Es war ein glückhafter Tag, der zweite Tag des diesjährigen Superbike-Tests in Aragon. Nicht nur wegen des endlich besseren Wetters, sondern auch deshalb, weil er für mich mit der Aprilia RSV4 begann. Auf den ersten Metern kam sie mir zwar wie immer ungewöhnlich hoch vor, doch der Anflug von Unsicherheit, der daraus entstehen mag, verschwindet sofort. Quasi im Anflug auf die erste Kurve. Denn der Fahrer findet so leicht und mit so vollendeter Präzision die Linie, dass er schon nach kurzer Zeit immer forscher in Schräglage abtaucht. Voller Vertrauen in die Führungsqualität des Vorderrads und die Präzision der Rückmeldung.
Selbst das zackige Umklappen von einer Schräglage in die andere – in der Theorie nicht gerade eine Paradedisziplin von Motorrädern mit eher hohem Schwerpunkt – klappt auf der Aprilia RSV4 mit beglückender Leichtigkeit. Wahrscheinlich macht sich dabei das geringe Kreiselmoment der kurzen Kurbelwelle positiv bemerkbar, ein großer Vorteil des 65-Grad-V4-Motors. Aprilia ist der einzige Hersteller, der einen V4 in einen Serien-Supersportler setzt, bei Honda bleibt er den MotoGP-Motorrädern oder Tourensportlern wie den VFR-Modellen vorbehalten.
Ralf Schneider zur Aprilia RSV4
Damit nicht genug. Der Aprilia-Motor ist auch sehr geschickt konstruiert, sodass sowohl die Käufer als auch der Hersteller gleichermaßen Freude an ihm haben können. Wer sich auf eine Aprilia RSV4 einlässt, bekommt neben den fahrwerkstechnischen Vorteilen einen exquisiten Klang serviert, mechanisch immer noch sehr kernig, auch im Auspuffton eher kräftig, aber längst nicht mehr so brüllend laut wie die Exemplare der ersten Serie. Der Hersteller wiederum freut sich an der Möglichkeit, für die vordere und hintere Zylinderreihe jeweils baugleiche Zylinderblöcke und -köpfe verwenden zu können. Sie müssen nur um 180 Grad gedreht eingebaut werden. Das spart einen gewissen Teil der Produktionskosten, die bei einem V4-Motor ohnehin höher sind als bei einem Reihenmotor, da der Nockenwellenantrieb doppelt benötigt wird und die Zylinder und -köpfe nicht in einer Einheit zu haben sind. Da gibt es eine Menge zusätzlicher Dichtflächen zu fräsen.
Möglich wird diese clevere Konstruktion dadurch, dass die Steuerkette der vorderen Zylinderreihe vom linken Kurbelwellenende, die der hinteren vom rechten aus angetrieben wird. Zusätzliche Baubreite entsteht durch die beidseitigen Steuerketten nicht, weil diese Ketten im geringen seitlichen Versatz der Zylinder Platz finden. Bei V-Motoren kommt er dadurch zustande, dass je ein Pleuel eines hinteren und eines vorderen Zylinders nebeneinander auf einem Hubzapfen laufen.
3 Parameter können per App angepasst werden

Mit auf dem Prüfstand ermittelten 203 PS war der Aprilia-Vierzylinder im MOTORRAD-Vergleichstest (7 und 8/2016) das zweitstärkste Aggregat hinter dem Reihenmotor der BMW S 1000 RR. Seine schmale Frontsilhouette ermöglicht der Aprilia RSV4 eine sehr gute Aerodynamik. Sie schlüpft mit gemessenen 305 km/h durch den Wind und war auch auf der Rennstrecke in Aragon mit 290 km/h genauso schnell wie die stärkere BMW. Am anderen Ende der Anforderungsskala, also bei den sogenannten „soft skills“, gefällt der V4 mit moderaten Verbrauchswerten und sehr ordentlichem Ansprechverhalten. Hier hat er seit dem Urmodell von 2009 enorme Fortschritte gemacht.
Weil die Aprilia RSV4 von ihren Anfängen an lange Jahre in der Superbike-WM weiterentwickelt wurde, bietet sie auch fast alles, was heute an elektronischen Fahrhilfen für Motorräder zu haben ist: ABS, Traktions- und Wheeliekontrolle, verschiedene Motorkennfelder und ein Assistent für schnelle Rennstarts. Auch ein Schaltassistent gehört zur Ausstattung, nur die Blipperfunktion fürs Herunterschalten ohne Kupplung fehlt noch. Für die komplett Technikbegeisterten bietet Aprilia die Möglichkeit, die RSV4 mittels einer App für bestimmte Rennstrecken speziell abzustimmen. Die Setups für zahlreiche Rennstrecken haben die Techniker bereits vorkonfiguriert; wer sie per iPhone aktiviert, kann erleben, wie sich die Parameter von Streckenabschnitt zu Streckenabschnitt anpassen. Näher heran an die Optimierungsstrategien von Spitzenrennfahrern kann man mit einem Serienmotorrad derzeit nicht kommen. Wohl dem, der dann auch noch über die technischen und fahrerischen Fähigkeiten sowie genügend Fahrzeit auf der Rennstrecke verfügt, sich in dieser Vielzahl von Einstellmöglichkeiten selbst zurechtzufinden.
4 Die begehrenswerteste unter allen Aprilias

Hat die Aprilia RSV4 auch Nachteile? Nun, sie ist für den Alltagsbetrieb vielleicht etwas zu anstrengend und fordernd. Im Lauf mehrerer Tests bei MOTORRAD hat sich auch die Anti-Hopping-Kupplung als anfälliges Bauteil herauskristallisiert. Sie funktioniert zwar beim harten Bremsen und Zurückschalten vor der Kurve ausgezeichnet, die Beläge verschleißen jedoch verhältnismäßig rasch. Auf Kursen, die anhaltend harte Bremsmanöver fordern, können sich auch die leichten, weil relativ dünnen Bremsscheiben überfordert zeigen. Dann kommt es gelegentlich zu Bremsenrubbeln. Der größte Nachteil der RSV4 ist aber ihr stolzer Preis. Schon die einfacher ausgestattete RR-Version kostet 18.490 Euro. Die Aprilia RSV4 RF mit sehr gut abgestimmten Öhlins-Federelementen, leichteren Rädern, einer aufwendigen Lackierung und einigen Karbonteilen kostet sogar 21.490 Euro.
Wer sich nach einer heißen Ausfahrt oder am Ende eines langen Rennstreckentags neben die Aprilia setzt und sie betrachtet, kann die Preise wenigstens nachvollziehen. Rahmen, Schwinge, Auspuffanlage und Verkleidungsteile sind aus edlen Materialien sorgfältig gefertigt, und in beiden Varianten arbeiten hochwertige Komponenten. Kein Wunder also, dass die Aprilia RSV4 den Lesern von MOTORRAD als die begehrenswerteste unter allen Aprilias erschien. Egal ob im Stand oder in Fahrt, auf Fotos oder in der Realität – einen begehrlichen Blick oder einen kurzen Proberitt wird sie jedem Fan wert sein. Oder gar ihren Kaufpreis?
Die Aprilia RSV4 und die anderen neun von Ihnen gewählten Traumbikes können Sie vom 5. bis zum 9. Oktober auf der INTERMOT in Köln bewundern. Genauergesagt auf dem MOTORRAD-Stand, Messehalle 9, Stand B-050.
INTERMOT 2016 in Köln

Vom 5. bis 9. Oktober 2016 ist es wieder soweit – dann heißt es für den internationalen Fachhandel, für Importeure und natürlich für Motorradfans: auf nach Köln zur INTERMOT 2016, der internationalen Motorrad-, Roller- und Fahrradmesse. Über 1000 Anbieter aus rund 40 Ländern werden zur führenden Branchenmesse erwartet. Dabei sind alle Key Player der motorisierten Zweiradwelt vertreten. Sie präsentieren auf einer Ausstellungsfläche von nahezu 110.000 m² die neuesten Motorräder, Roller, Fahrräder sowie die wichtigsten Neuheiten aus den Bereichen Elektromobilität, Customizing, Zubehör, Bekleidung, Teile, Reisen und Werkstattausrüstung.
Technische Daten Aprilia RSV4




