Eine infernalisch brüllende Verbrennungsmaschine, zwei aufgeheizte Slicks im 16,5-Zoll-Format, drei fliegende Runden. Puls 160 Herr, lass Abend
werden. Es ist nicht die erste Begegnung dieser Art und trotzdem immer dasselbe. Trockener Mund, feuchte Hände, Pressatmung. Doch vor den Scharen hämisch grinsender Mechaniker und besorgter Ingenieure gibt man sich keine Blöße, rollt zügig aus der Box, tritt ohne zu kuppeln die Gänge durch hier schaltet der
Automat , zupft die Kombi zurecht und macht auf Profi. In die Piste eingefädelt, die ersten Curbs im Visier, das Monster mit Respekt im Griff, läuft ein Film an, der sich in tausend Rennrunden eingebrannt hat. Gas, bremsen, umlegen, schon fegt die
RC 211 V, Hondas spektakuläre MotoGP-Werksmaschine mit V5-Triebwerk, auf die zweite Kurve zu. Ein Dutzend Fotografen mit kanonenrohrgroßen Objektiven lauert auf den goldenen Schuss.
Und dann passiert das, was auf einer Honda eigentlich stets passiert: gar nichts. Wie von Zauberhand geführt klappt die RC 211 V in Schräglage, pfeift in einem Strich ums Eck, trifft die gedachte Linie besser als gedacht, ohne den geringsten Anflug von Kippeligkeit. Schon deshalb, weil auch diese Honda den elektronisch gesteuerten Lenkungsdämpfer nach Art der CBR 1000 RR spazieren fährt, der keine Linie versaut, aber den kleinsten Ansatz von Lenkerschlagen einbremst. Klasse.
Sanft, in langer, tiefer Schräglage und mit halber Drehzahl nähert sich der Amateur den Curbs, dort, wo die Herren Werksfahrer, Alex Barros und Nicky Hayden, mit etwa einem Meter Spurversatz vorführen, was Driften heißt. Aus der Kurve heraus geht es einen Gang höher als gedacht, vor allem deshalb, weil der dumpfe V5-Sound aus den vier Megaphonen nicht annähernd die tatsächlich anliegende Drehzahl verkündet. Mit Schwung und Schräglage
über die Kuppe auf die Gegengerade. Mit
Bedacht den Gashahn auf, das Vorderrad eine Hand breit überm Asphalt, und einfach mal ausgedreht. Bis das Schaltblitzgewitter bei 16200/min in die Parade funkt. Satte 700 Umdrehungen haben die Techniker im Vergleich zur Saison 2003 bei der Maximaldrehzahl draufgepackt. Das ergibt unterm Strich ein nutzbares Drehzahlband von über 7000/min, in dem sich via Gasgriff jederzeit und scheinbar unbegrenzt die gewünschte Leistung abrufen lässt.
Die Vollbremsung am Ende der Gegengeraden misslingt komplett. Wer übers Jahr nur Fireblade RR und Konsorten
bewegt, dem fehlt das geschulte Auge,
um aus einer höllischen Beschleunigung, die selbst weit jenseits der 200 km/h nicht spürbar nachlässt, den richtigen Bremspunkt zu setzen. Hundert Meter zu früh
geankert. Dafür bleibt nun Zeit, die folgende 180-Grad-Kehre in Ruhe zu planen. Bremse auf und mit Gottvertrauen auf
die Michelin-Slicks umgelegt, bis die Ohrläppchen streifen, schnappt die Honda auf kürzestem Radius ums Eck.
Weite Bögen aufgrund der mächtigen 190er-Walze und den kleinen 16,5-Zoll-Felgen? Fehlanzeige. Innen, und zwar ganz innen, ohne Wuchten und Stemmen, zirkelt die RC 211 V um die Kehre und
demonstriert eindrucksvoll, wie Motorräder gebaut werden, die ihre Stärke bei der katapultartigen Beschleunigung ausspielen. Mit einer schier unglaublichen Präzision setzt der über 250 PS starke Honda-Motor die Gasbefehle in Schub um. Keine Hinterhältigkeit, keine Mätzchen, einfach die pure Kraft in fein dosierbaren Portionen. Auch ein Grund dafür, dass die schmerzhaften Highsider-Stürze zu einer echten Seltenheit geworden sind. Wie kommts?
Trotz des verlorenen WM-Titels macht Koichi Yoshii, verantwortlich für die Entwicklung der MotoGP-Werksmaschinen, nicht den Eindruck eines zerknirschten, am Boden zerstörten Japaners. Im Gegenteil, freundlich erklärt der sympathische HRC-Ingenieur die Hintergründe der hochkultivierten Motorentechnik und macht klar, dass in der Honda-Philosophie Fahrbarkeit und Sicherheit bei Rennmaschinen ebenfalls an erster Stelle stehen. Schon deshalb, weil die Honda Racing Corporation (HRC) aus dem potenten Fünfzylinder Leistung und Drehmoment fast nach Belieben herauspressen kann.
Koichi Yoshii und seinem Team liegt vielmehr daran, die vom Triebwerk bei
Bedarf produzierten Urgewalten in beste Rennergebnisse umzusetzen. Dazu bedienen sie sich allerhand raffinierter Lösungen. So werden beispielsweise die Drosselklappen zur Gassteuerung durch ein ausgeklügeltes System aus elektrischem Servomotor und Differenzialgetriebe (siehe MOTORRAD 21/2004) in den unteren
Gängen lediglich zu 50 Prozent geöffnet, was jedoch bei Nenndrehzahl immer
noch einer Leistung von mindestens 180 PS entspricht. Der Fahrer fühlt bei der elektronischen Regelung außer der gewollt sanfteren Leistungsentfaltung keinerlei Nebenwirkungen, zumal der Servomotor so arbeitet, dass er die Drosselklappen nie weiter als der Fahrer öffnen, hingegen nur stärker schließen kann.
Weil Rennen nicht in den ersten Minuten, sondern in einer erbarmungslosen 45-minütigen Schlacht gewonnen werden, gehört die Schlupfregelung am Hinterrad zum entscheidenden Entwicklungsschwerpunkt der nächsten Jahre. Dabei versuchen die Techniker über eine Leistungsanpassung in allen Gängen, das Durchdrehen des Reifens zu begrenzen und so Reifen-Performance und Fahrer-Kondition auf höchstem Niveau zu halten. Erreicht wird dies durch einen Abgleich zwischen Vorderrad- und Hinterraddrehzahl. Wird zu viel Schlupf ermittelt, regelt die elektronische Motorsteuerung Frühzündung und Einspritzmenge in Millisekunden zurück, was zu einem umgehenden, doch keineswegs abrupten Abfall der Motorleistung führt.
Die Schwierigkeit bei diesem Regelvorgang liegt darin, dass die Reifen je
nach Zustand und Temperatur bei einem Schlupf von etwa fünf Prozent das höchste Antriebsmoment übertragen. Bei weiter steigendem Schlupf nimmt der Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn drastisch ab, das Motorrad kann in Kurven seitlich ausbrechen, oder der Hinterreifen dreht beim Beschleunigen hemmungslos durch.
Weil jeder Pilot seinen Fahrstil mit
einem mehr oder weniger spektakulären Drift, der durch den Schlupf zustande kommt, garniert, sind aufwendige, indi-
viduelle Abstimmungsmöglichkeiten der Elektronik unumgänglich. Um den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, können die Piloten über einen Schalter am linken Lenkerstummel eine von den HRC-Ingenieuren nicht genannte Zahl von Motorabstimmungen mit unterschiedlicher Leistungsentfaltung wählen. Zum Beispiel dann, wenn der Reifengummi, durch beinharte Positionskämpfe überstrapaziert, an Haftung verliert oder die äußeren Bedingungen keinen optimalen Grip zulassen, wie bei leichtem Regen oder niedrigen
Asphalttemperaturen.
Höchste Anforderungen, die ebenso hohe Kosten verursachen. Denn die Abstimmungstests sind nicht im Labor oder auf dem Prüfstand zu bewerkstelligen, sondern erfordern immens teure Fahrversuche auf der Rennstrecke, zu denen ein Großteil des Teams mitsamt Reifenhersteller und Fahrwerks-Spezialisten antanzen. Kenner der Szene befürchten neben einer Kostenexplosion, dass die MotoGP-Show durch den Elektronik-Einsatz leiden könnte. Denn nur wenn es mit schrägen Drifts und wilden Wheelies für den Zuschauer klar erkennbar gnadenlos zur Sache geht, ist die Begeisterung groß.
Weshalb Koichi Yoshii beim Stichwort »Wheelie-Kontrolle« ins Schmunzeln gerät. Er denkt dabei nicht allein an die Renn-
maschinen, sondern in logischer Folge auch an die Übertragung dieser Technologie auf das Serienpendant die CBR 1000 RR Fireblade beispielsweise. Die Honda-Kundschaft wäre wohl nicht gerade amüsiert, wenn die Fireblade vollelektronisch den akrobatischen Sprint auf einem Rad unterbinden würde. Bei der RC 211 V geht es darum, das tatsächliche Beschleunigungsvermögen auszunutzen, ohne dass die Jockeys ständig durch Korrekturen am Gasgriff oder durch Treten der Hinterradbremse den MotoGP-Renner am Überschlag hindern müssen.
Das reichte dieses Jahr allerdings nicht, das Gespann Valentino Rossi und Yamaha YZR-M1 zu schlagen. Honda plant Neuerungen. Ein verbessertes Handling und Einlenkverhalten, um die Beschleunigungsphase noch früher einleiten zu können. Neue Fahrwerkselemente, die dem Fahrer eine klarere Rückmeldung geben, stehen im HRC-Lastenheft ebenfalls ganz oben: Stichwort flexiblere Rahmen und Schwingenkonstruktionen.
Auch wenn manche Honda-Manager (siehe Interview Seite 137) düster zurückblicken, steht die MotoGP-Honda nicht schlechter da als Yamahas YZR-M1. Doch die hat Valentino Rossi und sein Gefolge nach zwei Honda-Jahren so getrimmt, dass sie der RC 211 V immer ähnlicher wurde und in manchen Dingen wie dem Handling sogar überlegen ist. HRC fehlt weder Können noch Wissen noch Erfahrung, um einen siegfähigen MotoGP-Renner zu bauen. Was fehlt, ist der Fahrer mit den Talenten eines Valentino Rossi.
Technische Daten – Honda RC 211 V
Motor: wassergekühlter 75,5-Grad-V5-Viertaktmotor, vier Ventile pro Zylinder, über Schlepphebel betätigt, zahnradgetriebene Nockenwellen, Hubraum 989 cm3, Leistung zirka 255 PS, Höchstdrehzahl zirka 16200/min, Nasssumpfschmierung mit Wärmetauscher, frei programmierbares Motormanagement, elektronisch gesteuerte Drehzahlanhebung beim Bremsen, vom Fahrer frei wählbare Kennfelder, Fünf-in-vier-Auspuffanlage, Sechsgang-Kassettengetriebe, Trockenkupplung mit mechanischem Anti-Hopping-System.
Fahrwerk: Alu-Brückenrahmen, Motor mittragend, Showa-Upside-down-Gabel, Zweiarm-Aluschwinge, Federbein über Umlenkhebel progressiv betätigt, Fahrzeughöhe
einstellbar. Keine Einstellmöglickeit für Lenkkopfwinkel und Schwingenlagerposition,
Magnesium-Räder, vorn 3.50 x 16.50 oder 3.75 x 16.25, hinten 6.50 x 16.50 Zoll.
Michelin-Slicks, vorn 12/60/420, hinten 19/67/420.