Dauertest-Zwischenbilanz Kawasaki ER-6f
Überraschungs-Ei

Kawasakis preisgünstiger, windschlüpfiger Allrounder zeigte sich von Beginn an als tourentauglicher Spaßmacher. Aber gilt das auch auf Dauer?

Überraschungs-Ei
Foto: fact

Lange Zeit schien es so, als hätte sich nur noch Suzuki dem Bau preisgünstiger Zweizylinder-Motorräder verschrieben. Doch im Sommer 2005 überraschte Kawasaki mit der ER-6n. Die spielte für einen Einstandspreis von rund 6300 Euro mit der SV 650 in einer Liga und war im Gegensatz zu dieser gegen 600 Euro Aufpreis sogar mit ABS lieferbar.

Dem frech gestylten Naked Bike folgte kurz darauf eine verkleidete Variante mit identischer Technik, die ER-6f. Der hochmoderne Vierventiler mit hydraulischem Ventilspielausgleich, 180 Grad Kurbelwellenversatz und vibrationsmindernder Ausgleichswelle zeigt sich gut bei Kräften. Der 72 PS starke Twin glänzt mit Drehfreudigkeit und kräftigem Durchzug bei mittleren Drehzahlen. Und die Einspritzung mit doppelten Drosselklappen sorgt dafür, dass der Motor stets sauber Gas annimmt.

Wie die unverkleidete ER-6n gewinnt auch das f-Modell auf Anhieb Vergleichstests. Das handliche Fahrwerk, die guten Bremsen und das ABS tragen ebenso wie der spritzige Motor zum Sieg bei. Nur logisch, dass ein MOTORRAD-Langstreckentest folgen muss. Schließlich wollen wir wissen, ob Kawasakis preisgünstiger Allrounder auch qualitativ ganz vorn und dauerhaft zuverlässig ist.

Die ER-6f soll es sein. Denn 50000 Kilometer-Dauertest sind mit schützender Verkleidung angenehmer abzuspulen als ohne. Als sie den Redaktionsfuhrpark bereichert, herrscht in Deutschland tiefster Winter.
Da ist zunächst nur Kurzstrecke angesagt. Schwierige Bedingungen, der Motor wird bei nasskaltem Wetter kaum warm. Zweimal lässt die ER-6 morgens ihren Unmut spüren, läuft auf den ersten Kilometern nur auf einem Zylinder. Erst nach Abstellen der Zündung und erneutem Starten brummt der Twin wie gewohnt.

Nervt aber mit weiteren Kleinigkeiten. Die Kawa hat keine Tankuhr. Und die
Reserveleuchte blendet bei Dunkelheit und Regen derart unangenehm, dass dies action-team-Leiter Andreas Holzer einen deftigen Eintrag im Fahrtenbuch wert ist.

Endlich Frühjahr, endlich kommt die ER-6f raus aus dem Großraum Stuttgart. Korsika ist das Ziel einer dreiwöchigen Tour von Monika Häring, der Assistentin des action team. Nonstop von Stuttgart nach Livorno, rüber mit der Fähre und dann nur noch Kurven bis zum Abwinken. Monika ist begeistert: »Ein tolles Motorrad und absolut tourentauglich. Richtig handlich, gute Sitzposition, und der Spaßfaktor bleibt bei sportlicher Fahrweise auch nicht auf der Strecke. Einziges Manko: die schlechte Dämpfung am Hinterrad. Das Motorrad springt förmlich auf holprigen Strecken. Und davon gibt es genug auf der Mittelmeerinsel. Ansonsten waren es die entspanntesten 3500 Kilometer, die ich je auf einer Tour gefahren bin.«

Für freundliche Mienen sorgen auch die Inspektionskosten, die 6000er kostet nicht einmal 44 Euro. Der erste Öl- und Filterwechsel steht erst bei 12000 Kilometer an, der Rechnungsbetrag hält sich mit 194 Euro wiederum in angenehmen Grenzen. Wie genügsam die ER-6f sein kann – der Schnitt über die gesamte Distanz beträgt bislang 4,9 Liter –, erfährt Tester Georg Jelicic wenig später auf einer Tour mit Freunden in die Tschechei. »Unglaublich, nur 3,2 Liter Normal auf hundert Kilometer«, notiert der sparsame Georg, der ansonsten das entspannte Fahren mit der schlanken Kawa genießt.

Und noch etwas protokolliert er im Fahrtenbuch: »Trotz ABS sind Stoppies möglich.« Was nicht ganz unkritisch ist, vereinzelt haben bereits Fahrschüler den Salto vorwärts gemacht. Unter gewissen Bedingungen, zum Beispiel bei plötzlichen Reibwertsprüngen, also dem abrupten Wechsel von griffigem zu wenig griffigem Untergrund, ist die Gefahr des Überschlags durchaus gegeben. Das bestreiten die Kawasaki-Verantwortlichen nicht, die sich zu der »sportlichen« Abstimmung des ABS bekennen. Wobei es mit der Dauertestmaschine im Alltag nie zu solch prekären Situationen kam.

Nach 9500 Kilometern ist es an der Zeit, neue Reifen aufzuziehen. Zwar geht die Profiltiefe noch in Ordnung, doch das trägere Lenkverhalten der ER-6f sowie mangelnde Lenkpräzision der standardmäßig aufgezogenen Bridgestone BT 020 drängen zum Wechsel. Wie andere tourensportliche Pneus auf der ER-6f funktionieren, ist in der nebenstehenden Reifenempfehlung nachzulesen.

Auch ein Kofferset soll endlich her, wo doch immer mehr mit dem Allrounder auf Tour gehen wollen. Kawasaki muss passen, so entscheiden wir uns für das Trägersystem von SW-Motech und Givi E41-Koffer (siehe Zubehör im Test, Seite 59). Eine besonders gute Figur machen die zwar nicht, dafür wusste Kollege Daniel Lengwenus das Fassungsvermögen auf
einer Frankreich-Tour zu schätzen. Und ist erstaunt, wie locker die ER-6f hohe Zuladung wegsteckt. Trotz der riesigen Givi-Koffer bleibt die Kawa, für die er sich eine etwas höhere Scheibe wünscht, auch bei 200 km/h noch recht stabil. »Bis auf ein leichtes Rühren ist nichts zu spüren«, vermerkt der Hobby-Dichter im Fahrtenbuch. Kein Gedicht für Dani ist das Federbein. Die billige hintere Stütze ist schnell überfordert und gautscht bei jeder Bodenwelle nur so dahin, vor allem beladen.

WP Suspension bietet für 499 Euro eine hervorragende, allerdings teure Lösung (siehe Seite 58). Etwas günstiger wird es mit einer Überarbeitung der Serienteile, etwa durch Fahrwerksspezialist Hubert Hoffmann, Telefon 0742/281706. Das für 420 Euro modifizierte Serienfederbein funktioniert ähnlich gut wie der WP-Dämpfer.

Bei Tachostand 20000 steht die jährliche Herbstausfahrt mit den MOTORRAD-Dauertestmaschinen auf dem Programm. Wacker schlägt sich die Er-6f gegen große Konkurrenz wie CBF 1000, ZZR 1400 oder gar eine 1800er-Intruder, macht richtig Laune. Es gibt wenig zu kritisieren. Allerdings haben sich ein paar Vibrationen eingeschlichen, in der Verkleidung beginnt es bei höheren Drehzahlen zu dröhnen. Auch schaltet sich das Getriebe nicht mehr so exakt wie zu Beginn, und beim Einlegen des Ersten kracht’s ganz ordentlich. Die erste Hälfte der Dauertest-Distanz hat einige Spuren hinterlassen.

Die Tage werden wieder kälter und nässer, der Twin läuft mitunter nach dem Kaltstart wieder nur auf einem Zylinder. Und die Gasannahme wirkt in der Warmlaufphase zäher. Außerdem zwitschert es neuerdings aus dem Aufpuff, und im Schiebebetrieb gesellt sich ein Patschen hinzu. Zweimal schon hat die FI-Leuchte zu erkennen gegeben, dass etwas mit der Gemischaufbereitung nicht stimmt.

Deshalb wird bei 22700 Kilometer die 24000er-Inspektion vorgezogen und ein neuer Auspuff sowie ein neues Steuergerät auf Garantie montiert. Wobei anzumerken ist, dass Kawasaki das Mapping der Steuergeräte zwischenzeitlich modifiziert hat, was man an der geänderten Seriennummer – statt 112100-2580 nun -2582 – erkennen kann. Klanglich ist die ER-6f jetzt wieder ganz die Alte. Und hoffentlich auch auf den nächsten gut 25000 Kilometern der tourentaugliche Spaßmacher.

Kompletten Artikel kaufen
Dauertest-Zwischenbilanz Kawasaki ER-6f
Überraschungs-Ei
Sie erhalten den kompletten Artikel (6 Seiten) als PDF
2,00 € | Jetzt kaufen

Zubehör im Test

Motorräder lassen sich mit Zubehör individuell gestalten. Auch eine ER-6f. Doch danach stand uns nicht der Sinn. Wir wollten lediglich die wenigen Schwachpunkte des sportiven Twins ausmerzen. Etwa das lasch gedämpfte Federbein durch eine kostengünstige Alternative ersetzen oder den mäßigen Windschutz durch eine höhere Scheibe verbessern. Dass die ER-6f tourentauglich sein kann, interessiert Kawasaki wohl nicht. Ein Koffer-Set haben die Japaner jedenfalls nicht im Zubehör-Programm. Wir fanden woanders was Passendes und Pfiffiges.

Wartung und Defekte

Reichlich oft, nämlich alle 6000 Kilometer muss die ER-6f zur Durchsicht in die Werkstatt. Doch Entwarnung, was die Kosten betrifft. Denn nur alle 12000 Kilometer steht eine aufwendigere Inspektion mit Öl- und Filterwechsel, Zündkerzentausch, Überprüfung der Einspritzung, Luftfilterreinigung, Kontrolle von Verschleiß-teilen und Abschmieren auf dem Plan. Bei der Wartung zwischendrin wird lediglich die Bremsanlage auf Undichtigkeit, der Luftdruck in den Reifen und die Kettenspannung überprüft. Dafür sind gerade mal etwas mehr als
40 Euro fällig. Und bis bei dem modernen Zweizylinder zum ersten Mal das Ventilspiel überprüft und eventuell eingestellt werden muss, hat die ER-6f erst einmal
42000 Kilometer abzuspulen.

Reifenempfehlung

Bridgestone BT 020 F/R
Mit dieser Reifenpaarung ist die ER-6f standardmäßig ausgerüstet. Sie holen aus der schlanken Kawa leider nicht alles heraus, was in
ihr steckt. Etwas träge lenken sie ein und zeigen Schwächen in der Lenkpräzision. Bremsen in Schräglage quittieren sie mit spürbarem Aufstellmoment. Und beim kräftigen Beschleunigen aus Kurven heraus erreichen sie früher die Haftgrenze als andere Reifen.
Metzeler Roadtec Z6
Eine Paarung, die fast alles kann und vorzüglich zur ER-6f passt. Perfekte Lenkpräzision und exakte Rückmeldung vermitteln jede
Menge Fahrspaß. Handling und Haftung laden zum Kurvenräubern ein. Für zügiges Landstraßentempo eine perfekte Wahl. An ihnen können selbst ambitionierte Sportfahrer Gefallen finden. Aufstellmoment beim Bremsen? Fehlanzeige. Die Roadtec geben sich auch im Fahrverhalten sehr neutral.
Michelin Pilot Road
Eine eher unauffällige Reifenpaarung mit hohem Abrollkomfort und recht neutralem Einlenkverhalten über den gesamten Schräglagenbereich. In Sachen Handling, Lenkpräzision und Haftung bewegen sich die Franzosen dagegen nur im Mittelfeld. Dafür geben sie sich sehr fahrstabil und auch im Grenzbereich recht gutmütig. Nach den Metzeler und den Pirelli kommen die Michelin mit nasser Fahrbahn am besten zurecht.
Continental Road Attack »Z«
Die Conti erfreuen mit gutmütigen Eigenschaften. Haben sie Betriebstemperatur erreicht, glänzen sie mit tollem Handling, guter Lenkpräzision und über den gesamten Schräglagenbereich mit neutralem Lenkverhalten. Knackig sowie mit direkter Rückmeldung rollen die Reifen ab. Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage ist ihnen weitestgehend fremd. Sanft und ohne Tücken kündigen sie den Grenzbereich an.

Metzeler Sportec M3
Es soll Leute geben, die mit einer ER-6f auf ihrer Hausstrecke
Bestzeiten knacken wollen. Warum auch nicht. Dann aber bitte mit rechten Sportreifen. Sie bieten
super Grip selbst in voller Schräglage und auch beim harten Beschleunigen aus Kurven heraus. Messerscharf lenken sie ein und verhalten sich absolut neutral über den gesamten Schräglagenbereich. Aufstellmoment kennen sie nicht. Tolles Handling ist garantiert.
Pirelli Diablo Strada
Sie stammen zwar aus dem
gleichen Hause wie die Roadtec Z6, erreichen aber trotz sehr guter Lenkpräzision und stabilem Kurvenverhalten nicht ganz das Niveau der Metzeler. In Sachen Handling und Kurvenhaftung fallen sie
sogar deutlich ab und sind lediglich Mittelmaß. Bei Nässe allerdings setzen sie die Messlatte. Präzises Einlenken sowie gutmütiges, sicheres Verhalten im Grenzbereich ist ihr Ding.

Fahrermeinung Gert Thöle (Testchef)

Das isses: Zweizylinder. Die braucht man, und zwar gerade in dieser Hubraum-und Leistungsklasse. Die Twins machen Laune, hämmern munter drauf los. So wie die ER-6, die nicht so weich gespült daherkommt wie viele lasch wirkenden Reihenvierer.
Da bleiben eigentlich nur zwei Wünsche offen: Ich hätte gern die deutlich bessere Qualitätsanmutung der Versys statt der billigen Anbauteile und einer scheppernden Verkleidung bei der ER-6f. Und eine straffere Federung.

Fahrermeinung Ralf Schneider (Redakteur)

Vor allem ihr Motor und ihr unbeschwert-quirliges Wesen
gefällt mir. Doch gerade weil sie mich dazu verleitet, es richtig laufen zu lassen, vermisse ich straffere Federelemente und eine aktive Sitzposition. Auch die Verarbeitung ist in manchen Details geradezu liederlich. Diesbezüglich war die olle ZR-7 besser.
Die ER-6f setzt zwar eins zu eins »ihre« Marketingstrategie um, lässt aber leider viel Potenzial ungenutzt, noch weit darüber hinauszugehen.

Fahrermeinung Oliver Ebner (Chefredaktion)

In der Redaktionstiefgarage habe ich sie nicht gleich entdeckt. Zwischen all den anderen Motorrädern wirkt sie klein und zierlich. Doch das täuscht. Draußen, wenn Kurve auf Kurve folgt, dann zeigt sie’s den Großen. Drehzahl halten, fleißig schalten – flott mit sportlichem Ansatz fetzt sie dahin und hält locker mit. Strecke machen, Kilometer fressen, auch das steckt sie locker weg. Nur
zu zweit sollte man nicht sein.
Ihr unterdämpftes Fahrwerk ist damit schnell überfordert.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023