Lenkwinkel vs. Nachlauf Praxistest: Was verändert das Handling wirklich?

Lenkwinkel vs. Nachlauf im Praxistest
Was verändert das Handling wirklich?

Veröffentlicht am 08.07.2025

Die theoretischen Begriffe Lenkachswinkel, Nachlauf und Eigenlenkverhalten haben wir hier ausführlich abgehandelt und stellen uns die Frage: Was spürt ein Fahrer denn nun in Handling und Eigenlenkverhalten seines Motorrads, wenn sich diese beiden Größen verändern?

Lenkachswinkel und Nachlauf im Praxistest variieren

Um sie zu beantworten, wagen wir den Fahrversuch mit einer BMW S 1000 RR . Die Schwierigkeit: Wir wollen Lenkachswinkel und Nachlauf variieren, ohne dabei weitere relevante Parameter wie etwa die Schwerpunktlage nennenswert zu beeinflussen. Das erreichen wir durch Absenken der Front bei gleichzeitigem Anheben des Hecks und umgekehrt. Dadurch "drehen" wir das Motorrad um seine Querachse, was nur eine minimale Abweichung der Schwerpunktlage bewirkt.

Der weitere Versuchsaufbau

Ein Slalomparcours, bei dem die Pylonen in einer Linie mit 20 Metern Abstand zueinander angeordnet sind, wird mit einer konstanten Geschwindigkeit von 80 km/h (Kontrolle per Lichtschranke) durchfahren, um Lenkaufwand und Lenkverhalten des Motorrads bewerten zu können. Das Verhalten in Schräglage legt eine Kreisbahn mit 47 Metern Durchmesser offen.

Neben MOTORRAD-Top-Tester Karsten Schwers geht auch Stefan Nebel, Racer und Testfahrer, auf die Strecke und schildert im Anschluss seine Eindrücke. Abschließend versuchen wir, die Empfindungen der Tester mithilfe einer von Dirk Wisselmann durchgeführten Computersimulation der Fahrmanöver zu erklären.

Serienkonfiguration sorgt für angenehm neutrales Lenkverhalten

Wir beginnen mit der Serieneinstellung, also mit einem Lenkachswinkel von 65,1 Grad und einem Nachlauf von 106,1 Millimetern. Wie erwartet und bekannt zeigt die BMW S 1000 RR in dieser Konfiguration ein angenehm neutrales Lenkverhalten. Unter den Versuchsfahrern herrscht Einigkeit: Die Doppel-R lässt sich ohne Korrekturen präzise zwischen den Pylonen durchwedeln.

Jetzt wird’s interessant: Wir verringern den Lenkwinkel um ein Grad (auf 64,1 Grad, Nachlauf 115,8 Millimeter) und führen das identische Fahrmanöver nochmals durch. Der Stammtisch-Weisheit entsprechend sollte das Bike nun "unhandlicher" geworden sein.

Doch was tatsächlich passiert, bringt Stefan Nebel nach der Versuchsfahrt auf den Punkt: "Ich spüre, dass das Motorrad mir Vertrauen gibt, und werde dadurch automatisch agiler in meinen Bewegungen. Für mich ist das etwas stabilere Gefühl sogar etwas Gutes, ich bekomme Feedback vom Motorrad und kann es präzise dirigieren und vor allem sicher belasten. Der Kraftaufwand ist für mich aber nahezu identisch."

Wir halten also fest: Die BMW ist der Definition nach nicht wirklich unhandlicher geworden, dafür aber unaufgeregter.

Bedeutet das, sie wird durch Variation des Lenkachswinkels in Richtung steil auch nicht handlicher?

Heck anheben, Front absenken

Wir heben das Heck der BMW S 1000 RR an und senken die Front maximal ab. Im Ergebnis stellt sich so ein Lenkachswinkel von 66,8 Grad ein und ein Nachlauf von 99,4 Millimetern, mit dem die Testfahrer erneut den Slalom absolvieren.

Es herrscht Einigkeit: Die extreme Verschiebung der Geometrie-Daten lässt die BMW sowohl beim Umlegen im Slalom als auch beim konstanten Umrunden der Kreisbahn nervös wirken. Der Kraftaufwand für Schräglagenwechsel weicht isoliert betrachtet wiederum kaum ab, allerdings sind feinere Lenkbefehle erforderlich und stets auch leichte Korrekturen.

Motorrad reagiert direkter auf Lenkimpulse

Durch den kürzeren Nachlauf und den daraus resultierenden direkteren Hebel des Lenkers zum Radaufstandspunkt reagiert das Motorrad direkter auf Lenkimpulse. Das suggeriert subjektiv im ersten Moment eine gesteigerte Handlichkeit, führt aber auch zum "nervösen" Lenkverhalten.

Im Vergleich zu den flacheren Konfigurationen pendelt die BMW S 1000 RR nun nach dem Abwinkeln stärker und länger um die Lenkachse – und fühlt sich dadurch nicht mehr so stabil an. Wie aber in der Simulation des Fahrmanövers klar zu sehen ist, bleibt das im Slalom geforderte Lenkmoment quasi identisch. Wenn man ganz genau hinschaut, dann benötigt die BMW mit steilem Lenkwinkel und kurzem Nachlauf sogar eine Winzigkeit mehr Lenkmoment.

Das Simulationsmodell

Motorrad-Fahrtechnik-Serie Fahrdynamik - Teil 2
Dirk Wisselmann

Das hier bereitgestellte Simulationsmodell besteht aus acht Körpern (Vorder- und Hinterrad, Ober- und Unterteil der Telegabel, Chassis mit Motor, Schwinge und Fahrer, aufgeteilt in Unter- und Oberkörper), die über Gelenke miteinander verbunden sind, sich somit relativ zueinander bewegen können.

Das virtuelle Motorrad kann sich also genauso bewegen wie ein echtes auf der Straße. Damit es auch virtuell fährt, verfügt es über ein komplexes Reifenmodell und natürlich über die Feder- und Dämpferelemente der Radaufhängungen. Dazu kommen die Quer-, Längs- und Torsionssteifigkeit der Telegabel, die Torsionssteifigkeit des Rahmens und die Torsions- und Biegesteifigkeit der Schwinge (graue Pfeile).

Auch der Fahrer ist beweglich modelliert, und die Aerodynamik mit Luftwiderstands- und Auftriebskräften wird berücksichtigt. Die Ergebnisse der Simulation einer Slalomfahrt mit unterschiedlichen Lenkachswinkel-Nachlauf-Kombinationen zeigen die Abbildungen unten.

Steiler Lenkachswinkel mit kürzerem Nachlauf

Um das Motorrad umzulegen, muss in allen drei Lenkachswinkel-Konfigurationen nahezu die gleiche Kraft aufgebracht werden. Die minimalen Unterschiede der in der konstanten Slalomfahrt notwendigen Lenkmomente liegen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Fahrers und sind daher in der Praxis vernachlässigbar.

Damit ist klar, dass ein steiler Lenkachswinkel mit kürzerem Nachlauf nicht für mehr Handlichkeit sorgt. Trotzdem bleiben die beiden Kenngrößen wichtige Faktoren für das Fahrverhalten des Motorrads und haben darauf einen relevanten Einfluss, wie das untere Diagramm zeigt.

Motorrad-Fahrtechnik-Serie Fahrdynamik - Teil 2
Dirk Wisselmann

Betrachten wir nun genauer, wie sich das Motorrad mit den verschiedenen Lenkachswinkel-Konfigurationen in Schräglage verhält.

Das Diagramm zeigt den Verlauf des Lenkwinkels (also des Lenkeinschlags) über den Verlauf einer Kurve. Hier wird deutlich, dass die BMW mit steilem Lenkachswinkel ausgeprägter in Schräglage "pendelt" und sich deshalb nervöser anfühlt. Der flachere Lenkachswinkel hingegen sorgt für eine Dämpfung dieses Pendelns und damit Stabilität.

Wenn Testfahrer Stefan Nebel davon spricht, dass das Motorrad dem Fahrer mehr Sicherheit gibt, meint er genau dieses schwingungsarme und damit vertrauenerweckende Verhalten in Schräglage.