Verhalten brummelt die Honda aus ihren beiden Endtöpfen, antwortet selbst auf beherzte Gasstöße mit dezenter akustischer Zurückhaltung. Blitzschnell nehmen die blass gewordenen Erinnerungen wieder Farbe an, machen diesen Tag vor 20 Jahren plötzlich so präsent wie gestern. Oktober 1991, Circuit Le Castellet. Honda präsentiert die NR 750. Kaum ein Motorrad hatte im Vorfeld mehr Neugier generiert als dieses unorthodoxe Konzept. Über 200 Patente meldeten die Honda-Ingenieure im Lauf der Entwicklung für diesen Technologieträger an. Verständlich, dass es bei so viel Substanz keine marktschreierische Anbiederung brauchte. Und schon gar kein Auspuffgebrüll.
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Motorrad-Geschichte
Honda NR 750 mit Ovalkolbenmotor
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Auch zwei Dekaden später umgibt die NR 750 noch immer eine Aura des ganz Besonderen. Sie war ein Kind ihrer Zeit. Wie die achsschenkelgelenkte Yamaha GTS 1000 (1993) oder die von einem Wankelmotor getriebene Norton TT (1992) auf der Suche nach neuen Wegen. Doch diese NR war ihrer Zeit weiter voraus. Benzineinspritzung, Kassettengetriebe, Titanpleuel, Anti-Hopping-Kupplung, Kohlefaserverkleidung, digitaler Tacho - die NR 750 strotzte nur so von technischen Lösungen, die sich erst im Lauf des kommenden Jahrzehnts peu à peu etablieren sollten. Doch all das verblasste hinter der Krönung dieses Ensembles, dem Ovalkolbenmotor.
Die Logik hinter dieser Bauart leuchtet ein: Im Vergleich zu einem konventionellen Zweizylinder gleicher Hubraumgröße bietet ein ovaler Zylinderkopf mehr Raum für größere Ventile und eine dementsprechend bessere Füllung. Da im Verhältnis zur großen Bohrung zudem der Hub außerordentlich kurz gerät, im Vergleich zum Zweizylinder die oszillierenden Massen um etwa zehn Prozent geringer ausfallen und sich die innere Reibung ebenfalls reduziert, verspricht dieses Bauprinzip zudem die für eine hohe Spitzenleistung notwendige große Drehfreude. Einzige Problemzone: die Abdichtung des Brennraums. Erst die leicht gewölbte Form der Kolbenlängsseite (Superellipse) ermöglichte einen ausreichenden Anpressdruck der Kolbenringe.
Dem Ziel, dieses Konstruktionsprinzip zur Serienreife zu bringen, hatten sich die Honda-Techniker schon Jahre zuvor verschrieben. Bereits im März 1978 schnurrte im Zylinder eines einzylindrigen XL 250-Motors zum allerersten Mal ein ovaler Kolben. Vier Monate später bellte der konstruktive Vorläufer des NR 750-Triebwerks auf dem Prüfstand. Ein 100-Grad-V4-Motor mit 500 cm³ Hubraum, zwei Pleueln je Kolben sowie acht Ventilen und zwei Zündkerzen je Brennraum. Maximaldrehzahl: 20 000/min.
So einleuchtend die Vorteile des Ovalkolbenprinzips in der Theorie auch sein mochten, auf dem unnachsichtigsten aller Prüfstände, im Rennsport, tat sich das diese Technik schwer. Nach vier Jahren des ungleichen und erfolglosen Kampfs (beste Platzierung: Platz elf beim GP in Spa) gegen die Halbliter-Zweitaktboliden wurde das Werksengagement mit der NR 500 im Jahr 1982 eingestellt.
Letztlich verdankte das NR-Konzept sein Überleben nur einem finalen Kraftakt in der Saison 1987. Erst als sich der auf 750 cm³ Hubraum vergrößerte NR-Motor bei den 24 Stunden von Le Mans und der australischen Swann-Serie mit konventionellen Viertaktern gleichen Hubraums messen durfte, rehabilitierte sich die Idee. Doch die Podiumsplatzierungen kamen zu spät. Auf der Rennstrecke hatte der Ovalkolbenmotor ausgedient.
Cathcart
Inspiration: Von der Underseat-Auspuffanlage der NR 750 ließ sich sogar Star-Designer Massimo Tamburini für die zwei Jahre nach der NR präsentierten Stilikone Ducati 916 inspirieren.Wunderwerk der Technik: ovale Kolben, acht Ventile pro Zylinder - und über ein Jahrzehnt Entwicklungszeit.
Vielleicht liegt es auch an diesem zerrütteten Verhältnis zum Rennsport, dass sich die NR 750 schon bei der ersten Sitzprobe im Gegensatz zu ihrem damaligen Schwestermodell, der durch und durch sportiven RC 30, ganz zivil gibt. Mit relativ hohen Lenkerstummeln, tiefen Fußrasten und bequemem Sitz residiert es sich eher touristisch-bequem als sportlich. Und wie damals macht sich auch jetzt etwas Ernüchterung breit. Handling ist nicht das Ding der Avantgardistin. Nur behäbig lässt sich die vollgetankt 244 Kilogramm schwere Maschine einlenken. Obs am Gewicht oder der wenig handlichen Kombination eines 130 Millimeter breiten Vorderradreifens mit einer 16-Zoll-Felge liegt? Immerhin folgt die Honda unaufgeregt und stoisch der eingeschlagenen Linie, schnupft mit ihrer komfortabel abgestimmten massiven Upside-down-Gabel (45-Millimeter-Tauchrohre) und dem über die Pro-Link-Hebelei angelenkten Federbein auch in Schräglage jede noch so kleine Unebenheit auf. Doch Zurückhaltung bleibt angesagt. Krrrrrk - schon bei ziviler Schräglage schrappen die Fußrasten über den Asphalt. Gas weg, und zwar sofort. Denn schon bei jener Präsentation touchierte die NR-Verkleidung kurz nach diesem ersten Warnton den Asphalt.
Und heute möchte wohl niemand die Rechnung für ein neues Unterteil dieser raren Karbon-Verschalung bezahlen. Stürzen steht selbstredend auf dem Index. Stolze 100 000 Mark verlangte Honda damals für die Speerspitze der Technik. Lieferung gegen Vorkasse und ohne Probefahrt. Gar 140 000 Mark brachte die Versteigerung der allerersten produzierten NR 750. Der offensichtlich solvente Käufer: Jan Smit, seines Zeichens holländischer Ducati-Importeur.
Erst der Motor erwidert die Gefühle, die ihm die Bewunderer seiner Technik entgegenbringen. Fast vibrationsfrei drückt der Treibsatz voran, orgelt sich blitzartig durch die Drehzahlleiter. 10 000, 12 000, 15 000 Umdrehungen - der 90-Grad-V4 schnalzt mit einer beeindruckenden Unbeschwertheit bis in den Drehzahlbegrenzer. Als wollte er in jedem Moment beweisen, wie effizient das Ovalkolbenkonzept den rechnerischen Vorteil der verringerten inneren Reibung auch in die Praxis umsetzt. Diese Leichtigkeit relativiert, dass die 125 PS Spitzenleistung (RC 30: 122 PS) erst bei 14 000/min anstehen. Welche Manieren, welche Finesse. Man traut sich kaum, den Gasgriff grobschlächtig mit der ganzen Hand zu umfassen, will das Gas am liebsten nur mit Daumen und spitzem Zeigefinger dosieren. Die enorme Entwicklungsarbeit, das jahrelange Feintuning, die Hingabe der Ingenieure, all das manifestiert sich in dieser Mechanik. Die Komponenten wirken perfekt aufeinander abgestimmt, die Toleranzen auf ein Minimum reduziert. Man glaubt zu spüren, wie geschmeidig das Frischgas von der Einspritzanlage - übrigens die erste an einem japanischen Supersportler - durch die Spalte der vier Einlassventile jedes Zylinders strömt, welche durch präzise von Zahnradkaskaden angetriebenen Nockenwellen geöffnet werden. Man glaubt zu fühlen, wie sauber das von den immerhin 101,2 Millimeter breiten Kolben komprimierte und von zwei Zündkerzen entzündete Gemisch verbrennt.
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Noblesse oblige: Auch nach 20 Jahren besticht die NR 750 mit einer stimmigen Optik. Mit Elementen wie den in die Spiegel integrierten Blinkern war die NR ihrer Zeit voraus. Auch die massive Upside-down-Gabel mit 45er-Tauchrohren stellte ein Novum im japanischen Sportmotorradbau dar. Die Verarbeitung lag auf höchstem Niveau.
Nur logisch, dass die so erzeugte Leistung über ein im Rennsport übliches Kassettengetriebe und eine auch nach heutigen Maßstäben exzellent funktionierende Anti-Hopping-Kupplung, zu jener Zeit noch technisch korrekt als Kupplung mit Rückdrehmoment-Begrenzer bezeichnet, den Weg zum 180er-Hinterradreifen nahm.
Doch all dieser technische Feinschliff, all dieser Mut zur konsequenten Innovation, er sollte wirtschaftlich nicht belohnt werden. Vielleicht schloss der exorbitante Preis doch zu viele Interessenten aus, vielleicht enttäuschte die wenig sportliche Ausrichtung der NR 750. Fakt war: Für die ursprünglich geplanten 1000 Maschinen fanden sich weltweit letztlich nur 300 Käufer, 15 davon in Deutschland. Nach der Produktion der zweiten Charge im Jahr 1992 klappte Honda das Kapitel Ovalkolbenmotor in der Firmengeschichte endgültig zu.
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Abstellgleis statt Erfolgsspur: Ob es an der wenig sportlichen Ausrichtung, am exor- bitanten Preis (100 000 Euro) oder an der unorthodoxen Ovalkolbentechnik lag - für die NR 750 fanden sich nur 300 Käufer.
Motor:
90-Grad-V4-Viertaktmotor, Ovalkolben 101,2 x 50,6 mm, Hub 42 mm, Hubraum 747,6 cm³, je zwei Titanpleuel, acht Ventile pro Zylinder (20 und 18 mm Durchmesser), programmierbare Einspritzung/Zündung, Anti-Hopping-Kupplung, Sechsgang-Kassettengetriebe; Nennleistung: 92 kW (125 PS) bei 14 000/min; Max. Drehmoment: 71 Nm (7,0 kpm) bei 11500/min.
Fahrwerk:
Alu-Brückenrahmen, 45er-Upside-down-Gabel vorn, Einarmschwinge hinten, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 310 mm, Einscheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Bereifung 130/70 ZR 16 und 180/55 ZR 17.
Maße und Gewicht:
Radstand 1433 mm, Nachlauf 88 mm, Gewicht vollgetankt 244 kg, Tankinhalt 17,3 Liter, Höchstgeschwindigkeit 263 km/h. Preis 100 000 Mark (1991).