Eng, enger, Stilfser Joch: Nur auf wenigen Alpenpässen schlängelt sich der Aufstieg in dermaßen kniffligen Kehren den Berg hoch, dass korrekte Blickführung und sichere Motorradbalance darüber entscheiden, ob der Fahrspaß mit jedem Meter über null zunimmt oder über die Steilhänge gen Tal purzelt. Was hilft, um nicht die Übersicht zu verlieren: ein hoher Lenker. So, wie ihn Aprilias Tuareg 660 und KTMs 890 Adventure R über den Gabelrohren tragen. Im Grunde ihres zweizylindrigen Herzens zielen beide mit grobstolligen Reifen, relativ geringen Gewichten von 207 Kilogramm für Italien und 214 für Österreich aufs abenteuerlustige Motorradvolk. Heute Castrop-Rauxel, morgen der Stelvio und übermorgen die Wüste. Die zwei wollen alles. Die Gefahr: Wer sich so universell präsentiert, macht oft vieles richtig, aber nicht alles gut.
Kletterprüfung auf 885 mm und 890 mm Sitzhöhe
Beim Sitzarrangement besteht diese Zwickmühle nicht. Klar, 885 Millimeter Sitzhöhe bei der Tuareg und 890 bei der Adventure R gehen schon fast als Kletterprüfung durch, weil aber weder Tank noch Motoren die Knie weit spreizen und die Bänke schmal ausfallen, gelingt der Kontakt zum Boden selbst bei kürzeren Beinen. Majestätisch reckt sich der hohe und im idealen Abstand zum Fahrer angebrachte Aprilia-Lenker dem Piloten entgegen. Jetzt nur noch den 18 Liter großen Tank mit flüssiger Spaßgarantie fluten und die Kehren können kommen.
Bei der KTM liegt der Lenker tiefer. Dafür verstehen sie es in Austria, Ergonomie-Anpassungen ganz oben ins Lastenheft zu schreiben. Drei Gewinde zieren die obere Gabelbrücke der 890er, in denen die asymmetrischen Riser verschraubt werden. Da findet jeder die für ihn richtige Lenkerposition. Was vorm Bauch passt, verlangt vom Hintern mehr Nehmerqualitäten. Durchgehende, fast asketisch geformte Sitzbänke punkten zwar bei der Schrittbogenlänge, beim Komfort sollte man die Erwartungen aber nicht zu hoch schrauben. Das trifft besonders auf die 890er Adventure R zu. Ziemlich harte Sitzbank, straffes Fahrwerks-Setting und ihre Mitas-Enduro-Trail-Reifen mit der Eigendämpfung von durchgetrocknetem Eichenholz fordern das Gesäß mehr, als ihm in den meisten Fällen lieb ist.
Mehr Sport statt Sofa-Geborgenheit
Pirellis Rally STR mit mehr Eigendämpfung und vor allem ein Fahrwerk, das auch bei touristischem Sightseeing die Schläge des Untergrunds wirkungsvoll vom Tuareg-Piloten fernhält, garantieren auf der Aprilia ein viel entspannteres Ankommen auf der Passhöhe. Allerdings: An den Sitzkomfort, den die dicken Abenteuer-Bikes wie BMWs GS oder Ducatis Multi V4 bieten, reichen beide nicht heran. Bei ihnen sticht der unbedingte Willen, auch sportlichen Ansprüchen im Unbefestigten genügen zu wollen, den Aspekt ultrabequemes Reisen ein gutes Stück weit aus. Sofa-Geborgenheit wie zu Hause? Da kommen beide nicht heran.
Das gilt besonders für die KTM. Das Fahrwerk der Adventure R, obschon voll einstellbar, nähert sich jedem Ausbügelwunsch unnachgiebiger Teerkanten von der harten Seite. So sensibel wie ein Elefant im Unterholz gleitet sie übers Asphaltflickwerk. Selbst weites Öffnen der Dämpfung ändert daran wenig. Erst bei zackigem Tempo passt das Grundsetting besser zum Speed. Aber wer will das schon? Alles das erledigt die Tuareg geschmeidiger. Mit dem sanften Pfotenabdruck einer Wildkatze tastet sie sich über den Untergrund, nutzt gekonnt die 240 Millimeter Federweg, die sie wie die KTM vorn und hinten bietet. Und das, ohne bei verschärfter Fahrweise ins Straucheln zu geraten. Eine passende Endprogression erstickt alle Schaukelansätze im Keim.
Motoren im Vergleich
Beim Thema Motor schwenkt das Pendel, das gerade noch so eindeutig Richtung Italien zeigte, aber schnell gen Österreich. Der Twin der Tuareg mit seinem 659 Kubik stammt im Grundsatz von der RS 660 (100 PS) und der Tuono 660 (95 PS) ab. In der Enduro hat Aprilia ihn auf 80 PS beschnitten, dafür die Umgangsformen noch einmal mit Feenstaub überschüttet. Mustergültig weich hängt der Zweizylinder unten, in der Mitte, oben am Gas, gibt jederzeit den willigen Spielgefährten. Das fühlt sich richtig gut an. Im Vergleich zur KTM und zu vielen anderen Bikes des Alpen-Masters 2023 liegen die Durchzugswerte bergauf und in großer Höhe aber klar im hinteren Drittel des gesamten Testfelds. Erst wenn die Drehzahlmessernadel die Marke 5.000 überschritten hat, entwickelt die Aprilia nachdrücklichen Schub. Nur, wer stürmt so um Erste-Gang-Kehren? Dazu arbeitet das Getriebe wie ein Fest für Grobmotoriker. Bitte treten und ziehen sie beherzt und mit viel Kraft am Fußschalthebel für Gangwechsel. Ansonsten flutscht da nichts.
Anders bei der KTM: Per Blipper hüpft die 890er so schnell und mit relativ sanftem Druck auf den Schalthebel im Getriebe hin und her, dass Gangwechsel fast zur reinen Freude ausarten. Und dann ist da noch der KTM-Motor. Ganz unten, so zwischen Leerlaufdrehzahl und 2.500/min, hält sich seine Begeisterung für Rundlauf noch in Grenzen, darüber reagiert der 889-Kubik-Zweizylinder aber sehr manierlich auf alle Wünsche der rechten Hand und schwingt sich zu Fahrleistungen auf, die aller Ehren wert sind. Egal, ob steile Rampe mit Druck von unten, kurz mal Vollgas oder zügiges Überholen: Die KTM marschiert immer mustergültig kräftig voran.
Ausstattung, Gepäcktransport, Bremsen
Eine lange Nase zeigt sie der Aprilia auch beim Thema Ausstattung. Der einstellbare Lenker ist ein dickes Pfund, zudem vergisst sie selbst Kleinigkeiten wie ein angemessenes Bordwerkzeug oder links wie rechts justierbare Handhebel nicht. Muss Gepäck mit, liefern ihre breiten Soziushaltebügel und der Heckträger die passenden Argumente für sicheres Verzurren. Bei der Aprilia steht achtern die Optik im Fokus. Das sieht gut aus, für Transportaufgaben eignet sie sich dadurch aber schlechter.
So geht’s weiter mit vielen Kleinigkeiten, die die kernige KTM schlussendlich unter Alltagsaspekten weit vor der Aprilia platzieren. Eng wird’s nochmals beim Thema Bremsen, bei dem sich beide trotz ihrer Grobstöller keine Blöße geben. So gewinnt die durch und durch gutmütige Aprilia den Platz im Herzen beim Vergleich der Mittelklasse-Reiseenduros, die KTM eilt trotz des straffen Fahrwerks mit ihrem Motor, viel Ausstattung und feinen Alltagstugenden punktemäßig aber an ihr vorbei.