Royal Enfield Interceptor INT 650 im 50.000-km-Dauertest

Royal Enfield Interceptor INT 650 im Dauertest
Abschlussbilanz nach 50.000 Kilometer

Zuletzt aktualisiert am 23.01.2023

Es war ein bemerkenswerter Einstand. Zum einen, weil die Royal-Enfield-Mannen selbstbewusst mit breiter Brust ohne langes Fackeln eine Dauertest-Interceptor-650 zur Verfügung stellten. Zweifel an der Robustheit der Neukonstruktion hatten sie offenbar nicht im Geringsten. So manch etablierter Hersteller ist da deutlich zimperlicher, wenn es um ein taufrisches Motorrad für den MOTORRAD-Dauertest geht, und warten lieber ein Jahr Erprobung in Kundenhand ab. Zum anderen waren wir beeindruckt, weil die Royal Enfield Interceptor 650 die erste Dauertest-Hälfte in zuverlässiger Manier abspulte und selbst zwei durchgefahrene Winter und dann zwei Drittel der Testdistanz klaglos wegsteckte. Sie scheute vollgepackte Urlaubsfahrten ebenso wenig wie den drögen Arbeitsweg bei jedem Wetter. Wurde auch mal sportlich rangenommen und ertrug alles mit stoischer Ruhe. Womit die Enfield bis hierhin ihren Erbauern recht gab. Eigentlich.

Aber der Reihe nach. Sparsamer Umgang mit Benzin, stete Einsatzbereitschaft, dazu das freundliche Wesen mit breitbandigem Motor, unkompliziertem Fahrwerk und gutturalem Auspuffblubbern – die Enfield sammelte Lob und Pluspunkte am laufenden Band. Getrübt nur durch den bis zur Testmitte nötigen Austausch von Kupplungs- und Gaszug. Und der hinteren Radlager. Daneben scheint auch Feuchtigkeit ein Thema zu sein.

Beschlagene Armaturen

Notizen zu beschlagenen Armaturen finden sich nicht nur im Fahrtenbuch, sondern auch bei den Leserzuschriften. Dazu verweigerten kurzfristig mal der Blinkerschalter und der Starterknopf den Dienst. Was nach einer kurzen Reinigung aber behoben war. Beim angelaufenen Reflektor allerdings half bei Kilometer 43.824 nur der Austausch. Möglicherweise hat bei der Auswahl der Zulieferer der Rotstift etwas zu sehr die Feder geführt.

Nicht vollständig abstellen ließ sich die latent vorhandene Shimmy-Neigung um 80 km/h. Wenngleich eine Hand am Lenker stets genügte, um den Lenker zu beruhigen. Offenbar reagiert die Enfield – vor allem mit zunehmender Laufleistung – äußerst sensibel auf den Zustand von Reifen, Lenkkopflager und Gabel. Nachdem das eingelaufene Lenkkopflager bei Kilometerstand 35.715 getauscht wurde, herrschte zunächst wieder Ruhe an der Shimmy-Front. Und mit frischen Bremssätteln, die im Rahmen einer Rückrufaktion getauscht wurden, ging das Kilometerfressen munter weiter.

Auf der Zielgeraden allerdings schien die Ennie dann doch ein kleines bisschen ins Straucheln zu kommen. Das lag weniger am eingefrorenen Kupplungszug. Auch nicht am erneut gerissenen Schließer-Gaszug. Aber nach dessen Austausch in der heimischen Werkstatt wollte der 650er partout nur noch auf einem Zylinder laufen. Ratlose Gesichter beim Autor und Werkstatt-Chef Gerry Wagner, das Reinigen des Kraftstoffsystems beim Händler erweckte beide Zylinder wieder zum Leben. Aber kurz darauf ereilte dann ein heutzutage fast schon exotisch anmutender Defekt den Twin. Die Zylinderfußdichtung war offensichtlich durch, deutliche "Schweißflecken" ließen keinen Zweifel.

Nur noch 40 von 48 PS nach 50.000 km

Der Austausch mit 460 Euro hielt sich jedoch noch im Rahmen. So aufgepäppelt ging sie mit Kollege Stefan Glück auf die finale Urlaubsfahrt. In deren Verlauf die Ladekontrollleuchte ein Problem meldete. Das Nachmessen attestierte der Lichtmaschine aber tadellose Stromlieferung. Nach Reinigung der Batteriepole gab die Batterieleuchte wieder Ruhe. So hätte die Urlaubsfahrt in Ruhe zu Ende gehen können. Doch mit zunehmender Dauer schwante Kollege Glück, dass der Enfield irgendwo Leistung abhandengekommen sein musste. Bei hohen Drehzahlen wirkte die Inderin müde und lustlos. Lief aber ansonsten tadellos. Ohne außerplanmäßige Vibrationen, mechanische Geräusche oder Durst, zog von unten klaglos durch, sprang willig an.

Große Augen dann bei der abschließenden Leistungsmessung. Die Kurve, die der Prüfstand ausspuckte, deckte sich vollständig mit der gefühlten Performance. Sie entsprach bis 5.000/min jener bei Testbeginn, um dann deutlich abzuflachen. So fanden sich von den ursprünglichen 48 Pferden bei der Abschlussmessung nur noch 40 ein.

Nockenwelle um einen Zahn verdreht eingebaut

Nochmal Ratlosigkeit allenthalben, zumal neben den normal gebliebenen Umgangsformen auch die Kompressionsmessung keine Anzeichen auf einen Defekt lieferte. Das Zerlegen versprach Hochspannung, was würde beim Öffnen des Motors wohl zutage treten?
Des Rätsels Lösung fand sich rasch. Offenbar hatte die Werkstatt beim Tausch der Zylinderfußdichtung die Nockenwelle um einen Zahn verdreht eingebaut, wodurch die Steuerzeiten nicht mehr genau passten. Klingt kurios, ist aber kein Einzelfall, vor vier Jahren machte die Dauertest-Yamaha-R1 nach der 40.000er-Inspektion ebenfalls mit merklichem Leistungsverlust auf sich aufmerksam. Hier war nach der Inspektion ebenfalls die Nockenwelle um einen Zahn verdreht eingebaut worden. Der hochgezüchtete Yamaha-Motor hat es seinerzeit klaglos überstanden.

Und der Enfield-Twin ebenso. Mehr noch: Die Innereien präsentieren sich nahezu ausnahmslos in prächtigem Zustand. Die Haupt- und Pleuellager zeigen lediglich normale Laufspuren – vernachlässigbar. Die Zahnflanke der Getrieberäder? Unbeeindruckt von der Laufdistanz. Gleiches gilt für ihre Schaltklauen. Und die Schaltgabeln sehen fast wie neu aus. Sie zeigen noch nicht einmal hauchzarte Anlaufspuren.

Royal Enfield Interceptor 650 mit Anti-Hopping-Kupplung

Falls es in vergangenen Tests noch nicht Erwähnung fand: Die Enfield besitzt eine Anti-Hopping-Kupplung, und die sieht – der geneigte Leser ahnt es bereits – tadellos aus. Minimale Rattermarken am Korb, die Rampen der Nabe ohne nennenswerte Druckstellen, Lamellen und Federn maßhaltig und ohne Verzug. Und so geht der Rundgang durch die Motorinnereien in ähnlicher Weise weiter.

Die Lagerzapfen der 270-Grad-Kurbelwellen haben sich ebenso schadlos gehalten wie die Zylinderlaufbahnen und die Kolben. Nur minimale Ölkohleablagerungen auf Ventiltellern, Kolbenböden und in den Brennräumen zeugen von sauberer Verbrennung. Der Ölverbrauch war ohnehin praktisch nicht der Rede wert, lediglich ein Liter musste über die gesamte 50 000-km-Testdistanz nachgefüllt werden. Auch die Ventilsitze erfreuen, weil frei von Brandmarken, wenngleich drei Ventile bei der abschließenden Dichtigkeitsprüfung geringfügig undicht waren.

Dass sich Ölpumpe und der Ventiltrieb, sprich Nockenwelle und die gegabelten Rollenkipphebel, da nahtlos in das gute Bild einfügen, sei der Vollständigkeit halber auch noch erwähnt. Und selbst die Schiene des Steuerkettenspanners zeigt verblüffend geringe Abnutzung.

Lediglich die erneuerte Zylinderfußdichtung, die verblüffenderweise in die Ölkanäle um die Stehbolzen hineinragt, sorgt für einen Misston, weil so die Möglichkeit besteht, dass sich Dichtungsteile lösen und in den Ölkreislauf gelangen können. Einzig wirklich messbarer Verschleiß fand sich an den Kolbenbolzen, deren Spiel geringfügig über der Verschleißgrenze liegt. Ohne jedoch, dass das mit erhöhten mechanischen Geräuschen einhergegangen wäre.

Bemerkenswerter Reifegrad und außerordentliche Robustheit

So kann dem Motor abschließend bereits zum Produktionsbeginn ein bemerkenswerter Reifegrad und außerordentliche Robustheit bescheinigt werden. Wobei er freilich mit 48 PS aus 650 cm³ alles andere als hochgezüchtet ist. Dennoch eine reife Leistung. Umso ärgerlicher, dass diese durch eingangs erwähnte Defekte wie Rad- und Lenkkopflager oder beschlagene Instrumente ein wenig getrübt wird.

Unsere Erfahrungen decken sich übrigens fast punktgenau mit den ziemlich zahlreich eingegangenen Lesererfahrungen. Auch dort finden sich vereinzelt Bemerkungen zu beschlagenen Instrumenten, wesentlich häufiger Klagen über die zu harte Sitzbank, vor allem aber unisono begeisterte Kommentare zum geringen Verbrauch, der Zuverlässigkeit und Unkompliziertheit und ganz klar dem Gute-Laune-Aroma, das die Enfield verströmt und damit sogar immer wieder wohlwollende Reaktionen bei Passanten auslöst.
Mit ausgesprochen genügsamen Trinksitten – im Schnitt verfeuerte unsere Ennie 4,2 Liter – ließ sie sich entsprechend alltagsorientiert mit weniger als vier Litern bewegen. Trotz zusätzlich fürsorglichem Umgang mit Reifen und Kette holt sich die Interceptor im Kostenkapitel dennoch keine Eins mit Sternchen ab. Grund sind die unzeitgemäß kurzen 5000er-Wartungsintervalle. Ein Ölwechsel wird zwar nur alle 10.000 Kilometer fällig. Doch zu diesen Wartungen, die sich im Schnitt auf 500 bis 600 Euro beliefen, addieren sich eben noch mal alle 5.000 km rund 170 Euro für den kleinen Wartungsdienst. Was die Kosten pro Kilometer (ohne Spritverbrauch) dann halt letzten Endes nicht nur gefühlt unnötig hebt.

Sei’s drum, unterm Strich könnte man sagen, zusammenbauen und weiterfahren – und einfach unkomplizierten Spaß haben. Der MOTORRAD-Dauertest belegt damit: ein bemerkenswerter Einstand. Wir werden die Interceptor vermissen. Aber vielleicht findet mal wieder eine Enfield den Weg zu uns in den Fuhrpark, am liebsten mit etwas mehr Hubraum und Punch. Träumen darf man ja.

Kompressionswerte

Royal Enfield Interceptor INT 650 Dauertest
MOTORRAD
  • Kompressionsmessung: Übertrifft geringfügig die Eingangsmessung.
  • Zylinder/Kolben: Sowohl die Zylinder als auch die Kolben zeigen nur geringfügige Laufspuren und sehen tadellos aus. Das Kolbenbolzenspiel liegt leicht über der Verschleißgrenze.
  • Kurbeltrieb: Sowohl die Lagerzapfen von Kurbelwelle und Pleuel sowie Pleuel- und Kurbelwellenhauptlager sind maßhaltig. Die Lager zeigen nur minimalen Abtrag und normale Laufspuren.
  • Kraftübertragung: Kein Pitting, kaum Gebrauchsspuren, das Getriebe ist in tadellosem Zustand, die Ölpumpe frei von den sonst üblichen Kratzern, die Schaltgabeln in tadellosem Zustand. Das Kupplungslamellen-Paket ist maßhaltig, Kupplungskorb und -nabe mit nur leichten Gebrauchsspuren.
  • Ventiltrieb: Drei Ventile zeigen eine nur geringfügige Undichtigkeit bei der abschließenden Dichtigkeitsprüfung. Die Ventilsitze sind gleichmäßig und optisch einwandfrei, nur geringe Verbrennungsrückstände auf den Ventiltellern. Ein Ventil klemmte wegen einer Macke am oberen Ende des Ventilschafts beim Ausbau. Diese dürfte eventuell beim Einbau und nicht beim Fahrbetrieb entstanden sein. Eine Beeinträchtigung der Funktion beim Betrieb wird ausgeschlossen. Nocken und Nockenwelle weisen kaum Laufspuren auf.

Messwerte Royal Enfield Interceptor 650

Royal Enfield Interceptor INT 650 Dauertest
MOTORRAD

Ohne messbaren Leistungsverlust verläuft die Abschlusskurve bis 5.000/min deckungsgleich zur Eingangsmessung. Der dann folgende Abfall ist der um einen Zahn versetzt eingebauten Nockenwelle geschuldet. Was man dem Motor nun nicht wirklich anlasten kann. So wie sich die Motorinnereien präsentiert haben, darf man davon ausgehen, dass der Motor wohl seine Ausgangsleistung erzielt hätte.

Dauertest-Notizen Royal Enfield Interceptor 650

Kilometerstand: 46.400 – undichte Fußdichtung

Kilometerstand 45.206 – geniales Pendlermobil

Kilometerstand 44.800 – Schon wieder die Bremse

Kilometerstand: 42.300 – Schwimmsattel hing fest

Kilometerstand: 34.800 – Blinkerschalter, Kupplungszug, Shimmy

Kilometerstand: 34.105 – Kondenswasser im Tacho

Kilometerstand: 20.500 – kleine Spaßperle

Kilometerstand: 16.280 – Kupplungszug angefroren

Kilometerstand: 15.750 – Winter-Prüfung

Kilometerstand: 13.502 – Motorradfahren kann so einfach sein

Kilometerstand: 9.879 – mitreißende Entschleunigung

Kilometerstand: 9.400 – lästiger Tankdeckel

Kilometerstand: 4.930 – Geduldsprobe für den Hintern

Kilometerstand: 2.650 – angenehm und problemlos

Kilometerstand: 2.000 – problemloser Kaltstart

Royal Enfield nimmt Stellung …

… zum Kolbenbolzenspiel:
Das hat uns überrascht, da wir das während unserer Langzeiterprobung genau überwacht haben und das auch nach höherer Laufleistung als im Dauertest nicht begegnet ist. Genaueres können wir erst nach einer Untersuchung der Teile im Werk sagen, würden die Teile aber, da der Motor zerlegt ist, vor dem Zusammenbau tauschen.

… zu den beschlagenen Instrumenten:
Dieses Problem ist uns von der ersten Serie auch von Kundenhand bekannt. Im Laufe der Serienproduktion wurden Belüftung und auch die Beschichtung im Inneren der Instrumente verbessert und dieses Problem beseitigt.

Royal Enfield Interceptor INT 650 Dauertest
Andreas Bildl

… zur defekten Zylinderfußdichtung:
Ein sehr außergewöhnlicher Defekt. In der gesamten EU wurden nur für 0,09 Prozent der Maschinen Dichtungen angefragt, und hierin sind Umbauten, Customizing und Motor-Upgrades enthalten. Für eine genauere Erklärung wäre eine genaue Untersuchung der defekten Dichtung nötig.

… zu der als hart kritisierten Sitzbank:
Mit den ergonomischen Komponenten unserer Maschinen versuchen wir eine gute Balance zwischen dem Style und den funktionellen Ansprüchen unserer Kunden weltweit zu treffen.

… zum defekten Lenkkopflager:
Hierzu sind uns keine Probleme seitens der Kunden bekannt. Für eine genauere Erklärung müssen wir die defekten Teile eingehend untersuchen.

… zu den kurzen Inspektionsintervallen:
Die Intervalle beruhen auf konservativen Annahmen in Bezug auf Ölservice und -verbrauch. Da heutzutage weniger Fahrer ihr Motorrad daheim warten, wollen wir mit den Intervallen die regelmäßige Wartung und damit Qualität und Langlebigkeit sicherstellen. Zumal der 650er ein ganz neu entwickelter Antrieb ist und wir auf diese Weise auch über Rückmeldungen der Händler etwaige Probleme rascher erkennen und abstellen können

.… zum defekten hinteren Radlager:
Hier gilt im Grunde das Gleiche wie für das Lenkkopflager.

… zum Shimmy:
Es gab eine geringe Anzahl von Fällen, für die wir eine Reihe verschiedener Ursachen festgestellt haben. Teils lag es an nicht korrekt gewuchteten Reifen, nicht exakt zentrierten oder nach dem Kettespannen ungenau ausgerichteten Rädern.