Huldvoll nennen die Aprilianer ihr Superbike-Flaggschiff "her Majesty". Wie sich das 2021er-Modell der RSV4 1100 in der erlauchten Factory-Version schlägt, durften wir drei Turns auf der GP-Strecke von Misano testen.
Huldvoll nennen die Aprilianer ihr Superbike-Flaggschiff "her Majesty". Wie sich das 2021er-Modell der RSV4 1100 in der erlauchten Factory-Version schlägt, durften wir drei Turns auf der GP-Strecke von Misano testen.
Es roooaaarrrt kräftig in der frischen Morgenluft über dem World Circuit Marco Simoncelli. Aber nicht wüst, sondern manierlich ansprechend. Und vertraut: Dieser Ton wird in den Brennräumen eines 65-Grad-V4-Motors von Aprilia geboren, kein Zweifel. Die neue RSV4 1100 Factory klingt auch im Modelljahr 2021 und Euro 5-konform gewittrig-melodiös. Wie bei der vorherigen Generation sitzt der Kat direkt vor dem Endschalldämpfer, was einen großen Sammler überflüssig macht. Der neue Kat besitzt allerdings 400 statt 200 Zellen. Er hat denselben Durchmesser wie beim alten Modell, baut dafür mit 93 mm gegenüber 90 mm etwas länger. Er besteht aus Keramik anstatt wie bisher aus Stahl, kommt schneller auf Betriebstemperatur und wiegt 400 Gramm weniger. Eine rundum saubere Bilanz, so kann sich das sehen lassen!
Was gibt’s sonst Neues? Einen leicht überarbeiteten Motor mit mehr Hubraum (1.099 Kubik statt 1.077 Kubik), eine frisch konstruierte Schwinge, leistungsfähigere Elektronik dank einer schnelleren ECU, verbesserte Aerodynamik sowie vorsichtige optische Retuschen. Kenner identifizieren das neue Modell trotz einiger Designänderungen sofort als RSV4. Der wunderschöne Alurahmen mit polierten Seitenprofilen dient der Maschine zusammen mit der makellos verarbeiteten Hochglanzschwinge schon seit der ersten RSV4 von 2009 als Markenzeichen. Die Front mit LED-Kurvenlicht und jetzt doppelt ausgeführten Lufteinlässen ist zwar wie die reizende Heckpartie neu gezeichnet, aber eben nicht neu erfunden – trotzdem sieht die 2021er-RSV4 frischer und moderner aus. Eventuell ein Verdienst der jetzt teils in die Verkleidung integrierten Winglets. Die sollen zum einen für circa acht Kilogramm Anpressdruck und mehr Stabilität bei etwa 270 km/h verantwortlich sein. Zum anderen intensiviert die spezielle Form beim Anbremsen das Feedback von der Front, ohne dadurch das leichtfüßige Handling zu belasten. MotoGP-Technik ist ein Begriff, der in diesem Zusammenhang gern von den Aprilia-Technikern angeführt wird.
Werfen wir einen Blick auf die neue Schwinge: Durch die Unterzüge verteilt sich die Masse schwerpunktgünstig weiter abwärts. Jetzt aus nur noch drei statt sieben miteinander verschweißten Hauptteilen gefertigt, spart sie 600 Gramm Gewicht und ist trotzdem 30 Prozent steifer. Racer profitieren dazu von der Möglichkeit, die Radachse bedarfsweise noch weiter hinten montieren zu können als bisher, um der Maschine beispielsweise noch mehr Stabilität in Hochgeschwindigkeitskurven anzuerziehen. In der Realität dürfte kaum ein Hobbyracer ernsthaft damit experimentieren, aber die Aprilia-Rennabteilung macht eben keine halben Sachen.
Was kann der neue Leistungsträger aus Nolae? Kurz gesagt: alles, was er früher schon bravourös konnte nochmal einen Tick besser. Für die drei während der Pressevorstellung verfügbaren Stints sind die Testmotorräder mit superklebrigen Pirelli Diablo-Slicks in SC1-Mischung ausgerüstet anstatt der serienmäßigen Supercorsa SP-Reifen. Wahrscheinlich ist es ein Verdienst der Renngummis, dass die Maschine am Kurvenausgang auffällig hohen mechanischen Grip erzeugt. Früh und hart am Kurvenausgang das Gas aufzuziehen ist nach wenigen Runden Routine und die natürlichste Sache der Welt.
Dabei bleibt sich die RSV4 1100 Factory im Kern ihres Wesens treu. Die nach wie vor sehr kompakt gebaute Rennmaschine reagiert empfindlich, wenn man sie wild anpackt oder sogar am Lenker reißt. Vom Fahrer eingeleitete Impulse übertragen sich in die Front und erzeugen Unruhe – das hat die RSV4 schon immer gemacht. Also am Kurvenausgang locker bleiben, auf dem Sitz weit zurückrutschen, hinter der Scheibe kleinmachen und die Königliche locker und präzise führen. So fährt die handliche Maschine wie gewohnt brillant übers Vorderrad und lenkt auch auf der Bremse herrlich präzise ein. Am Fahrwerk selbst gibt es keine Änderungen, es ist tendenziell straff und besitzt große Dämpfungsreserven. Misano hat einen guten Belag mit nur wenigen Wellen. Sowohl die Gabel als auch das Federbein haben ihren Job dort im Automatikmodus A1 sauber erledigt.
Nicht nur durch das neue 5-Zoll-Dashboard mit neuem Layout und sensibleren Tasten für die Menüsteuerung wurde die RSV4 1100 Factory Jahrgang 2021 benutzerfreundlicher: Auf der Rennstrecke bewegt man sich in den Programmen Track 1, Track 2 oder Race, die Track-Modi sind frei konfigurierbar. Ein neun Millimeter tiefer montierter und länger ausgeführter Sitz sowie zehn Millimeter tiefer angebrachte Fußrasten integrieren den Fahrer besser in die Maschine, bieten dabei aber mehr Bewegungsfreiheit zum Turnen. Der pro Seite um 17 Millimeter schmalere Tank macht die Sitzposition einen Hauch menschenwürdiger. In die Oberseite ist extra eine gummierte Fläche eingearbeitet, auf der man hinter dem jetzt höher ausgeführten Windschild sein Kinn ablegen kann, um den Luftverwirbelungen zu entgehen.
Und wie! Der Motor drückt und schiebt überwältigend, und das in allen Lebenslagen. Mit proklamierten 217 PS liegt die Spitzenleistung trotz Hubraumerhöhung auf Vorgängerniveau. "Es könnte aber sein, dass die Motoren eher etwas nach oben streuen", freut sich Apriliatechniker Francesco Mennella zwinkernd. Das Ansaugsystem wurde überarbeitet und der V4 liefert jetzt maximal 125 Nm anstatt 122 Nm. Er gibt bei 6.000/min fünf Prozent mehr Drehmoment ab als das vorherige Modell. Was sich erst einmal unspektakulär liest, bedeutet in der Praxis einen großen Schritt. In Misano feuert man aus vielen Kurven im zweiten oder dritten Gang raus, dort spürt man den intensivierten Punch deutlich. Dass die RSV4 1100 Factory im oberen Drehzahlbereich einfach atemberaubend marschiert, ist dagegen keine Neuigkeit. Dank der erstarkten Drehzahlmitte legt die Maschine bestimmt ein Stück Landstraßenperformance zu. Trotzdem gehört so ein Motorrad auf die Rennstrecke. Nur dort passt der Auslauf, damit sie ihr riesiges Potenzial zeigen kann.
Elektronisch profitiert die Maschine von der neuen Motorsteuerung Marelli 11MP, die deutlich leistungsfähiger ist als die bisherige Einheit 7SM. Das bedeutet, die Vernetzung und Reaktionsfähigkeit sämtlicher elektronischer Anwendungen und Funktionen im Motorrad klappt schneller und effizienter. Die Traktionskontrolle arbeitet beispielsweise so fein, dass man rein gar nichts davon spürt, sondern nur ein Lämpchen im neuen 5-Zoll-Dashboard aufflackern sieht. Auch das generelle Ansprechverhalten des V4 ist ein Gedicht und Musterbeispiel von Kontrolle. Ist es besser als beim Vorgängermodell? Eindeutig.
Preis: 25.690 Euro inklusive 350 Euro Nebenkosten. Farben: Schwarz/Rot und Rot/Blau. Das Standard-Modell RSV4 ohne Öhlinsfahrwerk (nicht getestet) kostet 21.690 Euro inklusive Nebenkosten und ist ausschließlich in Silber erhältlich.
Keine Angst vor Euro 5: Die bis ins Detail bestens verarbeitete RSV4 1100 Factory Jahrgang 2021 profitiert von der erstarkten Drehzahlmitte des überarbeiteten V4s, einer sensibleren Elektronik und funktionaleren Ergonomie. Sie ist ein echtes Profi-Werkzeug und wird es der Konkurrenz wie gewohnt schwer machen, an ihr vorbeizuziehen.