Beim Blick in die Bestandserfassung des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) für das Gesamtjahr 2022 wird die Kawasaki VN 800 mit einem Bestand von 10.516 Stück geführt. Und dabei werden nur die zugelassenen Fahrzeuge gezählt, nicht die abgemeldeten Standuhren, die irgendwo im Dunkeln vor sich hin vegetieren. Doch wo sind die Kawa-Cruiser im Straßenbild? Wir wissen es nicht.
Kawasaki VN 800 als technisch unauffällige Dauerläufer
Was wir wissen: Die Kawasaki VN 800 hat es ganz und gar nicht verdient, auf dem Seitenständer zu versauern. Denn Gespräche mit Gebraucht- und Kawasaki-Händlern im Rahmen unserer Recherche förderten eines klar zutage: Die Kawasaki VN 800-Modelle sind technisch absolut unauffällige Dauerläufer. Ingo Heller von der Kawasaki-Verkaufsstelle Soltau und Heller in Michaelisdonn würde sogar eine gepflegte VN des letzten Jahrtausends ankaufen, da er um die hohe Qualität der Cruising-Kawa weiß.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Händler würde ein weit über 20 Jahre altes Motorrad ankaufen, obwohl er beim Weiterverkauf Gewährleistung auf eventuelle Mängel geben muss! Lauter können die Lobeshymnen gar nicht gesungen werden. Sind wir somit bereits auf Seite eins der Gebrauchtberatung am Ende angelangt? Technisch gesehen schon, denn außer einem Rückruf der Basismodelle 1995 wegen schlecht gehärteter Kettenschlösser gibt es offiziell nichts Schlechtes zu berichten. Im selben Jahrgang kam es auch bei vereinzelten Fahrzeugen zu Defekten am Ruckdämpfer der Ausgleichswelle, der seinen Geist aufgab. Ansonsten war nichts.
Modellvarianten der Kawasaki VN 800
Wenden wir uns also den Modellvarianten zu. Der Startschuss fiel 1995 mit der Kawasaki VN 800 (Typ VN 800-A) mit 21-Zoll-Vorderrad. Direkt im Jahr darauf folgte die hier groß gezeigte VN 800 Classic (Typ VN 800-B) mit dem augenscheinlich deutlich kleineren 16-Zöller an der Vorderhand. Damit wandelte sich die VN zum Cruiser und wurde lange von bösen Zungen als "Fat Boy des kleinen Mannes" diffamiert. Doch den scherte das wenig, denn die Verkaufszahlen und somit die Akzeptanz beim Volk waren hervorragend.
Neben dem kleinen Vorderrad unterschied sich die Kawasaki VN 800 Classic von der VN 800 Standard weiter durch größer dimensionierte Schutzbleche. Vor allem vorne hat das den Langzeitvorteil, dass der Wasserkühler des Motors viel weniger Steinchen und Straßenschmutz abbekommt. Zudem wurde 1997 bei den Chopper-Modellen der erste und zweite Gang länger übersetzt und die Sekundärübersetzung etwas gekürzt.
Kawasaki VN 800-C: letzte Variante der Modellfamilie
1999 betrat mit der Drifter (VN 800-C) die dritte und letzte Variante der Modellfamilie die Bühne der Welt. Sie lehnte sich optisch an die Indians der 40er-Jahre an, ohne dabei die im Kern guten Kawasaki VN 800- Qualitäten zu beeinträchtigen. Der Wandel von der Classic zur Drifter vollzog sich hauptsächlich in Formensprache und Design. Extrem tief gezogene, mächtige Schutzbleche – besser: Radabdeckungen – aus Kunststoff, eine Scheiben- statt Trommelbremse hinten, eine geänderte Auspuffanlage, eine neue Sitzbank sowie deutlich geänderte Lampe, Tank, Gabel und Felgen in markantem Schwarz seien hier als Hauptmerkmale erwähnt. Ein Dreier-Gespann kam dennoch nicht zustande, da just mit dem Erscheinen der Drifter die VN-Urversion aus dem Kawasaki-Programm fiel.
Kawasaki VN 800 mit ausgewogenem Fahrverhalten
Weitere zwei Jahre später streichelte eine kleine Modellpflege die Kawasaki VN 800. Die Drifter wurde nun VN 800-E genannt und erhielt einen geänderten Tankdeckel sowie ein neues Schließsystem. So blieb es dann bis 2005, letztes offizielles Baujahr der Kawasaki VN 800 in Deutschland. Und sonst so? Ach so, der Fahreindruck! Tja der, der war … Lassen Sie mich im Archiv graben, denn eine Kawasaki VN 800 befand sich beim Verfassen dieser Zeilen leider nicht im Zugriff des Autors.
In Ausgabe 22/2021 adelt Zonko die Kawasaki VN 800 Classic mit einer "Zeitmaschine". Er schwärmt von der überzeugenden Optik, dem ausgewogenen Fahrverhalten und dem relaxten Fahrgefühl, das die VN zu erzeugen vermag. Sie schafft es, den zornigen Landstraßen-Daherbrenner zu erden, wie eine Valium-Tablette. Natürlich im angenehmen Sinne und gänzlich ohne Nebenwirkungen. Völlig unerwähnt bleibt das doch recht hohe Gesamtgewicht von 256 Kilogramm, dafür findet die niedrige Sitzhöhe des sehr bequemen Fahrerplatzes lobende Erwähnung, womit dieser in starkem Kontrast zum Soziusplätzchen steht.
Treuer und individueller Begleiter
In einem Vergleichstest 1997 zog die Kawasaki VN 800 Classic gegen die damals neue Honda VT 750 C2 mit Beinamen Shadow knapp den Kürzeren. An ihrem Vau-Zwei lag es nicht, denn der war 12 PS stärker und kredenzte deutlich mehr Drehmoment als die Honda. Interessant dabei, dass der Vergasermotor mit 800 Kubik bei Dauertempo 100 km/h unter vier Liter auf 100 Kilometer verköstigte. In Summe warfen die damaligen Tester der Kawasaki VN 800 fehlende Eigenständigkeit und eine leichte, nennen wir es emotionale Blässe vor.
Und heute? Die großen Zeiten der Chopper, Cruiser, Langgabler sowie der echten und Möchtegern-Highway-Rebellen ist vorbei. Und damit auch die Zeit von starken Charakteren, denn moderne Bikes sind oftmals Derivate aus einem dem Kostenapparat geschuldeten Baukasten und somit deutlich weniger eigenständig als die echten Kerle von damals. Wer also Lust auf einen absolut treuen, individuellen Begleiter hat, der kann sich die Kawasaki VN 800 als Classic oder Drifter ja mal genauer anschauen. Technisch wird ihn der Cruiser nicht fallen lassen, sofern das Motorrad nicht an irgendwelchen Standschäden wie verharzten Vergasern oder vergammelten Lagern leidet. Zur serienmäßigen Zuverlässigkeit bieten die VN-Modelle dieses besondere Etwas, das nur Cruiser erzeugen: die sprichwörtliche, manchmal aber auch faktische Entdeckung der Langsamkeit.
VN 800 mit 173 km/h
In Zeiten von Internet, stetigen Online-Konferenzen und der eigentlich immer erwarteten Erreichbarkeit sicherlich nicht der schlechteste Gegenpol zum hektischen Alltag. Wenn man diese Coolness für wenig Geld, gepaart mit den Dauerläufereigenschaften einer Kawasaki VN 800 erreichen kann, warum dann nicht zugreifen? Man muss ja nicht direkt in den Easy-Rider-Modus mit Fransenjacke und lederner Schnürjeans verfallen und dem Nachbarn die Frau ausspannen. Es reicht ja fürs Erste, ganz entspannt eine Feierabendrunde zu drehen, das schöne Cockpit ohne Uhr oder Konnektivität zu betrachten und sich treiben zu lassen. Denken Sie daran, sogar der Altheizer Zonko erlag vor nicht allzu langer Zeit der VN.