Das Finale
Tag sechs des Alpen-Masters 2012. Noch immer scheint die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel, noch immer weht ein warmer Wind durch die Täler. Welch ein Unterschied zu den vergangenen drei verregneten und teilweise verschneiten MOTORRAD-Gipfeltreffen in den Dolomiten und dem Stilfser Joch. Kein Wunder, dass am Tag des Finals bereits beim Frühstück Hochstimmung herrscht. „And the winner is …“, hebt Andrea vom italienischen MOTORRAD-Partnerblatt „In Moto“ an und reibt sich symbolisch die Tränen aus den Augen, „… no italian bike.“ Auch wenn sich der Mann aus Bologna vor Lachen kugelt - es stimmt. Von den insgesamt 20 Maschinen des Alpen-Masters 2012 stehen 15 - darunter alle sieben Italienerinnen - bereits in der Hotelgarage. In der Vorrunde ausgeschieden.
Denn es kann nur eine geben. Lediglich die jeweiligen Siegerinnen der fünf Gruppen schaffen den Sprung ins Finale - und treten dort gegen die amtierende Alpen-Meisterin an, die BMW R 1200 GS. Der Wahlmodus auf der Finalroute ist ebenso einfach wie radikal. Die Punkte aus der Vorrunde zählen nicht mehr, alle Maschinen gehen mit gleichen Chancen an den Start. Auf jedem der fünf zu fahrenden Pässe wird von der Jury aus sechs routinierten Redakteuren per geheimem Votum ein Motorrad abgewählt. Das letzte Verbliebene ist demnach der neue Alpen-Master.

Der Cappuccino wird leer geschlürft. Avanti. Die erste Etappe ist schnell erreicht. Bis zum Col de Larche sind es vom Startpunkt in Pietraporzio nur 21 Kilometer. Die meisten davon schnurgerade. Erst die 14 Kehren kurz vor dem Übergang geben dem auch von vielen Lkw benutzten Pass etwas Würze. Es braucht schon die Erfahrung aus den Vorrunden, um das frühe Urteil zu fällen. Dennoch fällt es unerwartet eindeutig aus. 6:0, die Kawasaki ZZR 1400 muss gehen. Dabei hatte das Big Bike der Sportler-Gruppe die Testriege von ihrer ganz eigenen Relativitätstheorie überzeugt. Denn in Relation zu ihren immensen 276 Kilogramm Gesamtgewicht und relativ sperrigen Ausmaßen fühlt sich die ZZR in den Alpen an wie ein Wal im Meer: behäbig, aber souverän. Allein wie der für dieses Jahr von 1352 cm³ auf 1441 cm³ Hubraum vergrößerte Vierzylinder die immense Masse mit seinen 206 PS mühelos in Richtung Gipfel drückt, das schafft Eindruck. Schalten? Nur selten nötig. Der zweite Gang reicht für enge Kehren genauso wie für lange Geraden. Eine Traktionskontrolle und ABS regeln Überfluss (an Vortrieb) oder Mangel (an Bremsweg) mit unsichtbarer, kundiger Hand, die weiche Federung und die bequeme Sitzbank filtern jede noch so üble Schlaglochserie weg, von den Langstreckenqualitäten der ZZR für die An- und Abreise ganz zu schweigen. Trotz all dieser Meriten: Gewicht und Dimensionen verlangen permanent nach kräftiger Führung. Auf der Autobahn stört das nicht, auf Pässen schon.
Und selbst die weiten Bergab-Schwünge des Larche hätten die ZZR nur kurzfristig rehabilitiert. Denn nach moderatem Anfang windet sich die Straße zum Col de Vars zusehends verschlungener in Richtung Passhöhe. Immer öfter tauschen die Juroren die Motorräder, justieren ihre Meinung nach. Vor allem die BMW F 800 R und die Triumph Speed Triple R sind begehrt. Ein letztes Absichern vor der Abwahl? Was wäre den beiden schon vorzuwerfen? Der Bayerin höchstens ihre Perfektion. Mit beeindruckender Überlegenheit hatte sie ihre Allrounder-Kolleginnen in der Vorrunde in die Knie gezwungen. Und auch auf der ersten relativ flachen Hälfte des 15 Kilometer langen Col de Vars zeigt sich die BMW bereits von ihrer starken Seite.

Gabel und das direkt auf der Schwinge angelenkte Federbein bügeln den welligen Asphalt glatt, halten das Fahrwerk dabei noch schön in der Balance. Dass der Zweizylinder-Gleichläufer durch den 360-Grad-Zündversatz nicht nur so klingt wie ein Boxer, sondern auch aus niedrigen Drehzahlen kräftig und gut dosierbar mit immerhin 95 gemessenen Pferdestärken (Werksangabe: 87 PS!) anschiebt, goutiert man nach jedem der zu Beginn noch langen Bögen. Nur bei höheren Drehzahlen kribbelt der Twin kräftig in den Lenkerenden. Entschädigung gibt's weiter oben in den immer enger werdenden Kehren. Mühelos kippt die F 800 R in Schräglage, zieht in blitzsauberer Linie ihren Radius, stellt sich trotz des breiten 180er-Hinterreifens über Wellen oder beim Bremsen kaum auf und macht dem Piloten den Gipfelsturm letztlich kinderleicht. Vielleicht zu leicht. Ganz bestimmt für Freddy Papunen. „Always too fast, immer zu schnell“, grinst der dreifache schwedische Superbike-Meister. Ernsthaft gefordert fühlt sich Racer Freddy auf der BMW selten. Die anderen auch nicht. Objektiv gesehen ein Bergpreis am Bande. Subjektiv betrachtet - und diese Sichtweise ist hier im Finale durchaus gestattet - fehlt der BMW die gewisse Herausforderung. Ähnlich dem Gefühl am Gipfelkreuz: je nachdem, ob man es mit der Seilbahn oder über den Kletter- steig erreicht hat. Die Jury bevorzugt offensichtlich den anstrengenderen Weg. Ein Redakteur wählt die Triumph Explorer ab, zwei die Speed Triple und drei die F 800 R. Au revoir, BMW.

Bei diesem Resultat ahnen selbst Triumph-Fans, dass der Weg zum Col d Izoard zum letzten Aufbäumen für die Speed Triple R wird. Doch zunächst lenkt die Combe de Queyras ab. Auf dem Flachstück vor dem Izoard fasziniert die eng eingeschnittene Schlucht mit ihrer in den Fels gehauenen Straße. Einige Kilometer später windet sich die gut ausgebaute Trasse durch einen Kiefernwald herrlich nach oben. Als ob sie sich für die Gunst revanchieren wollte, fährt die Speed Triple R noch mal ihr ganzes emotionales -Repertoire auf. Ob dieses metallische Pfeifen und Brabbeln aus den beiden Schalldämpfern beim Gaswegnehmen oder das Fauchen beim Beschleunigen, die Speedy untermalt ihren Bergsprint akustisch hochattraktiv. Zu Recht, denn auf ihren 1050er-Dreizylinder-Motor darf die Britin mächtig stolz sein. Der Drilling fordert es geradezu heraus, ihn mit Standgasdrehzahl um die steilen Kehren des Izoard rollen zu lassen, um dann - ohne schleifende Kupplung oder Angst vor einem Lastwechselruck - einfach unbeschwert Gas zu geben. Ein Gefühl, das man in jeder Biegung aufs Neue herbeisehnt, das fast süchtig macht. Und das den einzigen wirklichen Schwachpunkt der Triple, die zu straffe Hinterradfederung, überstrahlt. Über Querfugen wie die in den Alpen häufigen Rindergitter teilt die Triumph nämlich ordentlich aus. Motocrosser Andrea steht vor jedem Huckel schon prophylaktisch in den Rasten. Auch bedauerlich: Die R-Version der Speed Triple (Schmiede- statt Gussräder, Monoblock-Bremszangen, Öhlins-Federelemente) stößt mit 15000 Euro als Naked Bike in die Preisregionen von Sportlern und Reiseenduros vor. Nur Thomas, Wheeliekönig und Cascadeur durch und durch, hat die Speed Triple vom ersten Kilometer an ins Herz geschlossen. Für ihn ist sie sowieso die potenzielle Alpen-Masters-Siegerin. Der Youngster aus Paris gibt lieber der GS den Laufpass.

Dennoch fällt im Refuge Napoléon, einer im Testament des legendären Feldherrn verfügten Schutzhütte kurz nach der Pass-höhe, eine klare Entscheidung. 5:1 gegen die edle Nackte - oder korrekter, 1:5 für das verbliebene Trio. Denn die BMW R 1200 GS, die Kawasaki Versys 1000 und die Triumph Tiger Explorer werfen als Reiseenduros oder Crossover-Bike nun einen zusätzlichen Aspekt in die Waagschale: die Universalität. Sie bieten mehr als nur die unbekümmerte Kehrenhatz. Wie viel mehr?
Darüber lässt sich auf der langen Verbindungsstrecke bis kurz vor Embrun grübeln. Der Col du Parpaillon wird die erste Antwort geben. Holprig und einsam schlängelt sich die Straße nach oben. Acht Kilometer vor der Passhöhe endet der Asphalt. Das Dreigestirn schraubt sich weiter voran. Das ESA auf „Sport“ gezappt, und schon ackert sich die BMW die Holperstrecke entlang. Der Bayerin ist der jahrzehntelange Input der Globetrotter dieser Welt anzumerken. Sie wirkt auf diesem Terrain stabiler, ist 27 Kilogramm leichter und bietet mehr Federungsreserven als die Triumph. Bei der Kawa deutet außer ihrer Bereifung (Pirelli Scorpion Trail) nichts auf enduristische Ambitionen hin. Keine Motor- oder Griffschützer, mit 150 Millimetern vergleichsweise kurze Federwege, wenig Bodenfreiheit, Gussräder, die Versys hält wenig vom staubigen Element. Trotz- dem schafft sie es bravourös entlang feuchter Spurrillen und sogar durch einen Gebirgsbach (siehe Foto oben). 300 Meter vor dem Ziel beenden Schneefelder den Offroad-Abstecher. Kein Beinbruch, der völlig vereiste Tunel du Parpaillon wäre ohnehin unpassierbar gewesen. Dennoch hat sich der Aufstieg gelohnt. Hier in der Abgeschiedenheit des Geländes wirken die Alpen noch grandioser als auf den belebten Passüberfahrten.
Eine Viertelstunde später sind wir zurück. Freddy, Thomas und Sergio nehmen vor der Wahl kurz noch mal selbst im Gelände Maß. Das Votum fällt klar aus: 5:1. Nur Thomas, der mit den braven Reiseenduros nicht viel anfangen kann, schert wieder aus. Dennoch: Die Kawa ist raus. Eigentlich schade, denn das etwas unansehnliche Entlein besitzt - zumindest auf Asphalt - gewaltige Fähigkeiten. Unangestrengt zieht der 1000er vom Drehzahlkeller bis in höchste Touren durchs Drehzahlband. Einerseits säuselt er selbst im sechsten Gang noch lammfromm durch die Dörfer, andererseits beißt er ab 5000 Touren aggressiv zu und macht die mit knapp 12000 Euro relativ preisgünstige Versys zum vortrefflich lenkpräzisen Landstraßen-Feger. Nur das unterdämpfte Federbein spielt unter Extrem-bedingungen den Spaßverderber.

Die Spannung steigt. Erstens, weil der Umweg entlang des Lac de Serre-Ponçon, des größten Stausees Europas, viel Zeit kostet, und zweitens, weil sich im Finale die beiden dicksten Fische des Reiseenduro-Segments wieder einmal gegenüberstehen: die BMW R 1200 GS und die neue Triumph Tiger Explorer. Im zweigeteilten MOTORRAD-Vergleichstest (Heft 9 und 12/2012) hatte die BMW die Triumph in der Landstraßen- und der Gesamtwertung geschlagen. Und jetzt? Was wird entscheiden? Der seidenweiche und mit 131 PS bärenstarke Dreizylinder-Motor der Britin? Oder das bessere Handling der leichteren Bayerin? Beide sind nicht ohne Schwächen. Das BMW-Fahrwerk neigt auf holprigem Asphalt gelegentlich zum Trampeln und an die schwache Rückmeldung der Telelever-Front muss man sich erst gewöhnen. Die massige Triumph lässt etwas Federungskomfort und Agilität vermissen.
Die finale Krönung soll in würdigem Ambiente, auf dem höchsten Alpenpass, der Ringstraße um die Cime de la Bonette in 2802 Metern Meereshöhe stattfinden. Es wird allmählich duster, als die beiden mit ihrer Vierer-Gefolgschaft im Schlepptau die 25 Kilometer von Jausiers aus in Angriff nehmen. Die Radler und Wohnmobilisten sind verschwunden, die Straße menschenleer. Selbst nach den vielen Stunden im Sattel sorgt der unbehelligte Kurvenswing auf dem griffigen Asphalt für abendliche Ekstase. Was für ein Endspurt! Auch die Passhöhe ist verwaist, als die beiden Protagonisten vor dem Gedenkstein für die Erbauer der Passstraße parken. Das letzte Kästchen auf dem Wahlzettel wird ausgefüllt. Sekunden später das Resultat. 3:3 - Patt. Und jetzt: Nachwahl? Münze werfen? Nicht nötig. Denn einen überragenden Auftritt in den Alpen - und nicht nur dort - haben beide hingelegt. Jede mit ihren ganz individuellen Stärken und (wenigen) Schwächen. Und wie heißt es doch: Geteilte Freude ist doppelte Freude - auch beim Alpen-Masters 2012.
Die Platzierungen

Die Sieger: BMW R 1200 GS und Triumph Tiger Explorer
Zwei Titelträger - das hat es in der Geschichte des Alpen- Masters noch nicht gegeben. Doch stehen die BMW als auch die Triumph gleichauf für eins: Universalität. Für Pässeschwingen auf höchstem Niveau - und noch viel viel mehr.
Votum: BMW R 1200 GS (3) Triumph Tiger Explorer (3)

Platz 3: Kawasaki Versys 1000
Nicht Reiseenduro, nicht Funbike - die Versys passt in kein Schema. Ein toller Landstraßenfeger. Wenn sie nur schöner wäre.
Votum: Kawasaki Versys (5) Triumph Tiger (1)

Platz 4: Triumph Speed Triple R
Harte Federung? Teuer? Der formidable Dreizylinder faucht alle Zweifel weg. Speed Triple R - Emotion auf zwei Rädern.
Votum: Triumph Speed Triple R (5) BMW R 1200 GS (1)

Platz 5: BMW F 800 R
Ein Bike ohne Schwächen - außer vielleicht der, es seinem Piloten zu leicht zu machen.
Votum: BMW F 800 R (3) Triumph Speed Triple R (2) Triumph Tiger (1)

Platz 6: Kawasaki ZZR 1400
Alles ist relativ. Wenn sich die massige ZZR auch gut schlägt - für die Alpen ist sie zu groß, zu stark und zu schwer.
Votum: Kawasaki ZZR 1400 (6)
Die Finalrunde


Im Vergleich zur Vorrunde legt das Finale die Latte der Anforderungen an Mensch und Maschine nochmals deutlich höher. Auf der Distanz von 320 Kilometern muss an einem Tag auf fünf Pässe geklettert werden - insgesamt über 7000 Höhenmeter. Der Startpunkt bleibt unverändert in Pietraporzio im italienischen Sturatal. Allerdings wird nun in Richtung Norden gestartet. Die leider auch vom Schwerverkehr befahrene SS 21 steigt zum relativ niedrigen Col de Larche (1991 Meter) an. Einen fahrerischen Reiz stellt dieser Pass nur auf den letzten 14 Kehren kurz vor der Passhöhe dar. Nach der ebenfalls moderaten Talabfahrt stellt sich der Col de Vars in den Weg. Seine Reize entfaltet der 2111 Meter hohe Pass auch erst im letzten Teil und in der Abfahrt nach Guillestre. Erlebenswert ist die Combe de Queyras, eine lang gezogene, zerklüftete Schlucht in der Anfahrt zum Col dIzoard. Die einer Mondlandschaft gleiche Casse Déserte kurz vor dem Gipfel gehört zu den landschaftlichen Attrak- tionen dieses Passes.
Nach einer imposant geschwungenen Abfahrt und langer Transitstrecke biegt die Straße kurz vor Embrun zum Härtetest der Tour, dem 23 Kilometer langen und auf den oberen acht Kilometern nicht asphaltierten Col du Parpaillon (2650 Meter) ab. Schnee kurz vor der Passhöhe zwang die Testtruppe zum Umkehren. Dennoch stellt der Umweg entlang des Lac de Serre-Ponçon, des größten Stausees Europas, ein schönes Kontrastprogramm zur einsamen Bergwelt dar. Zum Endspurt darf ab Jausiers an der Nordseite des Col de la Bonette angesetzt werden. Der 24 Kilometer lange Anstieg kürt den Sieger des Alpen-Masters 2012 in würdiger Umgebung: Die Ringstraße um die Cime de la Bonette (2802 Meter) gilt als der höchste asphaltierte Pass der Alpen.