Der Kollege auf seiner Yamaha R1 im Beispieldiagramm unten braucht den himmlischen Retter jedenfalls gerade dringend. Ein Traktor kreuzt die Landstraße vor ihm in gut 50 Metern Entfernung. Die R1 kommt mit 100 km/h angerauscht, da müssten gut 40 Meter Bremsweg zu schaffen sein. Trotz schneller Reaktion vergehen aber allein 30 Meter, bis die eigentliche Bremsung beginnt. Mit viel Glück pfeift er knapp hinter dem Traktor vorbei.
fact
Vollbremsung - mehr als kräftig in die Eisen steigen. Anhalteweg aus 100 km/h mit einer Verzögerung von 9,4 m/sek².
Denn mit dem reinen Bremsweg ist es nicht getan. Üblicherweise dauert es 0,1 Sekunden, bis der Motorradfahrer die Gefahr überhaupt erkennt, und weitere 0,8 Sekunden, bis Hand und Fuß die Bremsen betätigen. In dieser knappen Zeit rollt das Motorrad schon beinahe 25 Meter dahin, und zwar ungebremst.
Nun drückt der Motorradfahrer mit aller Kraft zu. Den Handhebel betätigt er dabei mit etwa 140 N (zirka 14 Kilogramm), das Pedal mit rund 30 Kilogramm. Bei einer so starken Bremsung ohne ABS würde entweder das Vorderrad blockieren, was meist zum Sturz führt, oder das Hinterrad würde abheben und das Motorrad über kurz oder lang einen Salto vorwärts hinlegen.
Motorrad fahren gut und sicher: Kurventechnick, Blickführung, Fahrtipps
MOTORRAD
MOTORRAD
1/26
Auf Alpenpässen unterwegs? So läuft's!
MOTORRAD
2/26
Verführerisches Kurvengeschlängel mit Risiko. Der Straßenverlauf lässt sich zum Großteil nicht einsehen, weshalb unerwartet ein Auto oder Motorrad auftauchen kann – unangenehm bis gefährlich, wenn man die Kurven schneidet. Besser ist deshalb das sogenannte Hinterschneiden der Kurven, zumal man stets damit rechnen muss, dass ein Fahrer im Gegenverkehr die S-Kurve schneidet und im schlimmsten Fall auf der falschen Straßenseite daherkommt. Wenn wir dann selbst die Kurve geschnitten haben, stehen unsere Chancen denkbar schlecht.
MOTORRAD
3/26
Die klassische Kurve, die durch ihre Übersichtlichkeit eine fein zurechtgelegte Ideallinie und entsprechende Schräglagen erlaubt.Schneidet man die Kurve jedoch an (gestrichelte Linie), muss das Motorrad am Kurvenausgang die größte Schräglage fahren, will man nicht mit eventuellem Gegenverkehr auf Kollisionskurs gehen. Beim Hinterschneiden (durchgezogene Linie) liegt der Scheitelpunkt hingegen später (Pylone). Man sieht besser um die Kurve, und kann auch deshalb und auf der flacheren Linie deutlich früher wieder ans Gas gehen, was die etwas langsamere Kurvengeschwindigkeit mehr als wettmacht.
MOTORRAD
4/26
In Wechselkurven kommt der Vorteil des Hinterschneidens noch mehr zum Tragen, weil es der in der Rechtskurve spät gesetzte Scheitelpunkt erlaubt, die folgende Linkskurve von weit außen anzufahren. Den Fahrer auf der falschen Linie (gestrichelt) drängt es in Richtung Gegenfahrbahn, und er muss für die folgende Linkskurve von einer äußerst ungünstigen Position aus hart einlenken. Eine flüssige, runde Linie ist damit nicht zu machen.
MOTORRAD
5/26
Die drei Phasen einer Kurvenfahrt.
MOTORRAD
6/26
Rote Phase: Anpassungsbremsung vor dem Einlenken. Einlenken auf der Bremse ist kritisch, denn bei vielen, vor allem bei breit bereiften Maschinen entsteht ein Aufstellmoment.
MOTORRAD
7/26
Dabei wandert die Aufstandsfläche des Vorderreifens aus der Radmittenebene (siehe gelb gestrichelte Linie), und das Motorrad versucht, sich aufzurichten. Dieses Phänomen muss der Fahrer durch Gegenlenken ausgleichen. Bei unseren Fahrversuchen ergab sich eine nötige Gegenlenkkraft von bis zu 250 Newtonmetern bei zwölf Grad Schräglage.
MOTORRAD
8/26
Gelbe Phase: Schräglage in der Rollphase. In diesem Fahrzustand fallen die Umfangskräfte am Vorderrad sehr gering aus, während am Hinterrad je nach konstanter Geschwindigkeit die Antriebskraft einwirkt – bei 100 km/h zirka acht PS. Die Reifen können jetzt hohe Seitenkräfte übertragen und verkraften somit eine enorme Schräglage. Bei zu viel Schräglage verlieren die Reifen die Haftung, zuerst meist der schmalere Vorderreifen. Umgekehrt kann zu niedrige Kurvengeschwindigkeit zum Kippen führen; frühzeitiges leichtes Beschleunigen baut dem vor.
MOTORRAD
9/26
Grüne Phase: Beschleunigen aus der Schräglage heraus. Am Kurvenausgang wird sanft das Gas aufgezogen, wodurch sich das Motorrad aufrichtet und der Kurvenradius größer wird. Will man das Aufrichten vorantreiben, hilft ein zusätzlicher Druck am kurvenäußeren Ende des Lenkers. Je nach Beschleunigung wirkt eine mehr oder weniger starke Umfangskraft auf den Hinterreifen. Deshalb verkraftet er weniger Seitenkräfte und damit Schräglage als der Vorderreifen, der eine sichere Seitenführung in Schräglage garantiert.
Gargolov
10/26
Der Klassiker - In die Kurve legen: Fahrer und Maschine bilden in Schräglage eine Linie. Entweder mit festem Knieschluss oder locker-sportlich abgespreiztem Knie passt dieser Fahrstil für alle Arten von Kurven in jedem Tempo. Die Fahrtrichtung lässt sich sehr schnell korrigieren, aus dem Legen kann man in Wechselkurven nahtlos ins Drücken übergehen. Die entspannte Sitzhaltung verlangt wenig Kraft. Hier gut zu sehen: Der Fahrer neigt den Kopf, um seinen Blickhorizont möglichst gerade zu halten, der Blick geht Richtung Kurvenausgang.
Bilski
11/26
Drücken: Diese Kurventechnik stammt ursprünglich aus dem Geländesport. Der Fahrer bleibt dabei relativ aufrecht, das Motorrad wird mit dem Lenker nach unten gedrückt. Hüftknick und fester Knieschluss helfen. Das funktioniert gut in engen Kurven und Serpentinen, bei schnellen Kurswechseln oder Ausweichmanövern. Für Schotterstrecken und auf losem oder rutschigem Untergrund ideal, weil der Körperschwerpunkt eher über der Reifenaufstandsfläche liegt.
jkuenstle.de
12/26
Hanging-off: Dieser Fahrstil ist auf die Sitzposition und Fahrwerksgeometrie von Supersportlern abgestimmt und findet vor allem auf der Rennstrecke Anwendung, wo der weitere Streckenverlauf bekannt ist. Bei gleicher Kurvengeschwindigkeit verlangt er weniger Schräglage, dafür aber Kraft und viel Übung. Die Fotos zeigen, dass ein Motorrad in Schräglage, unabhängig vom Kurvenstil, wesentlich mehr Platz braucht als bei Geradeausfahrt, weshalb man in Linkskurven nie zu nah in die Fahrbahnmitte geraten sollte. Und rechtsherum lauern die Leitpfosten auf zu eng vorbeirauschende (Sportler-)Spiegel.
MOTORRAD
13/26
Diesen Fehler sollten Sie vermeiden.
MOTORRAD
14/26
Auch diesen Fehler gilt zu vermeiden: Zu hohe Anfangsgeschwindigkeit und Panikbremsung.
Streblow
15/26
Bergauf fällt die richtige Blickführung oftmals schwer. Auch beansprucht der Dreck am rechten Fahrbahnrand erst einmal die Aufmerksamkeit und lenkt somit den Blick auf sich.
Streblow
16/26
Nun heißt es „Kopf hoch“ und bergauf geschaut, ob Gegenverkehr kommt und wie die Straße wohl weitergeht. Wir sehen noch nicht, was erst das nächste Bild zeigt.
Streblow
17/26
Frühzeitiges Vorausschauen verhindert, dass uns der nun auftauchende Radfahrer erschreckt und lässt uns die folgende Rechtskehre rechtzeitig wahrnehmen.
Streblow
18/26
In Linkskurven wird die Fahrbahn schon mal richtig schmal. Denn, zu weit links fahrend kämen wir in den Gegenverkehr, und am rechten Fahrbahnrand liegen Laub, Rollsplit und anderer Unrat. In Schräglage sollte man sich hiervon tunlichst fernhalten.
MOTORRAD
19/26
Die Messwerte einer Honda CBR 600 F zeigen, wie sich unterschiedliche Straßenbeläge im Regen auf den Bremsweg und die mögliche Schräglage auswirken. Auf griffigem Rennstrecken-Asphalt fällt der Bremsweg kaum länger aus als auf trockener Piste. Auf der nassen Landstraße braucht der Sporttourer für eine Vollbremsung aus 100 km/h aber schon 77 Meter, bei schlechtem Belag sind es noch deutlich mehr. Zudem verringert sich die mögliche Schräglage drastisch.
MOTORRAD
MOTORRAD
21/26
Ein voll beladenes Motorrad ist langsamer und weniger durchzugsstark als eine Maschine, auf der nur der Fahrer sitzt. Eigentlich klar, doch im Eifer des Kurvengefechts auf der Landstraße vergisst man das schon mal, vor allem wenn die Tour zu zweit und mit Gepäck eher Ausnahme als Regel ist. Die beiden Beispiele oben zeigen anhand einer Suzuki GSX 1250 FA, dass das Überholen mit Beladung deutlich länger dauert. Dabei hat die Suzi immerhin 98 PS und bleibt relativ durchzugsstark; bei schwachen Motoren kann sich der Weg sogar verdoppeln.
MOTORRAD
22/26
Wichtig: Das Fahrwerk muss bei Beladung angepasst werden.
Bilski
23/26
Schräglage unter Beladung ist Schwerarbeit für den Hinterreifen. Wenn dann noch zu wenig Luft drin ist, kann sich das Heck der Maschine regelrecht aufschaukeln.
Bilski
24/26
Bei Beladung verändern sich Fahrleistungen und Bremsverhalten eines Motorrads. Da deutlich mehr Gewicht auf dem Hinterrad lastet als normal, wird das Vorderrad beim Beschleunigen leicht und hebt spürbar früher ab. Je nach Bereifung kann es zwischen 60 und 100 km/h verstärkt zu Lenkerflattern (Shimmy) kommen. Deshalb gilt: Mit Beladung nicht freihändig oder mit nur einer Hand am Lenker fahren. Wer in den Alpen unterwegs ist, sollte berücksichtigen, dass der Bremsweg bei starkem Gefälle zunimmt, wie die Bremsmessungen mit einer Honda VFR 800 zeigen. Die weiteren Messdaten belegen, dass sich Beschleunigungs- und vor allem Durchzugswerte des fast fünf Zentner schweren Sporttourers deutlich verschlechtern – beim Überholen mit einkalkulieren!
Hersteller
25/26
Sitzposition: Wenn wie hier nur die Zehenspitzen den Boden erreichen, genügt es nicht, nur die Federbasis an Gabel und Federbein zu reduzieren. Denn nicht nur der Fortschritt ist zu gering, solch eine Fahrwerkseinstellung führt auch zu unbefriedigenden Fahreigenschaften.
Hersteller
26/26
Echten Fortschritt bringen Tieferlegungs-Kit und extra tiefe Sitzbank. Im Falle der BMW F 800 GS werden zum gekürzten Federbein hinten dazu passende, andere Gabelfedern vorne verbaut. Alles zusammen verringert die Sitzhöhe um rund 70 Millimeter.
Dynamische Radlastverlagerung
Doch bis der Druck in den Bremsleitungen aufgebaut ist und die Bremsbeläge mit voller Kraft die Scheiben in die Zange nehmen, vergehen noch einmal 0,2 Sekunden und damit weitere 5,6 Meter, in denen das Motorrad ungebremst dahinrollt. So kommen bei 100 km/h um die 30 Meter zusammen, bis die Bremse packt; der gesamte Anhalteweg ist somit über 70 Meter lang. Die Situation hätte für Pilot wie Traktorfahrer übel ausgehen können.
Illustration: Müller
Diese Zeichnung verdeutlicht, wie stark die dynamische Radlast den Vorderreifen beim Bremsen auf den Asphalt presst. Das grün umrandete Feld zeigt die Reifenaufstandsfläche (Latsch) bei Geradeausfahrt mit konstanter Geschwindigkeit. Die rot und grün markierten Flächen zusammen zeigen die Aufstandsfläche bei einer Vollbremsung mit maximalem Anpressdruck des Reifens – er wird auf bis das Dreifache auseinandergequetscht.
Physikalisch passiert dabei Folgendes: Während die 200 Kilogramm der Sportmaschine im Stand je zur Hälfte auf beiden Rädern lasten, verschiebt sich das Gewicht beim extremen Verzögern durch die Massenträgheit nahezu vollständig auf das Vorderrad. Wir sprechen von dynamischer Radlastverlagerung. Je mehr die Radlast nach vorn wandert, desto mehr Bremskraft kann das Vorderrad übertragen – falls man es nicht übertreibt, denn ohne ABS kann das Rad blockieren. Wie hoch die Radlast oder, anders ausgedrückt, der Anpressdruck ist, sieht man an der Gabel: je tiefer sie eintaucht, desto höher die Radlast. Bei den meisten Motorrädern taucht sie bei einer Vollbremsung zu gut zwei Dritteln des gesamten Federwegs ein. In diesem Moment vergrößert der enorme Anpressdruck die Reifenaufstandsfläche vorne bis zum Dreifachen (siehe Zeichnung).
Das Hinterrad spielt beim starken (!) Bremsen je nach Motorrad eine völlig unterschiedliche Rolle, von fast keiner (beim Sportler) bis überlebenswichtig (beim Chopper). Bei fast allen Motorrädern hat die Konzentration auf die Vorderradbremse oberste Priorität. Der Fahrer muss sich die Verlagerung der dynamischen Radlast zunutze machen. Wichtig dabei, vor allem ohne ABS: Nicht ruckartig am Bremshebel reißen, sonst blockiert das Vorderrad, ehe sich genügend Gewicht nach vorn verlagert hat. Richtig ist vielmehr, den Bremshebel zweistufig, aber möglichst zügig erst einmal bis zum Druckpunkt zu betätigen, die Radlastverlagerung zu spüren und dann bis zum hoffentlich trainierten Optimum weiter zu ziehen.
Wer die Hinterradbremse einen Sekundenbruchteil vor der vorderen betätigt, gewinnt zusätzliche Stabilität. Das Motorrad zieht sich dadurch auch hinten in die Feder, das Hinterrad kann etwas länger führen und Bremskraft übertragen. Manche Kombibremssysteme mit ABS sind so ausgelegt, dass sie diesen Effekt nutzen. In Tests ließ sich so eine kleine, aber messbare Reduktion beim Bremsweg feststellen. Allerdings ist ohne ABS auch hier Vorsicht geboten, denn das durch die Radlastverlagerung zunehmend entlastete Hinterrad kann blockieren. Weil Straßen meist etwas geneigt sind, um Regenwasser abfließen zu lassen, führt ein blockierendes Hinterrad gerne zum Ausbrechen des Hecks.
Achtung: Wenn das zu stark ausgebrochene Hinterrad bei schon schräg zur Fahrtrichtung stehender Maschine wieder greift, besteht akute Sturz-Gefahr! Im Zweifel sollte man die Hinterradbremse nach dem anfänglichen Impuls daher lieber unterbremst lassen. In Kurven ist es besser, sie gar nicht zu betätigen. Mehr zum Kurvenbremsen erfahren Sie in diesem Kapitel.
Bremsen ohne ABS
Sollte trotz aller Vorsicht das Vorderrad blockieren, bewahrt einen nur das blitzschnelle Lösen der Bremse vor einem drohenden Sturz. Das fällt zwar schwer, ist aber tatsächlich die einzige Möglichkeit, die Kontrolle über das Motorrad zurückzubekommen.
MOTORRAD-Archiv
Wer das Vorderrad während der gesamten Bremsung kurz vor der Blockiergrenze hält, bremst perfekt.
Wer das Vorderrad während der gesamten Bremsung kurz vor der Blockiergrenze hält, bremst perfekt. Doch herauszufinden, wo genau diese Grenze liegt, erfordert ständige Übung und viel Routine. Die richtigen Handlungsmuster dafür kann man sich am besten bei einem Sicherheitstraining aneignen.
Aber auch die Technik muss passen. Schlägt beispielsweise eine zu weich abgestimmte, unterdämpfte Gabel durch oder hüpft eine überdämpfte Gabel, verliert das Vorderrad auf holprigem Asphalt schneller Bodenkontakt und Haftung. Wichtig, um Rutscher zu verhindern, ist auch hier eine blitzschnelle Reaktion, also das Lösen und der sofortige Wiederaufbau des Bremsdrucks. Das gelingt aber nur, wenn die Hebeleien richtig eingestellt sind und alle Armaturen leichtgängig funktionieren.
Fahrtrainings beim MOTORRAD action team
Bremsen mit ABS
Ein ABS ist im normalen Betrieb gar nicht zu spüren, fast alle Bremsmanöver laufen so ab wie auf Maschinen ohne ABS, nämlich unterhalb des Regelbereichs. Erst wenn ein Rad die Blockiergrenze erreicht, wird der Unterschied fühlbar. Ob bei einer Schreckbremsung oder beim versehentlichen Überbremsen an einer rutschigen Stelle – die Stabilität, die ein Fahrer ohne ABS selbst wiederherstellen muss, indem er die Bremse löst und neu anlegt, erhält dem ABS-Besitzer die Technik. Die Sturzgefahr durch ein überbremstes Vorderrad ist ebenso gebannt wie ein ausbrechendes Heck, verursacht durch ein blockierendes Rad hinten. Der Fahrer kann einfach mit aller Kraft weiterbremsen bis zum Stillstand.
MOTORRAD-Archiv
Ein Motorrad mit Antiblockiersystem (ABS) lässt sich auch unter extremen Bedingungen wie beispielsweise einer Schreckbremsung viel sicherer verzögern als eines ohne.
Wer das aber noch nie gemacht hat, wer noch die Angst vor dem blockierenden Vorderrad und dem ausbrechenden Hinterrad spazieren fährt, wird nicht voll reinlangen und vielleicht entscheidende Meter verschenken. Deshalb sollte das Bremsen im ABS-Regelbereich bewusst geübt werden.
Hinzu kommt, dass bei einer heftigen Vollbremsung enorme Kräfte wirken. Denen muss der Fahrer mit der richtigen Sitzhaltung und Körperspannung begegnen. Die Knie fest an den Tank, den Oberkörper so aufrecht wie möglich und die Arme nicht gerade durchgedrückt, aber ebenfalls fest angespannt. Heftige Begleiterscheinungen wie etwa quietschende Reifen, pulsierende Bremshebel oder ein schlagender Antriebsstrang, wenn man vergessen hat, die Kupplung zu ziehen, tun zwar der Wirksamkeit des Anti-Blockier-Systems keinen Abbruch. Sie können den Fahrer aber so stark irritieren, dass er die Bremse vor lauter Schreck wieder loslässt, wenn er das noch nie erlebt und geübt hat.
Wie erwähnt neigen frontlastige Maschinen zu Stoppies, während hecklastige (wie Cruiser) wenig Gewicht aufs Vorderrad bringen und Blockieren begünstigen. Bei modernen ABS-Motorrädern versuchen die Hersteller durch passende Abstimmung der Systeme diesen Unterschieden beim Bremsen den Schrecken zu nehmen. An vielen modernen Maschinen lassen sich zudem verschiedene Fahrmodi einstellen, die sich vielfach auch auf das Regelverhalten des ABS auswirken. Daher sollte man genau wissen, wie das eigene System arbeitet und dem ABS nicht blind vertrauen.
Denn auch Anti-Blockier-Systeme sind nicht unfehlbar. Die erwähnte Neigung zum Stoppie kann bei älteren oder besonders sportlich ausgelegten Systemen zum Überschlag führen. Und auf waschbrettartigen Bodenwellen kann der Bremsweg länger werden, weil ein springendes Rad in der Luft auch mit ABS nicht bremst.
Blickführung beim Bremsen
Ganz wichtig bei einer Vollbremsung ist die richtige Blickführung. Kopf hoch und Blick geradeaus in Bremsrichtung! Denn genau dorthin werden wir unwillkürlich lenken, ob wir wollen oder nicht. Auch zum Ende der Bremsung sollte der Blick noch oben bleiben, um nicht kurz vor dem Stillstand doch noch das Gleichgewicht zu verlieren.
Was bremst besser – Auto oder Motorrad?
Doppelte Geschwindigkeit bedeutet doppelten Reaktionsweg und vierfachen Bremsweg. Das Diagramm geht von einer Sekunde Reaktionszeit und einer Bremsung mit 8,5 m/s² aus. Das schafft ein reaktionsschneller, einigermaßen trainierter Fahrer unter guten Bedingungen.
Während für die brandneue BMW R 1250 GS im MOTORRAD-Top-Test 40,2 Meter gemessen wurden, stehen aktuelle Kompaktwagen im Schnitt nach 36 Metern aus 100 km/h. Gut vier Meter sind eine Autolänge oder ein Einschlag im Heck des vor einem bremsenden Wagens mit knapp 30 km/h.
Doch für diese Bremsleistung muss man das technisch erreichbare Optimum schaffen. Und während wir zaubern müssen, tritt der Autolenker für diese Verzögerung einfach nur in die Eisen. Ein probates Mittel in solchen Fällen wäre genügend Sicherheitsabstand! Doch wie schnell ist der aufgebraucht durch eigene Unachtsamkeit, Ungeduld oder das Einscheren anderer. Was also tun, wenn wir nur so bremsen können, wie es das Diagramm zeigt, wir also neun Meter mehr benötigen?
Anhaltewege
Oder wenn die Relationen gar so sind, wie in diesen beiden Diagrammen dargestellt? Sie zeigen den Vergleich zwischen einem ungeübten Bremser auf dem Motorrad und der Bremsleistung eines modernen Autos.
Die im linken der beiden Diagramme gezeigte Bremsleistung ist gar nicht selten, wenig trainierte Biker geraten hiermit durchaus an ihre Leistungsgrenze. Aus 100 km/h benötigt das Motorrad hier 23 Meter mehr bis zum Stillstand als das aktuelle Vierrad, was eine Aufprallgeschwindigkeit von gut 70 km/h ergibt. Das noch immer gerne geschulte Reaktionsmuster „Bremsen – Bremse lösen – Ausweichen“ ist auch durch die starken Lastwechsel komplex, fehleranfällig und benötigt Zeit. Außerdem steht man erst nach einer erneuten Bremsung.
Bremsen + Ausweichen
Das Institut für Zweiradsicherheit (ifz) hat kürzlich mit über 100 Teilnehmern eine Studie durchgeführt (siehe Bild), bei der ein weniger komplexes und auch im Notfall mit einem Minimum an Übung erfolgreich durchführbares Notfallreaktionsmuster in der Praxis erprobt wurde. Es heißt „Ausweichen auf der Bremse“ oder „bremsend Ausweichen“.
Nicolas Streblow
Auch ohne ABS funktioniert das Manöver, solange unterhalb der Blockiergrenze verzögert wird.
Die Idee dabei: Anstatt nur zu bremsen und am Ende womöglich doch zu kollidieren oder ein Ausweichmanöver ohne Geschwindigkeitsabbau mit ungewissem Ausgang zu riskieren, wird zunächst möglichst kräftig gebremst, und ohne die Bremse zu lösen ein kräftiger Lenkimpuls in die gewünschte Ausweichrichtung gesetzt. Dies hat mehrere Vorteile: Durch die Bremsung erhöht sich dank der dynamischen Radlastverlagerung der Anpressdruck des Vorderrades und wir können durchaus nennenswerte Lenkkräfte übertragen, obwohl weiter gebremst wird. Unnötig störende Lastwechsel werden so vermieden, es wird keine Zeit durch das Lösen der Bremse verschenkt und das Motorrad steht, aber nun eben mit reichlich Spurversatz, also seitlicher Abweichung von der ursprünglichen Fahrlinie.
Dabei verlängerten sich die Anhaltewege der Studienteilnehmer mit ABS nur um durchschnittlich 0,9 Meter, während sie aber einen mittleren Spurversatz von 2,8 Metern schafften. Reicht der erzielte Spurversatz nicht aus und es kommt wegen des längeren Bremsweges doch zu einer Kollision, so erfolgt diese mit nur noch 14 km/h – nicht nur im Vergleich zum reinen Ausweichen ein aus der Sicht des ifz tolerables Risiko. Verglichen mit den reinen Bremswegen der rund 100 Teilnehmer verbessern sich die Chancen zur Vermeidung eines Aufpralls ebenfalls sehr deutlich. Auch ohne ABS funktioniert das Manöver, solange unterhalb der Blockiergrenze verzögert wird. Dies tun die meisten aus Respekt ohnehin, und so gilt: Je länger der Bremsweg, um so sinnvoller ist im Fall der Fälle ein erreichter Spurversatz.
Jörg Künstle
Achtung Linksabbieger: Bremsen mit gleichzeitigem Spurversatz nach rechts kann die Rettung bringen.
Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Selbst Ungeübte hatten einen kaum verlängerten Bremsweg, erreichten aber den vielleicht entscheidenden Spurversatz. Das ist durchaus bemerkenswert, denn die Ergebnisse sowohl beim reinen Bremsen wie auch beim Ausweichen zeigten eine enorme Bandbreite. In beiden Fällen benötigten die schwächsten Teilnehmer doppelt so viel Weg wie die Besten. Übung bei den Grundfertigkeiten Bremsen und Lenken täte also für viele Biker dringend not.
Wer den gezielten Lenkimpuls nicht beherrscht, hat nicht nur weniger Spaß am schrägen Hobby, sondern lebt auch beinahe ebenso gefährlich wie jener, der sich nicht traut, die Bremsen effektiv einzusetzen. Aber dem Bremsen kommt die Schlüsselrolle zu. Ohne ABS bis fast 80 km/h, mit ABS sogar bis 100 km/h, ist der Bremsweg im Mittel kürzer als der Ausweichweg. Bremsen sollte also bis zu diesem Tempo stets Priorität haben. Wer zusätzlich den Lenkimpuls beherrscht, kann während der Bremsung oftmals noch eine Menge retten. Eine Erkenntnis, die umso mehr Bedeutung hat, wenn einem klar ist, wie viel besser etwa Autos, aber auch viele Kollegen auf zwei Rädern bremsen können. Übertragen auf die Szene links oben: Je früher und je weiter rechts das Motorrad zum Stehen kommt, um so besser. Und mit etwas Glück bleibt das Auto ja auch stehen.
Straßenoberflächen, Grip und Bremswege
Glänzel
Auf trockenem Kopfsteinpflaster ist der theoretisch realisierbare Bremsweg mehr als doppelt so lang wie auf rauem Asphalt.
Der Bremsweg hängt auch ab vom Reibbeiwert der Straßenoberfläche. Ein extrem griffiger Belag mit Reibbeiwert µ=1,2, auf dem sich der Reifen sehr gut verzahnen kann, findet sich fast nur auf Test- oder Rennstrecken. Auf Landstraßen schwankt die Griffigkeit von µ=0,9 bis 0,7.
Je geringer der Reibbeiwert und die mögliche Verzögerung, desto mehr Bremskraft kann prozentual über das Hinterrad übertragen werden. Deshalb gerade bei Nässe oder glattem Belag zusätzlich zu vorn auch hinten mitbremsen.
Straßenoberfläche Reibbeiwert Bremsweg aus 100 km/hAsphalt rau1,232,8 mAsphalt normal0,943,7 mAsphalt glatt0,756,1Kopfsteinpflaster0,578,6Nasser Staub0,3131,0Eis0,08491,3
Die Normalbremsung
Illustration: Müller
Die durchschnittliche Bremsverzögerung bei zügiger Landstraßenfahrt liegt bei rund 5 m/sek², etwa der Hälfte einer Vollbremsung. Dabei kann die Hinterradbremse wegen der hohen Radlast bis zu 35 Prozent beitragen, das Vorderrad ist bei gutem Straßenbelag noch weit von der Blockiergrenze entfernt. Der rote Pfeil gibt die resultierende Kraft aus Massenkraft (grün) und Gewichtskraft (gelb) wieder. Wenn diese resultierende Kraft hinter dem Vorderrad auf die Fahrbahn trifft (gestrichelte Verlängerung), besteht keine Überschlagsneigung.
Die Vollbremsung
Illustration: Müller
Die tatsächlich erzielbaren Verzögerungen hängen vom jeweiligen Motorrad und dem momentanen Grip (Reibbeiwert) ab. Ist dieser ausreichend hoch, begünstigen ein langer Radstand und ein niedriger Gesamtschwerpunkt hohe Verzögerungen. Begrenzend hierbei bleibt jedoch die Überschlags- bzw. Stoppie-Neigung des Motorrades. Diese ist erreicht, wenn die dynamische Radlastverlagerung zu 100 % vollzogen ist. Die resultierende Kraft (rot) verläuft nur knapp hinter oder durch die Reifenaufstandsfläche. Ab jetzt würde jede weitere Bremskrafterhöhung zum Abheben des Hinterrades führen. Fahrerassistenzsysteme (FAS) erkennen ein Abheben des Hinterrades und regeln den Bremsdruck so, dass es gerade noch am Boden bleibt.
Überzogene Vollbremsung
Illustration: Müller
Bei der überzogenen Vollbremsung hebt das Hinterrad ab. Jetzt trifft die resultierende Kraftlinie vor dem Vorderrad auf. Sobald das Hinterrad abgehoben hat, trägt das Vorderrad allein die maximal mögliche Radlast. Behielte der Fahrer den hohen Bremsdruck von 28 bar bei, würde sich die Maschine nach vorn überschlagen. Wichtig zu wissen: Das passiert auch mit ABS! Denn hier – wieder ausreichend Grip vorausgesetzt – muss nicht der Bremsdruck wegen eines überbremsten Vorderrades geregelt werden, sondern wegen des abhebenden Hinterrades. Aber hierfür wäre dann ein anderes FAS, falls im Motorrad vorhanden, zuständig.
Video: Sicher bremsen mit dem Motorrad