Aprilia RS 457: A2-Sportler im Extrem-Test

Aprilia RS 457 im Top-Test
Frischer sportlicher Wind im 48-PS-Segment

Veröffentlicht am 14.02.2025

Sportmotorräder der A2-Klasse haben eine wichtige Aufgabe: Sie sollen den Nachwuchs in Richtung ihrer Erbauer ziehen, bestenfalls ein emotionales Band zwischen Fahrer und Marke stricken. Die Hersteller buhlen um die Gunst des frischgebackenen Motorradfahrers, der mit 18 für mindestens zwei Jahre an ein Leistungsgewicht von minimal 3,65 Kilogramm pro PS (und eine Leistung von maximal 48 PS) gebunden ist. Bislang war diese Klasse im Aprilia-Portfolio nicht besetzt, auch wenn eine 35-kW-Version der größeren RS 660 erhältlich war und ist. Mit einem Grundpreis von 11.599 Euro ist diese zwischen 4.000 und 5.000 Euro teurer als "normale" A2-Sportler und damit dieser Kategorie nur eingeschränkt zugehörig. Es fehlte also ein erschwinglicheres, nicht weniger anziehendes und emotionales Sportbike, um die klaffende Lücke zwischen RS4 125 und RS 660 zu schließen.

Eine Aufgabe, die seit diesem Jahr die Aprilia RS 457 übernimmt. Preis, Leistung und Gewicht spielen klar in der A2-Klasse, Design und Sound orientieren sich dagegen an den größeren Geschwistern. Laien könnten sie glatt mit dem angehimmelten Superbike RSV4 verwechseln, denn Frontmaske und die gesamte Linienführung der 457er ähneln der 1100er (und auch der 660er) stark. Nur eben alles zwei Nummern kleiner. Der Hinterreifen kein 200er, sondern ein 150er, der Motor nicht V4, sondern R2, der Preis nicht fünf-, sondern vierstellig. Trotzdem versprüht die RS 457 in seidenmatter Lackierung reichlich Racing-Flair. Ob das nur Show ist und unter der schnieken Verkleidung womöglich ein alltagstauglicher Allrounder steckt, wie man es von anderen A2-Sportlern kennt? Der Schlüssel steckt, finden wir es heraus.

Aprilia RS 457: ausgewogener Antrieb

Bevor es auf dem Top-Test-Gelände an die Fahrdynamik-Messungen geht, steht eine Etappe über die Landstraßen der Schwäbischen Alb an. Dort, wo die Aprilia RS 457 sich heimisch fühlt, denn ein Sportmotorrad mit 48 PS und gerade mal 178 Kilogramm vollgetankt bietet im Rahmen der Straßenverkehrsordnung eine verlockende Kombination: genug Power, um Überholmanöver relativ locker aus dem Handgelenk zu schütteln. Und nicht zu viel, um dabei ständig Gefahr zu laufen, die Fahrerlaubnis zu verlieren. Der von Aprilia neu entwickelte Reihentwin mit 457 Kubikzentimetern Hubraum zeigt sich dank 270-Grad-Hubzapfenversatz klanglich wie ein V2. Im Stand brummt er selbstbewusst, bei Nenndrehzahl mit einer Lautstärke von 95 dB(A) und damit Tirol-tauglich. Der voluminöse Bass klingt eher nach 660 als 457 Kubik. Bei voll geöffneten Drosselklappen entsteht eine Soundkulisse, die jener der größeren Schwester kaum nachsteht.

Auf den ersten Landstraßenkilometern zeichnet sich das Bild eines ausgewogenen Antriebs ab. Ausniedrigen Drehzahlen beschleunigt die Aprilia RS 457 anstandslos durch und baut ihren Vortrieb sehr linear auf. Die Verbindung zwischen E-Gasgriff und Drosselklappe ist direkt und klar, je nach gewähltem Mapping ("Rain","Eco" oder "Sport") muss man zum Beschleunigen den Griff mehr oder weniger stark drehen. In allen Modi genießt man aus dem Stand das für diese Klasse ordentliche Anfahrdrehmoment und sportliche Ampelstarts gelingen auch Führerschein-Neulingen dank der sehr unkompliziert dosierbaren Kupplung problemlos.

Aprilia RS 457 bietet wenig Fahrkomfort

Wer flott vorankommen will, hält sich bevorzugt im oberen Drehzahldrittel auf, in dem ein breites Leistungsplateau zwischen 8.000/min und 10.000/min wartet . Das bedeutet natürlich reichlich Schaltarbeit am eng gestuften Getriebe der Aprilia RS 457. Die Fahrstufen rasten dabei stets sicher, der optionale Quickshifter (rund 220 Euro) stünde dem Testmotorrad aber beim sportlichen Treiben gut. Ab mittleren Drehzahlen sorgen die Vibrationen des Twins auf Dauer über die Fußrasten (interessanterweise besonders die rechte) für kribbelnde Sohlen, während Ausgleichsgewichte am Lenker Schwingungen von den Händen fernhalten.

Die betont sportliche Auslegung der Aprilia RS 457 wird nicht nur motorisch deutlich. Auch die Ergonomie lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich nahtlos in die RS-Baureihe einfügt. Hartes Sitzpolster, hohe Rasten und somit spitzer Kniewinkel. Die Lenkerstummel liegen sportlich tief, wenn auch noch über der oberen Gabelbrücke. Fahrer über 1,80 Meter Körpergröße kommen mit dem Arrangement noch gut klar, der Druck auf den Handgelenken ist aber präsent.

Und auch die Abstimmung der Federelemente des indischen Zulieferers Gabriel trägt nicht gerade zum Fahrkomfort bei. Die lediglich in der Federvorspannung einstellbare Gabel arbeitet zäh, ihr Ansprechverhalten bekommt wohlwollend das Prädikat "ausreichend". Etwas softer, aber mit gleicher (Un-)Sensibilität verrichtet das ebenfalls nur in der Vorspannung einstellbare Federbein seinen Job. Ergebnis: Jeder Gullydeckel, jeder Bitumenstreifen, ja, jedes Kieselsteinchen wird ungefiltert zum Lenker und Sitz durchgegeben. Eine Form des Feedbacks, auf die man nach ein paar Kilometern über unebene Straßen gerne verzichten würde. Dass man bei der Aprilia RS 457 auf eine Traktionskontrolle nicht verzichten muss, freut dagegen gerade Nachwuchs-Sportler. Auch wenn die während der Fahrt in drei Stufe justierbare TC auf trockener Fahrbahn meist Däumchen drehen kann, ihre Anwesenheit beruhigt.

Steifes Chassis, straff abgestimmte Federelemente

Am Testgelände angekommen geht’s ans Eingemachte, ein schneller und ein langsamer Slalom sowie die Kreisbahn warten schon auf die Aprilia RS 457. Station eins: schneller Slalom. Top-Tester Timo streift Lederkombi und Messequipment über, dann rollt er unter den Augen von Testkollege Volkmar mit der RS an die Startlinie. Unter stetiger Beschleunigung wuchtet er das Bike mit entschlossenen Lenkimpulsen zwischen den in einer Linie aufgereihten Pylonen hindurch, bremst am Wendepunkt hart und wiederholt das Ganze in die entgegengesetzte Richtung. Die Geschwindigkeit am Messpunkt und die Durchgangszeit können sich sehen lassen. Möglich macht’s das steife Aprilia-Chassis in Kombination mit den straff abgestimmten Federelementen. Sie verhelfen der sehr handlichen RS 457 auch im langsamen Slalom mit weiteren Bögen zu satter Kurvenlage und einem akzeptablen Feedback. Das mäßige Ansprechverhalten, besonders das der Gabel, fallen hier kaum ins Gewicht. Nach mehreren Durchläufen treten allerdings in Schräglage vermehrt Schwingungen am Heck auf, die das Vertrauen für noch aggressiveres Abwinkeln nehmen. Die Dauerbelastung scheint das Federbein kontinuierlich seiner Dämpfung zu berauben.

Auch in der Kreisbahn kündigt sich das Limit über die Heckpartie an. Die kostengetriebene Bereifung (Eurogrip Protorq Extreme) der Aprilia RS 457 generiert bei 30 Grad Außentemperatur zwar ordentlichen Grip und beim Bremsen kein störendes Aufstellmoment, rollt jedoch in Schräglage etwas hölzern. Muss der Reifen aufgrund der nachlassenden Dämpfung des Federbeins immer mehr Unebenheiten aufnehmen, gerät er an die Haftgrenze und kündigt jene mit einem sachten Rutscher an. Nicht falsch verstehen: Das passiert erst bei hohem Tempo und einer starken Kreisbahn-Rundenzeit. Trotzdem bleibt das Gefühl: Mit geschmeidigeren Gummis wäre mehr drin.

Aprilia RS 457 mit großflächigen LED-Scheinwerfern

Und mehr drin wäre auch bei den Bremsmessungen. Die radial verschraubte Bybre-Zange der Aprilia RS 457 greift in eine 320- Millimeter-Einzelscheibe und verzögert grundsätzlich gut. Allerdings nur so lange, bis der ABS-Regelbereich erreicht wird. Der am Heck abschaltbare Blockierverhinderer ist nämlich einerseits defensiv abgestimmt und darauf bedacht, das Hinterrad sicher am Boden zu halten. Andererseits fallen die Regelintervalle recht grob aus und besonders wenn beide Bremsen gleichzeitig betätigt werden, öffnet das System die Bremse lang. Bei submaximaler Verzögerung ist das kein Thema, jedoch fällt hier der recht große Leerweg des Handhebels auf. Außerdem wünschten sich zwei von drei Testfahrern eine niedrigere Positionierung des Hebels, die aufgrund des am Lenkerstummel anschlagenden Ausgleichsbehälters der Bremsflüssigkeit nicht möglich ist.

Überraschend gut geht die Aprilia RS 457 mit einem zweiten Passagier um. Auch das hintere Sitzbrötchen ist straff, Kniewinkel und Übersicht aber durchaus akzeptabel und die schön in das Heck integrierten Haltegriffe erfüllen ihren Zweck sogar sehr gut. Etappen zu zweit sind also kein Problem. Und Nachtetappen auch nicht, denn der Lichtkegel des LED-Scheinwerfers der Aprilia erhellt die Straße großflächig. Beim Umschalten auf Fernlicht hebt sich der Blick der RS 457 nochmals deutlich und die Nacht vor der Verkleidung wird beinahe zum Tag. Ein klarer Pluspunkt.

Aprilia RS 457: Präzises Handling, niedriger Verbrauch

Preislich sortiert sich die Aprilia RS 457 mit 7.199 Euro (Stand: Juli 2024) in der Klasse auf mittlerem Niveau ein. Die gebotene Verarbeitung gibt keinen Grund zur Beschwerde, alle Oberflächen sind wertig, und die Spaltmaße der Testmaschine passen. Außerdem knackt die Aprilia, wenn auch hauchzart, die 600-Punkte-Marke – für ein Motorrad ihrer Klasse eine respektable Summe. Sie verdankt das vor allem dem launigen und kräftigen Motor, dem flinken und präzisen Handling und auch dem niedrigen Verbrauch. Auf der Landstraße begnügte sich die RS mit 3,5 Litern, im Top-Test-Betrieb inklusive Fahrleistungs- und Fahrdynamik-Messungen stieg der Konsum insgesamt auf 4,1 Liter pro 100 Kilometer. Ein weiterer Pluspunkt eines Sportlers dieser Kubatur: Selbst wer gerne, viel und hart am Kabel zieht, muss die Summe auf der Anzeige der Zapfsäule nicht fürchten.

Viel Fahren bedeutet bei der Aprilia RS 457 aber auch viele Werkstatt-Checks. Alle 6.000 Kilometer bitten die Italiener zum Service. So manches Konkurrenzprodukt schafft die doppelte Distanz, was die Kosten mit steigender Laufleistung im Vergleich immer weiter senkt. Bald wird sich die RS 457 dieser Konkurrenz stellen müssen. Für den Augenblick darf sie sich über ein gutes Top-Test-Ergebnis freuen. Dynamik und Emozione haben wir uns erhofft – und die Aprilia hat geliefert.