Das Frühjahr steht im Zeichen der neuen Zweizylinder. Im Brennpunkt des Geschehens: Hondas VTR 1000 F.
Das Frühjahr steht im Zeichen der neuen Zweizylinder. Im Brennpunkt des Geschehens: Hondas VTR 1000 F.
Sie haben es nicht gern gelesen, die Verantwortlichen vom deutschen Honda-Importeur in Offenbach. Der erste Fahrbericht ihres angeblichen Wunderkinds VTR 1000 in MOTORRAD 2/1997 sei unter zu sportlichen Gesichtspunkten gestanden, meinen sie. Schließlich habe man mit ihr einen Allrounder auf die Räder gestellt und eben kein reinrassiges Sportmotorrad. Womit sich dann aber die Frage stellt, warum die Japaner diesen Allrounder ausgerechnet auf dem Honda-eigenen, mit extremen Schwierigkeiten gespickten Test-Kurs vorgestellt haben.
Höchste Zeit also, die Qualitäten der VTR dort zu überprüfen, wo die Entwickler den Haupteinsatzzweck ihres Zweizylinders sehen: auf der Landstraße. Komfort wird bei dem gemäßigten Sportler nämlich groß geschrieben. Sowohl bei der Abstimmung der Federelemte als auch in Sachen Ergonomie. Extrem schlank ist der Tank geschnitten, ebenso die Sitzbank, die dadurch auch noch einem 165-Zentimeter-Menschen den Bodenkontakt mit beiden Füßen erlaubt. Nicht allzu weit vom wohlgeformten, straffen Polster entfernt sind die Lenkerhälften in einer angenehmen Höhe über der Gabelbrücke angeklemmt. Nur mit deren Kröpfung, da haut es partout nicht hin. Zu weit nach außen und zu stark nach unten gerichtet, wirkt sich diese Position schon nach wenigen Kilometern ungewöhnlich ermüdend bis schmerzhaft auf die Handgelenke aus.
Ein weiterer kleiner Schönheitsfehler fällt beim ersten Startversuch auf. Der Choke-Knopf an der linken unteren Rahmenstrebe ist nicht nur etwas unglücklich positioniert, sondern außerdem so schwergängig, daß selbst ein gut trainierter Fingerhakler seine Mühe damit hat.
Doch damit vorerst genug der Kritik. Jetzt darf man sich tatsächlich auf ein überraschend unbeschwertes Fahrvergnügen freuen. Easy going ist angesagt. Locker lässig dahingleiten, ohne Streß und Hektik. Welcher der sechs Gänge gerade im Einsatz ist? Völlig egal. Denn bereits knapp über Standgasdrehzahl macht dieses Triebwerk alles mit: Sanftes Beschleunigen oder wildes Gasaufreißen - nie wird die im Motorgehäuse gelagerte Alu-Schwinge von einer peitschenden Kette gepeinigt, und nie verschlucken sich die riesigen, 48 Millimeter großen Gleichdruckvergaser. Jederzeit beherrschbar, legen sich, wenn nötig, die 115 auf dem MOTORRAD-Prüfstand ermittelten Pferdchen der ungedrosselten Version ins Zeug. Allerdings ist in den ersten beiden Gangstufen ein wenig Vorsicht geboten. Durch die extreme Radlastverteilung (vorn 102, hinten 114 Kilogramm) neigt die VTR bisweilen dazu, die Nase etwas hoch zu tragen - nicht unbedingt jedermanns Sache.
Die unspektakuläre Leistungsentfaltung dagegen sollte auf breite Zustimmung stoßen: Bis 5500/min agiert der wuchtige Zweizylinder fast schon zu gutmütig, gemessen am donnernden Vorbild aus Bologna. Mechanisch sehr leise und ohne störende Vibrationen, schiebt er die 216 Kilogramm der VTR jederzeit souverän voran und legt ab 6000/min noch einmal spürbar an Entschlossenheit zu. Dieser Vorwärtsdrang verliert sich allerdings schon rund 1000 Umdrehungen, bevor der Drehzahlbegrenzer seinen dienstlichen Pflichten bei 9500/min nachkommen muß. Bis auf den hohen Benzinverbrauch, der nur unwesentlich unter dem einer bereits als Säuferin geouteten Suzuki TL 1000 S liegt, darf dieser Antrieb als durchaus gelungen bezeichnet werden. Denn die Kritikpunkte, die bei der ersten Präsentation zum Thema Lastwechsel in extremer Schräglage laut wurden, sind bei forscher Landstraßenhatz nicht mehr spürbar.
Um dem 996 cm³ großen V2-Motor solch ordentliche Manieren beizubringen, griffen die Honda-Ingenieure tief in die Trickkiste. So haben sie, um lästiges Schieberuckeln zu verhindern, nicht nur unterschiedlich lange Ansaugtrichter in den Luftfilterkasten integriert, sondern auch noch unterschiedliche Steuerzeiten für den vorderen und hinteren Zylinder gewählt. Der Motor läuft dadurch unter allen Betriebsbedingungen so rund, als hätte er mehr als nur zwei Zylinder.
Das Fahrwerk erledigt seine Aufgaben ebenfalls unspektakulär und nicht minder souverän. Trotz des um 15 Millimeter längeren Radstands macht die Honda auf kurvigen Landstraßen einen deutlich agileren Eindruck als ihre direkte Konkurrentin aus dem Hause Suzuki. Ganz im Stil einer VFR 750 F läßt sie sich ohne große Kraftanstrengung durch schnelle Wechselkurven treiben, und auch bei schnellerer Gangart stellt sie nicht einfach auf stur wie beispielsweise eine Ducati 916. Zielgenau folgt die VTR der angepeilten Linie, selbst übelste Wellen und Löcher können sie dabei nicht beeindrucken. Und das gefürchtete Lenkerschlagen, mit dem die TL 1000 S beim Test (MOTORRAD 4/1997) immer wieder überraschte, beutelt die VTR höchst selten. Dank der komfortablen Abstimmung von Gabel und Federbein und dem hohen Anteil an Negativfederweg verliert das Vorderrad nicht gleich nach jeder Welle den Bodenkontakt - eine der Hauptursachen für das tückische Kickback. Die eigens für die VTR entwickelten Dunlop D 204 K tragen einen weiteren Teil zu dieser Gutmütigkeit bei. Im Extrembereich zwar nicht mit göttlichem Grip gesegnet, harmonieren sie im Alltag nahezu perfekt mit dem wendigen Chassis: kaum Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage und eine ausgezeichnete Spurtreue.
Harte Bremsmanöver quittiert das VTR-Vorderrad dafür schnell mit einem pfeifenden Reifen, denn die weiche Gabel geht schon sehr früh und vor allem im Soziusbetrieb sehr hart auf Block. Das simple Federbein macht unter diesen erschwerten Bedingungen übrigens einen überraschend guten Eindruck. Wer mit der VTR allerdings ordentlich verzögern will, der muß auch kräftig zupacken können. Die Stopper verdienen nicht gerade die Bezeichnung Zwei-Finger-Bremse. Die Vierkolbenzangen mit den beiden 296er Scheiben lassen sich wohl prima dosieren, an die Leistungsfähigkeit einer Sportbremse vom Kaliber CBR 600 oder CBR 900 kommen sie jedoch nicht ganz heran.
Richtig schwer tut sich der VTR-Fahrer dagegen mit rücksichtsvoller Fahrweise. Die Spiegel sind zwar elegant geformt, aber sonst nahezu unbrauchbar. Außer den eigenen Armen ist darin nicht viel zu sehen. Auch in Sachen Windschutz, und der ist bei einer Höchstgeschwindigkeit von immerhin 239 Sachen nicht zu vernachlässigen, ließe sich noch etwas verbessern. Möglicherweise ja mit einer Vollverkleidung, über die in Fachkreisen bereits gemunkelt wird. Mal sehen, vielleicht gibt es dieses Jahr nicht nur einen erfrischenden Frühling, sondern auch noch einen heißen Herbst.
Stimmt, die VTR 1000 ist kein Sportmotorrad, aber ein nahezu perfekter Begleiter im Alltag. Gutmütig, leistungsstark und problemlos im Handling. Dank der im Vergleich zur Suzuki TL 1000 S gemäßigten Reifenbreite von 180 Millimetern und einer komfortablen Fahrwerksabstimmung kann sie zur Königin der Landstraße avancieren. Bis auf die ermüdende Stellung der Lenker heißt es mal wieder: Typisch Honda - draufsitzen und wohlfühlen.