Der kleine, aber feine E-Hersteller Energica strebt Stückzahlen an und präsentiert mit der Experia erstmals ein Motorrad für die gar nicht mehr so kleine Reise, ob allein oder zu zweit. MOTORRAD ist sie gefahren.
Der kleine, aber feine E-Hersteller Energica strebt Stückzahlen an und präsentiert mit der Experia erstmals ein Motorrad für die gar nicht mehr so kleine Reise, ob allein oder zu zweit. MOTORRAD ist sie gefahren.
Crossover. Mit diesem ordinären Begriff haben die norditalienischen Marketing-Menschen naturgemäß so ihre Probleme. Ganz zu schweigen von der Reiseenduro. "Green Tourer" ist stattdessen die bevorzugte Vokabel. Nichtsdestoweniger sprechen die Eckdaten für einen relativ sortenreinen Crossover mit einem Minischuss-Reiseenduro:
Noch moderate Sitzhöhe (847 Millimeter), noch moderate Tourer-Optik, noch moderate Federwege (je 150 Millimeter) und noch moderate 17-Zoll-Bereifung (Pirelli Scorpion Trail II). Etwas zu moderat erscheint auf den ersten Blick die Leistung des brandneuen Elektromotors (80 PS Dauerleistung, 102 PS Spitzenleistung), nicht mehr ganz moderat hingegen wirkt das Gewicht (260 Kilogramm) und weit weg von moderat ist der Preis (gut 30.450 Euro).
Doch die Gesetzmäßigkeiten sind andere in der Welt der Elektromobilität, hier eine kurze Einordnung: Zu schwach kam uns jedenfalls noch kein ausgewachsenes Elektromotorrad vor, zumal die Experia hier mit satten 115 Newtonmeter Drehmoment punkten kann – wie gewohnt stante pede in Gänze abrufbereit. Auch 260 Kilo befinden sich zwar am obersten, nicht aber am unüblichsten Rand des Segments (Hallo, Kawasaki Versys 1000). Zumal die Signore und Signori von Energica umfänglich darlegen, wie viel besser die trotz nochmals leicht vergrößertem Batteriepack (22,5 kWh brutto, 19,6 kWh effektiv) und verbautem Tourer-Ornat nicht mehr gewordenen Kilos (im Vergleich zum bestehenden Line-up) verteilt sind. Motor und Akku, und damit ein Großteil des Gewichts, sind im Sinne der Massenzentralisierung nun deutlich weiter unten und hinten platziert, dazu kommt ein deutlich schmalerer Rahmen.
Und der Preis? Ja nun, E-Mobilität gibt es (noch) nicht ohne kräftigen Zuschlag, das dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Und wenn man sich als E-Sport-Pionier und Premiumanbieter versteht, umso weniger. Andererseits: eine im üblichen Maße behangene BMW S 1000 XR zum Beispiel geht auch nicht gerade als Schnäppchen durch.
Verwegener Vergleich mit der BMW? Irgendwie schon. So souverän fliegt der Stromer nämlich um die Ecken. Das liegt zum einen am unnachahmlich mächtigen und trotzdem sanft anzapfbaren Elektroschub. Während die Verbrenner in den spitzkehrenverseuchten Dolomiten gern im Kellertief mit Ganggerühre sitzen, drückt die Experia mit jedem Stromstoß unverschämt stark nach vorne. Da bleibt keine Zeit für Stammtisch-Zahlendreherei: Das ist Königsklassendruck. Selbst wenn es nicht so wirkt, ist dieser im Vergleich zu den geradezu obszön starken Energie-Kraftwerken der Ego und Eva zwar endlich, aber unter Berücksichtigung von StVO, Topografie und Überlebenswille kaum auszureizen.
Spektakulär, aber für den Energica-Erfahrenen nicht ganz unerwartet. Ganz im Gegensatz zum Handling. Obwohl nominell nicht leichter als die jüngst verschlankten Geschwister, ist man hier gefühlt vom Schwer- ins Mittelgewicht gewechselt. Mindestens. Dazu fehlt dank der spürbar harmonischeren Gewichtsverteilung die prominente Kopflastigkeit der restlichen Energica-Bande. Ergebnis: Leichteres Einlenken, kein Kippeln mehr in tiefen Schräglagen und deutlich weniger Schweiß auf der Stirn beim Umlegen. Sollte es mal zu wild werden, reguliert das bekannte Brembo-Besteck aus den eher oberen Regalen souverän.
Das früher oft kritisierte, ruppig ansprechende Heck hat dank einer zeitgemäßen Anlenkung des Federbeins nun deutlich an Eleganz gewonnen. Das Grundsetting der Hardware von ZF Sachs ist nichtsdestoweniger eher auf der dynamischen Seite, was aber einem dynamischen Genrevertreter durchaus gerecht wird. Genau wie die übliche Feature-Fülle. Hochaufgelöstes Cockpit, sieben Fahrmodi (vier fixe und drei konfigurierbare), schräglagensensible Fahrelektronik, Connectivity, verstellbares Windschild, 112 Liter-Koffersystem und natürlich die obligatorische Griffheizung: alles an Bord. Fahrer und Fahrerinnen ab 1,80 Meter würden sich aber noch über einen etwas höheren Sitz freuen, der zudem weniger abschüssig nach vorne hin ist. Soll es laut Energica pünktlich zum Marktstart im Herbst geben.
Und die Gretchenfrage: Wie lange reicht der Saft? Gut 180 Kilometer lassen sich anhand der Verbrauchswerte unserer leider sehr kurzen, aber auch sehr steigungs- und temporeichen Testrunde zumindest hochrechnen. Zum Vergleich: Eine 2020er Eva Ribelle schaffte mit dem nur geringfügig kleineren Akku (21,5 kWh brutto, 18,9 kWh effektiv)) unter ähnlichen Umständen lediglich gut 120 Kilometer. Und eine der Experia nicht ganz unähnliche Zero SR/F gar nur 110 Kilometer. Wer nicht zufällig in den Alpen wohnt, nicht immer den Volle-Brause-Fahrmodus "Sport" wählt und nicht nur Vollstrom gibt, sollte die 200 Kilometer recht locker packen. Was die Werksangabe von 208 Kilometern im reinen Landstraßenbetrieb realistisch erscheinen lässt. 256 Kilometer im Mischbetrieb und satte 420 im – zugegeben wohl eher praxisfernen – Stadtbetrieb klingen ganz gut.
Einmal zu 80 Prozent Laden dauert nach wie vor 40 Minuten, vorausgesetzt man lädt Gleichstrom an einer Schnellladesäule mit Steckertyp "CCS", die ja dank der vierrädrigen Kollegen immer zahlreicher wird. Vollmachen dauert eine gute Stunde und kostet selbst im obersten Preissegment von einem Euro pro Kilowattstunde knapp 20 Euro statt der üblichen 17 Liter Super zu aktuell knapp 35 Euro. Vielleicht gar nicht so unwichtig, wenn die Anschaffung bereits knapp 25.600 Euro verschlingt …ohne Mehrwertsteuer. Aber kein Problem, Sparfüchse verzichten auf das Gepäcksystem der Launch Edition und zahlen "nur" knapp 23700 Euro. Ohne Mehrwertsteuer. Nun ja. Wie schon gesagt, E-Mobilität gibt es (noch) nicht ohne kräftigen Zuschlag.
Energica drängt mit der dynamischen Experia ins prestige- und volumenträchtige Segment irgendwo zwischen Reiseenduro und Crossover. Das Handling hat sich im Vergleich zu bisherigen Energicas deutlich verbessert, dazu gibt es den größten Akku im Zweiradbereich. Auch die vermutliche Reichweite stimmt zuversichtlich, muss aber noch im Detail verifiziert werden. Ein gelungener, aber selbstbewusst eingepreister E-Tourer, der in der ähnlich gelagerten, mit kleinerem Akku, aber auch kleinerem Preis versehen Zero SR/F seinen härtesten Mitbewerber hat.