"Zur Verbesserung der Langzeitqualität", so die offizielle Formulierung von BMW Motorrad, werden die Vertragswerkstätten derzeit für eine sehr umfangreiche Service-Aktion vorbereitet: Bei insgesamt 440.000 Motorrädern weltweit soll im Laufe der nächsten Monate, idealerweise im Rahmen der planmäßigen Inspektionstermine, der Kardan überprüft werden. Davon 72.000 allein in Deutschland. Die Aktion betrifft in erster Linie das wichtigste Modell von BMW: die Boxer-GS. Konkret die R 1250 GS sowie die R 1200 GS ab Baujahr 2013, beide Typ K50, sowie die jeweiligen Adventure-Varianten, Typ K51. Hinzu kommt noch die Behördenausführung RT, Typ K52.
Kreuzgelenk, Knickwinkel, Korrosion
Hintergrund laut BMW, aus einer Mitteilung an die Händler: "Serviceaktion beim nächsten Werkstattaufenthalt – Drainage in Schwinge nachrüsten und Kardanwelle prüfen. An der Kardanwelle treten gelegentlich Beschädigungen auf, die die Funktion des Antriebs beeinträchtigen. In einzelnen Fällen kann der Vortrieb verloren gehen. Zur Schadensentstehung tragen mehrere Faktoren bei. Eine Rolle spielen unter anderem Korrosionseffekte, sofern sie an funktional relevanten Stellen auftreten. Laufzeitbedingte Verschleißerscheinungen oder besondere klimatische und dynamische Belastungen können ebenfalls zu Bauteilschäden führen. Diese Effekte können durch die geometrische Fahrwerksauslegung (Knickwinkel der Kreuzgelenke in der Schwinge) verstärkt werden."
R 1200 GS, R 1250 GS und Behörden-RT
Offenbar ist bei der Boxer-GS ab Baujahr 2013 (mit wassergekühltem Motor) sowie bei R 1200 RT und R 1250 RT in Behördenausführung eine auffällige Häufung von Kardan-Defekten festgestellt worden. Bei der GS wird der Kardan konzeptbedingt stärker beansprucht, wegen des längeren Federwegs und des damit zusammenhängenden Knickwinkels zwischen Kardantunnel und Hinterachsgetriebe. An dieser Stelle befindet sich das hintere Kreuzgelenk des Kardans. Hinzu kommt, je nach Nutzer, mehr oder weniger harter Enduro-Einsatz. Auf jeden Fall überdurchschnittlich strapaziert werden die Behörden-RT, etwa beim Überfahren hoher Bordsteine.
Kardan-Check mit Spezialgerät
Damit der Kardan nicht bei allen 440.000 betreffenden Motorrädern geöffnet werden muss, soll jede Vertragswerkstatt ein spezielles Prüfgerät bekommen. Anstelle des Hinterrads wird eine Messscheibe montiert, und dann wird der Kardan über die Hinterachse im Leerlauf geschleppt, also gedreht. Dieser Belastungstest läuft über verschiedene Lastwechsel und Drehzahlen, dabei überwachen Sensoren die Kräfte und Schwingungen. Bleibt alles im vordefinierten Normbereich, gilt der überprüfte Kardan als "in Ordnung". Bei irgendwelchen Auffälligkeiten wird genauer hin-, beziehungsweise hineingeschaut. Insbesondere auf das Kreuzgelenk mit seinen insgesamt vier Wälzlagern, aber auch die Verzahnung zum Hinterachsgetriebe wird auf Rostbefall und Schäden untersucht. Sollten daraufhin Teile erneuert werden müssen, können betroffene Besitzer nach Ablauf der inzwischen dreijährigen Gewährleistungszeit bei BMW auf eine kulante Abwicklung hoffen, je nach Alter und Verschleißzustand des Fahrzeugs.
Entlüftungsbohrung mit Schnabelventil
Grundsätzlich wird bei dieser Service-Aktion eine Entlüftung am Kardantunnel nachgerüstet. Hierzu wird an der Unterseite im hinteren Bereich, in der Nähe des Kreuzgelenks, mithilfe einer vorbereiteten Schablone ein kleines Loch gebohrt. Um die Bildung von potenziell schädlichen Metallspänen zu vermeiden, soll der Bohrer zuvor geschmiert werden. In dieses Loch wird dann mit einer Art Piercing-Werkzeug ein sogenanntes Schnabelventil aus Gummi eingesetzt. Dieses Spezialventil soll das Loch nach außen hin abdichten, aber das Entweichen von Luft und vor allem von Feuchtigkeit aus dem Kardantunnel ermöglichen. Unterstützt wird diese Entlüftung von den Pumpbewegungen beim Ein- und Ausfedern. Falls direkt nach dem Bohren Wasser ausläuft, ist auch das ein Grund, um den Kardan genauer zu inspizieren.
45 Minuten pro Motorrad
Für den Kardan-Check mitsamt Nachrüsten der Entlüftung sind insgesamt 45 Minuten vorgesehen. Selbstverständlich ist diese Aktion kostenlos – zumindest für die Kunden, bei BMW wird einiges an Kosten anfallen.
Kardan-Entlüftung inzwischen in Serie
Bereits seit Oktober 2021 werden die Paralever-Einarmschwingen der BMW R 1250 GS und R 1250 GS Adventure ab Werk mit Entlüftung versehen. Seit November 2021 vorsorglich auch die Schwingen aller anderen Modelle mit Paralever und Kardan. Dabei kommt zusätzlich ein zweites Schnabelventil im vorderen Bereich der Schwingenlagerung zum Einsatz, damit kann der Kardan noch besser Kondensfeuchtigkeit ausatmen. Im Fall von Wassereintritt durch undichte Stellen und/oder Hochdruckreinigermisshandlung stehen zumindest die Chancen fürs Trocknen günstiger und somit für die Rostbildung ungünstiger.
Fazit
BMW lässt vorsorglich bei 440.000 Motorrädern den Kardan überprüfen und eine Entlüftung nachrüsten. Besser ist das – und kein Grund zur Panik. Betroffene Besitzer müssen nicht sofort zur Werkstatt fahren, sie können ihren nächsten Termin abwarten.