Allrounder von Ducati, BMW, Yamaha und MV Agusta
Mittelklasse-Bikes für Urlaub und Alltag

Mit den Crossover-Bikes BMW F 900 XR, Ducati Multistrada 950 S, MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS und Yamaha Tracer 9 GT auf gemeinsamer Tour zeigt sich, welches Allrounder-Konzept das beste ist.

Ducati Multistrade 950 S BMW F 900 XR Yamaha Tracer 9 GT MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS Vergleichstest
Foto: Arturo Rivas

Für den Motorradurlaub braucht es nicht nur Zeit, sondern auch einen echten Allrounder unter dem Hintern. Solche Bikes, kategorienübergreifende Motorräder für alle Fälle, heißen seit einigen Jahren "Crossover". Und dazu zählen unter anderem die Yamaha Tracer 9 GT, die BMW F 900 XR und die beiden Italienerinnen Ducati Multistrada 950 S und MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS. Welches ist das beste Urlaubsreise-Motorrad, und welches passt zu wem? Fragen, die nur unterwegs beantwortet werden können.

Unsere Highlights

Yamaha Tracer 9 GT

Die Koffer sind gepackt, die Abwesenheitsnotiz eingerichtet, das Smartphone stumm geschaltet – es kann losgehen. Im Hof erwachen früh morgens vier Motoren – zweimal zwei- und zweimal dreizylindrig. Der nominell stärkste unter ihnen ist der CP3-Triple der Yamaha Tracer 9 GT mit 890 Kubikzentimeter Hubraum, der samtig aber mit rauer Stimme vor sich hin säuselt und wenig später bei Ortsgeschwindigkeit fast vibrationslos dahingleitet. Gasbefehle nimmt er ruckfrei entgegen und drückt schon aus niedrigen Drehzahlen verhältnismäßig vehement vorwärts. Die Tracer 9 GT surft erhaben auf bulligem Drehmoment. Die Seele baumeln lassen, kein Problem. Einen Gang höher oder tiefer, egal. Trotzdem kann dieser Dreizylinder jenseits des Ortsschilds auch freudig drehen. Ihr so auch im Naked Bike MT-09 verbauter Triple wird obenraus zum Sportler und schiebt bis 10.000/min fröhlich voran.

MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS

Wo der Yamaha-Motor die nächste Fahrstufe fordert, dreht der zweite Dreizylinder noch mal richtig auf. Mit 798 Kubikzentimetern verfügt die MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS zwar über etwas weniger Hubraum, dafür über deutlich üppigere Drehzahlreserven. Ihre Leistungskurve verläuft insgesamt flacher als die der Yamaha, gipfelt aber bei beachtlichen 108 gemessenen PS. Das im Sattel alles übertönende Ansauggeräusch, hinterlegt mit mechanischem Mahlen, gibt Enthusiasten dazu ein ganz eigenes Urlaubsgefühl, und angenehmerweise bleibt diese MV in der Vorbeifahrt nach außen akustisch noch dezent. Wer Entspannung aus einem Hauch Racing-Flair zieht, daraus, Gänge auszudrehen und dann mit Kraftaufwand die nächste Zahnradpaarung hineinzukicken, der beginnt außerhalb der Ortschaft auf der Turismo Veloce seinen Wellnessurlaub.

BMW F 900 XR

Wer Entspannung dagegen der Definition gemäß auslegt, fühlt sich auf der BMW F 900 XR eindeutig am wohlsten: Ihr Reihentwin mit V2-Hubzapfenversatz ist der Inbegriff von Unaufgeregtheit und Berechenbarkeit. Die BMW malt nicht nur eine schnurgerade Leistungslinie auf das Prüfstandsprotokoll, sondern läuft dazu noch sehr vibrationsarm, braucht für den Gangwechsel nur wenig Kraft und geht wie auch die Tracer 9 GT besonders weich vom Schiebe- in den Lastbetrieb über. Der BMW-Pilot kann den MV-Treiber tiefenentspannt belächeln, der seinerseits ob der vermeintlichen Langeweile mitleidig herüberschaut. Viel unterschiedlicher könnten zwei in Konzept und Fahrleistungen so ähnliche Motorräder kaum sein.

Ducati Multistrada 950 S

Ein nochmals völlig anderes Gefühl genießt dahinter der Fahrer der Ducati Multistrada 950 S. Unter ihm werkelt ein echter 90-Grad-V-Twin mit allem, was dazugehört. Als da wären: mächtiger Punch aus der Mitte, rhythmische Schwingungen über das gesamte Drehzahlband und mäßige Laufkultur unterhalb von 4.000/min. So mächtig die Ducati aus mittleren Drehzahlen an der Konkurrenz vorbeizuziehen vermag, so ruppig holpert sie auch durch die Ortschaften. Besonders auf leicht abschüssigen Straßen entwickelt der Twin bei niedrigen Drehzahlen ein ausgeprägtes Konstantfahrruckeln, wie man es vom Vorjahres-Euro-4-Modell bislang nicht kannte. Akustisch wurde die Multi dafür dezenter und unterdrückt jegliches V2-Bollern aus dem Auspuff konsequent. Ein Pluspunkt beim entspannten Touren und vor allem innerorts.

Sitzpositionen, Komfort, Handlichkeit

Aber die Freiheit genießt man nicht innerorts, sondern in der unbesiedelten Natur. In bewaldeten Tälern, zwischen Feldern, auf schmalen Pässen. Hier thront der Multistrada-Pilot über allen anderen. Als Einzige trägt die Multi ein 19-Zoll-Vorderrad, positioniert den Fahrer oder die Fahrerin dazu am moderatesten mit im Vergleich weit vorne angebrachten Rasten. Während die drei Konkurrentinnen kurz beschrieben Naked Bikes mit hohem Lenker, bequemer Sitzbank, Windschutz und Koffern sind, baut die Ducati auf dem Grundgerüst einer Reiseenduro auf. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch sportlich könnte. Ohne viel Kennenlernzeit gibt die Duc schnell großes Vertrauen in Schräglage. Weil sie der anvisierten Linie stets treu ist und mit steigendem Tempo trotz des großen Vorderrads sehr handlich bleibt. Über den breiten Lenker lässt sie sich easy manövrieren, egal ob gediegen oder flott.

Wo wir gerade bei handlich und flott sind: In Sachen Handlichkeit sticht die hyperagile MV Agusta heraus. So kompakt wie auf der Turismo Veloce sitzt man auf keinem anderen der Crossover-Bikes. Den Lenker quasi direkt vor der Brust, das Vorderrad fast unter dem Hintern, klappt die MV mit Abstand am flinksten in Schräglage. Die Linie verfehlt man in der Kennenlernphase aber öfter mal, und zwar nicht nach außen, sondern nach innen. Enge Kurven sind Turismo-Terrain, in weiteren Radien will sie dagegen immer etwas zu ambitioniert nach innen kippen. Davon ist bei BMW und Yamaha nichts zu spüren. Beide biegen etwas weniger handlich, dafür viel neutraler ab. Die Tracer 9 GT liegt über den Kurvenverlauf brettstabil, die F 900 XR nur minimal weniger und bietet dafür im Gegensatz zur Yamaha viel Schräglagenfreiheit. Aufsetzende Rasten sind bei ambitionierter Fahrweise ausschließlich auf der Tracer ein Thema.

Fahrwerk und Dämpfung

Nach ein paar sportlich gerittenen Passagen überkommt die Crossover-Reisegruppe wieder das Verlangen nach genussvollem Touren. Wo die Straßen schmaler werden und der Asphalt löchriger wird, ist die Landschaft doch oft am schönsten. Mit ihren langen Federwegen von vorne und hinten 170 Millimetern hat die Multistrada 950 hier gute Karten. Das semiaktiv dämpfende Fahrwerk schluckt im soften Modus Schläge jeder Härte zuverlässig. Der Einstellbereich der Öhlins-Hardware ist außerdem sehr breit, weshalb auch das erwähnte flotte Fahren mit straffem Setup kein Problem ist.

Ebenfalls semiaktiv dämpfen die von Kayaba stammenden Federelemente der Yamaha Tracer 9 GT. Die zwei zur Verfügung stehenden Automatik-Modi unterscheiden sich vor allem darin, dass im softeren von beiden ("A2") die Dämpfung über den Federweg weniger progressiv aufgebaut wird, während das härtere Setup ("A1") das Abtauchen der Gabel beim Bremsen und das Einsacken des Hecks beim Beschleunigen deutlich einbremst. In beiden Einstellungen liegt die Tracer satt, kann aber auch wegen der kürzesten Federwege (vorne 137, hinten 130 Millimeter) beim Komfort nicht ganz mit der Ducati mithalten. Und auch nicht mit der BMW, die ebenfalls lange Federwege (170 und 172 Millimeter) besitzt, allerdings die Dämpfung nur hinten semiaktiv anpasst. Beide Dämpfungsmodi, "Dynamic" und "Road", werden ihren Bezeichnungen absolut gerecht (Dynamic führt die Hinterhand deutlich straffer), allerdings harmoniert die softere Road-Abstimmung insgesamt besser mit dem Setup der nicht einstellbaren Gabel.

Das Ansprechverhalten von Gabel und Federbein ist bei BMW wie Ducati erster Güte und einen Tick besser als bei der MV Agusta. Die Turismo Veloce kommt in der luxuriösen Variante "Lusso" ebenfalls mit einem semiaktiven Fahrwerk. Die Gabel bietet viel Komfort, gröbere Verwerfungen kommen aber über das spürbar weniger sensible und im Vergleich straff arbeitende Federbein im Gesäß des Reiters an. Hier nutzt die MV den langen 165-Millimeter-Federweg (vorne sind es bei ihr 160 Millimeter) nicht ganz so geschickt wie ihre Konkurrentinnen.

Kuppeln ohne Hebel auf der MV Agusta

Als absolutes Komfort-Alleinstellungsmerkmal trägt die Turismo Veloce mit der Zusatzbezeichnung SCS eine Rekluse-Kupplung, die den Hebel auf der linken Lenkerseite von allen Aufgaben befreit. Ungewohnt, nach einer kurzen Pause inklusive Motorradwechsel ohne Weiteres im Stand den ersten Gang reinzudrücken und Gas zu geben. Der schwergängige Kupplungshebel erinnert aber bei jeder Betätigung daran, dass er zwar funktioniert, aber nicht benutzt werden will. Weder beim Anfahren noch beim Schalten. Steppt man die Gänge mit dem Blipper herunter, funktioniert’s gut. Zieht man aber klassisch den Kupplungshebel – und das einen Tick zu lange –, wird der Kraftschluss ungewollt unterbrochen, und nur ein Gasstoß – der selten in die Fahrsituation passt, in der man herunterschaltet – stellt ihn wieder her. Die Erkenntnis daraus: den Hebel einfach nicht benutzen, wenn nicht unbedingt notwendig.

Beim Rangieren auf dem Parkplatz, möglicherweise noch mit Sozius, ist diese Feindosierung notwendig. Der Sozius selbst sitzt auf der Turismo Veloce übrigens weit oben, hat den Fahrer gefühlt unter sich und freie Sicht nach vorn. Auch in zweiter Reihe bietet die MV ordentlichen Sitzkomfort, allerdings hat die hohe Position großen Einfluss auf das Fahrverhalten, und die MV wird zu zweit noch etwas kippeliger. Die BMW kommt mit einem Passagier besser zurecht, bietet ihm aber nur einen spärlich bemessenen und harten Sitzplatz. Am bequemsten hat es der Fahrgast auf der Tracer 9 GT mit angenehmem Sitzpolster, moderatem Kniewinkel und viel Platz. Ähnlich sieht es auf der Ducati aus, mit der Einschränkung, dass die nach hinten gelehnte Position das Mitfahren zum Bauchmuskel-Work-out werden lässt.

Brems-Performance der Crossover-Bikes

Auf der letzten Etappe windet sich eine gut ausgebaute Straße den Berg hinauf und wieder hinab. Vor engen Kehren heißt das für die Allrounder wiederholt hart den Anker werfen. Die Bremse der Multistrada 950 S mit top Brembo-Hardware packt initial am heftigsten zu und lässt sich am feinsten dosieren. Die Stopper von Yamaha und BMW fühlen sich trotz ebenfalls vorbildlicher Verzögerung weniger knackig an, und bei der MV Agusta steht zur Dosierung nur wenig Hebelweg zur Verfügung. Außerdem regelt das ABS des Crossovers aus Varese recht früh. Das kann vor allem die Tracer 9 GT besser, deren Blockierverhinderer das Heck gerade so am Boden hält. Dass ihr ABS als einziges keine verschiedenen Modi bietet, fällt deshalb kaum auf.

Die alles in allem einfachste Ausstattung der Yamaha dagegen schon. Schon beim Blick auf das aus zwei nebeneinander angebrachten Displays bestehende Cockpit lässt sich erahnen, dass die Tracer das untere Ende der vertretenen Crossover-Preisspanne bildet. Aber am falschen Ende wurde nicht gespart, sicherheitsrelevante Assistenten wie Traktions- und Wheeliekontrolle sind an Bord und verrichten ihren Job unauffällig. Die Elektronikpakete von BMW (aufpreispflichtig) und Ducati (bei der S-Version serienmäßig) trumpfen im Vergleich aber mit feiner regelnden Helfern auf, und ihre Displays wirken deutlich moderner. Auch das der MV, allerdings spiegelt Letzteres bei Gegenlicht so stark, dass es schwer ablesbar ist. Während der Testreise musste zudem jeder MV-Reiter mehrmals vom Vordermann auf den noch aktivierten Blinker hingewiesen werden, weil die zugehörige Leuchte im Cockpit sich nur erahnen lässt und die Konzentration darauf mit der Zeit nachlässt.

Bevor Konzentration und Sonne ganz schwinden, ist das erwähnte Wirtshaus erreicht. Man schaut den Bikes beim Abkühlen zu und freut sich, die Zeit vergessen zu haben. Mit jedem von ihnen auf unterschiedliche Weise. So gibt es letztendlich zwar eine objektive Siegerin, doch auch vier persönliche Favoritinnen.

Fazit

1. Platz: Ducati Multistrada 950 S Bequem, stark und top ausgestattet. Auf der Landstraße lässt die Multi keine Wünsche offen und gibt ein erhabenes Gefühl. Nur bei niedrigem Tempo ruckfrei gleiten können die anderen etwas besser.

2. Platz: Yamaha Tracer 9 GT Ein beachtlicher Einstand der neuen Tracer. Mit ausgewogenem Fahrverhalten, guter Ausstattung und dem sehr elastischen Dreizylinder bietet sie unterm Strich am meisten fürs Geld.

3. Platz: BMW F 900 XR Wer entspanntes Touring bevorzugt, findet in der F 900 XR eine treue Begleiterin. Sie leistet sich keine Schwächen und liefert überall unauffällig ab. Dabei bleibt höchstens die Emotion auf der Strecke.

4. Platz: MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS Als Gegenentwurf zur BMW spielt sich die MV Agusta immer in den Vordergrund und will konzentriert gefahren werden. Jede Reise mit ihr ist fordernd, aber auch besonders aufregend.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023