-Bremse einen ordentlichen Eindruck.
Mehr als ordentlich fällt insgesamt die Bilanz für das Funbike aus. Auch wenn
der Benzinverbrauch und die Sitzposition noch verbesserungswürdig sind, überwiegen die positiven Aspekte. Das tadellose Fahrwerk und der Zweizylinder mit seiner homogenen Leistungscharakteristik sowie dem typischen Ducati-Sound begeistern auf der ganzen Linie. Höchste Zeit also, Größe zu zeigen und sich zur 620 auf der Verkleidung zu bekennen.
War sonst noch was?
Plus
Großes Ölschauglas
Reifenventile gut zugänglich
Wegfahrsperre
Reichhaltiges Zubehörangebot mit
Koffern, Heizgriffen, Hauptständer und
einer Komfortsitzbank
Minus
Mäßiges Licht
Eingeschränkte Sicht in den Rückspiegeln
Dürftiges Bordwerkzeug
Brems- und Kupplungshebel nicht einstellbar
Mangelhafter Spritzschutz vorn und hinten
Motor sowie Federbein samt Anlenkung
liegen voll im Verschmutzungsbereich
Fahrwerkseinstellungen
im Test
Gabel:
nicht einstellbar
Federbein:
Zugstufe 12 Klicks offen,
Feder zirka 2 cm vorgespannt
MOTORRAD-Messungen
Fahrleistungen
Höchstgeschwindigkeit* 185 km/h
Beschleunigung
0100 km/h 4,4 sek
0140 km/h 8,5 sek
Durchzug
60100 km/h 5,1 sek
100140 km/h 5,3 sek
140180 km/h 8,9 sek
Tachometerabweichung
Effektiv (Anzeige 50/100) 47/96 km/h
Drehzahlmesserabweichung
Anzeige roter Bereich 10000/min
Effektiv 10100/min
Verbrauch im Test
bei 130 km/h 7,0 l/100 km
Landstraße 6,5 l/100 km
Theor. Reichweite 231 km
Kraftstoffart Super
Maße und Gewichte
L/B/H 2110/915/1340 mm
Sitzhöhe 835 mm
Lenkerhöhe 1050 mm
Wendekreis 5300 mm
Gewicht vollgetankt 207 kg
Zuladung 183 kg
Radlastverteilung v/h 47/53%
Fahrdynamik1
Bremsmessung
Bremsweg aus 100 km/h 39,7 Meter
Mittlere Verzögerung 9,7 m/s2
Bemerkungen: Wie bei der großen Schwester lässt sich die Bremse im Grenzbereich aufgrund des kurzen Hebelwegs schwierig dosieren.
Handling-Parcours I (schneller Slalom)
Rundenzeit 20,9 sek
vmax am Messpunkt 109,8 km/h
Bemerkungen: Die gute Handlichkeit ermöglicht einen sehr schnellen Schräglagenwechsel. Sanft einsetzende Motorleistung vor allem nach dem Umkehrpunkt.
Handling-Parcours II (langsamer Slalom)
Rundenzeit 28,6 sek
vmax am Messpunkt 54,2 km/h
Bemerkungen: Die feinfühlig ansprechende Gabel liefert gute Rückmeldung vom Vorderrad. Leider setzt der nicht einklappbare Fußbremshebel rechts vor der einklappbaren Fußraste auf.
Kreisbahn, Ø 46 Meter
Rundenzeit 11,1 sek
vmax am Messpunkt 50,0 km/h
Bemerkung: Geschwindigkeit und Zeit wird durch den aufsetzenden Seitenständer links beschränkt. Beim Bremsen in Schräglage klappt das Vorderrad leicht ein. Nur geringe Aufstellneigung beim Überfahren der Bodenwelle.
Technische Daten
Motor: luftgekühlter Zweizylinder-Vier-
takt-90-Grad-V-Motor, je eine oben liegende, zahnriemengetriebene Nockenwelle, zwei Ventile pro Zylinder, desmodromisch betätigt, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Ø 45 mm, ungeregelter Katalysator, Lichtmaschine 520 W, Batterie 12 V/10 Ah, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 15:48.
Bohrung x Hub 80,0 x 61,5 mm
Hubraum 618 cm3
Verdichtungsverhältnis 10,5:1
Nennleistung 46 kW (63 PS) bei 9500/min
Max. Drehmoment 56 Nm bei 6750/min
Schadstoffwerte (Homologation) in g/km
CO 0,600 / HC 0,236 / NOx 0,131
Fahrwerk: Gitterrohrrahmen aus Stahl, Motor mittragend, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, Zweiarmschwinge aus Stahl, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstell-
bare Federbasis und Zugstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Doppelkolben-Schwimmsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 245 mm, Zweikolben-Festsattel.
Alu-Gussräder 3.50 x 17; 4.50 x 17
Reifen 120/60 ZR 17; 160/60 ZR 17
Bereifung im Test Pirelli Diablo
Maße und Gewichte: Radstand 1459 mm, Lenkkopfwinkel 66 Grad, Nachlauf 109 mm, Federweg v/h 145/121 mm, zulässiges Gesamtgewicht 390 kg, Tankinhalt 15 Liter.
Service-Daten
Service-Intervalle alle 10000 km
Öl- und Filterwechsel
alle 10000 km/3,1 l
Motoröl SAE 10 W 40
Telegabelöl SAE 7,5
Zündkerzen RA 4 HC
Leerlaufdrehzahl 1100±100/min
Reifenluftdruck solo (mit Sozius)
vorn/hinten 2,1/2,2 (2,2/2,4) bar
Garantie zwei Jahre
Farben Gelb, Rot, Schwarz, Rotorange
Preis 8395 Euro
Nebenkosten 250 Euro
Fazit
Verstecken muss sich der kleine Zwei-
zylinder keineswegs. Im Gegenteil, das weiche Ansprechverhalten, die Dreh-
freude und der rassige Klang können
mit dem 1000er-Triebwerk durchaus konkurrieren. Deutliche Vorteile verbucht die 620er-Multistrada beim besser ab-
gestimmten Fahrwerk und dem tollen Handling. Wer mit der geringeren Leistung leben kann, der kann sich die 2900 Euro Aufpreis für die Große sparen.
Punktewertung: Motor
Für einen Motor dieser Hubraum-
klasse überzeugt der Ducati-
Zweiventiler mit einer sehr gleichmäßigen Leistungsentfaltung.
Für die leichtgängige Kupplung gäbe es mehr Punkte, wenn ihr Weg länger und damit die Dosierbarkeit besser wäre und sie früher einrasten würde. Eindeutig zu
lang ist die Gesamtübersetzung,
da schon der fünfte Gang für
193 km/h ausgelegt ist.
Punktewertung: Fahrwerk
Super Handling und eine hohe Lenkpräzision zeichnen das 620er-
Fahrwerk aus. Mit dieser straffen und dennoch komfortablen Ab-
stimmung vermisst niemand die fehlenden Einstellmöglichkeiten
an der Gabel.
Punktewertung: Sicherheit
Bei einer Vollbremsung, bei der die Multistrada sehr stabil bleibt, leidet die Bremsdosierung unter dem kurzen Hebelweg und dem harten Druckpunkt. Durch die relativ geringe Leistung ist ein Lenkerschlagen nahezu ausgeschlossen, ob-
wohl die Front über Bodenwellen sehr leicht wird. Die Sicht in den Rückspiegeln leidet in bestimmten Drehzahlbereichen unter den heftigen Motorvibrationen, durch die sie sich teilweise sogar verstellen.
Punktewertung: Alltag
Satte zehn Punkte verliert die 620er
bei der theoretischen Reichweite durch den hohen Verbrauch und den
im Vergleich zur 1000er fünf Liter
kleineren Tank. Die Zuladung von 183 Kilogramm ist sehr bescheiden.
Punktewertung: Komfort
Dass man auf einer Multistrada irgendwie anders sitzt, damit
kann man sich arrangieren. Das
zu weiche Sitzkissen ist auf Dauer jedoch eine Zumutung. Vorteile bringt die höhere Scheibe.
Punktewertung: Kosten / Umwelt
Der hohe LandstraSSenverbrauch von 6,5 Litern auf 100 Kilometer kostet die 620er auch in diesem Kapitel nochmals acht Punkte
auf die große Schwester. Dafür bleiben die Unterhaltskosten für die 620er im Rahmen, was sich auch positiv im Preis-Leistungs-Verhältnis bemerkbar macht.