Zeit für eine Zwischenbilanz: Die XJ 900 S hat 50 000 Kilometer abgespult und nimmt nun die 100 000er Marke ins Visier.
Zeit für eine Zwischenbilanz: Die XJ 900 S hat 50 000 Kilometer abgespult und nimmt nun die 100 000er Marke ins Visier.
Gerecht ist das nicht: Andere MOTORRAD-Langstreckler zerfallen nach 50 000 Kilometern unter den Händen hemmungsloser Schrauber in ihre Bestandteile, während der Yamaha XJ 900 S für weitere 50 000 Kilometer das Leben geschenkt wird. Warum? Nun, einmal ist die Dauertestmaschine von Haus aus als Ausdauersportler angelegt, zum anderen lief und lief und lief die XJ ohne nenneswerte Zwischenfälle, ohne Anzeichen von Ermüdungserscheinungen. Da wird man doch neugierig, ob die Maschine auf längere Sicht nicht doch Ausfallerscheinungen zeigt, ob sie vielleicht auch ohne Werkzeug kleinzukriegen ist.
Doch der Reihe nach: Gekauft und in Dienst gestellt wurde die Marathon-Yamaha Ende Oktober 1994. Die folgenden Herbst- und Wintermonate bescherten ihr über 3000 Kilometer unspektakuläre Einsätze im Kurz- und Mittelstreckenbetrieb, bis es dann - dem Frühling entgegen - zum ersten Mal auf große Fahrt, Richtung Spanien, ging. Die dabei von Langstrecken- und Allwetterfahrer Harry Biehl auf viereinhalbtausend Kilometer gesammelten Erfahrungen stellen der XJ 900 S ein gutes Zeugnis aus: »Fahrverhalten unter allen Bedingungen makellos, spielerisch.
Ergonomie in Ordnung, nach 13 Stunden Fahrt weder am Hintern noch an Genick und Handgelenken irgendwelche Beschwerden.« Bei allem Lob bleiben dennoch Wünsche offen. Etwa nach einem Verkleidungsunterteil zum Schutz der Füße und nach einer längeren Getriebeübersetzung im letzten Gang, um das Drehzahlniveau bei schneller Autobahnfahrt zu senken.
Wieder zurück im grauen Alltag, erfährt die XJ 900 S wenig Beachtung. Ein paar kontroverse Bemerkungen zur Tankuhr (stimmt - stimmt nicht) - das war`s dann auch schon. Eine kritischere, wenn auch knappe Würdigung erfährt die Yamaha erst knapp vor der 10000-Kilometer-Wende auf dem Tacho. Stefan Weber, als MOTORRAD-Grafiker kein Freund großer Worte, kommt kurz und trocken zu Potte: »Fahrwerk relativ schlecht.« Womit er ein Thema anreißt, das noch häufiger - und differenzierter - zur Sprache kommen sollte.
Allgemein gehalten sind kurz darauf auch die Bemerkungen von Techniker Rainer Bäumel nach einer Norditalienreise: »Wie ein VW Golf, einfach, billig und langweilig - und gar nicht schlecht.«Annette Johann, beruflich dem Reisen verpflichtet und ebenfalls auf italienischen Pfaden unterwegs, geht bei Kilometerstand 15000 bis 17000 tiefer ins Detail. Sie lobt die Handlichkeit des Tourers und dessen bequeme Sitzposition, mault über die besch... Windschutzscheibe (Turbulenzen) und registriert Fahrwerkswackeleien bei flotter Fahrt auf schlechten Straßen und Flattererscheinungen um Tempo 60 heraum.
Ihr Urteil unter dem Strich spricht jedenfalls für die XJ: »Bei moderater Reisegeschwindigkeit sind die Fahrwerksschwächen tolerierbar, ansonsten ist das Motorrad sehr langstreckentauglich.«Ganz anderer Meinung ist Kollege Axel Westphal, als Magazin-Redakteur ein Mann des offenen Worts. Er geht nach einer zügig absolvierten Dienstfahrt, die mit beschaulichen Reisen gar nichts zu tun hatte, hart mit der Yamaha ins Gericht: »Spritverbrauch über neun Liter auf 100 Kilometer bei Tempo 180, schwerfälliges Handling, Pendeln in langgezogenen Kurven, Scheibe macht Wirbel, Gabel butterweich.« Und sein Fazit: » Alles in allem ein Motorrad, das ich niemendem empfehlen würde.«»Na, ganz so schlimm ist die XJ nun auch nicht«, kontert umgehend Service-Mann und Gebrauchtkauf-Onkel Michael Allner anläßlich einer Slovenien-Reise bei Kilometerstand 23000. Er lobt die Bequemlichkeit der Langstrecken-Yamaha, kritisiert aber ebenfalls deren hohen Verbrauch und ihre Pendelneigung in schnellen Kurven.
Mini Koch, Rennstrecken- und Druck-/Zugstufenexperte, schlägt sich wiederum auf Axel Westphals Seite und macht seiner Aversion gegen die XJ in einer Schärfe Luft, daß seine Worte an dieser Stelle nur sinngemäß wiedergegeben werden sollen. Mini hadert mit der Sitzposition, der Verkleidung, den Shimmy-Phänomenen (Flatterneigung) zwischen 100 und 30 km/h, mit dem zähen Handling, der laschen Gabel, mit dem »Eiern« auf Längsrillen, dem Schaukeln auf Bodenwellen, dem kurzen letzten Gang, dem Verbrauch und kommt zu dem subjektiven Schluß: »Diese Kiste braucht kein Mensch.« War wohl nicht dein Tag, Mini.»Diese Kiste braucht einen neuen Auspuffsammler«, heißt es dann ganz objektiv bei Kilometer 30732. Das Teil hat zwei Krümmer-Anschlußstücke abgeschüttelt und sorgt damit für den einzigen nennenswerten Schaden auf 50000 Kilometern, der allerdings Nachwirkungen zeigt: Die Dichtungen zwischen den Krümmern und dem neuen Sammler blasen in loser Folge der Reihe nach durch und müssen erneuert werden.
Mit 35000 Kilometern auf dem Tacho zieht´s die XJ erneut nach Italien. Diesmal ist Stefan Weber gesprächiger und gnädiger zur XJ: »Das Motorrad ist richtig fahrbar geworden, allerdings gibt`s immer noch Lenkerflattern.« Und wenig später sekundiert Axel Westphal: »Das kippelige Eigenlenkverhalten auf Bodenwellen ist wie weggeblasen.«Was war geschehen? Nun, die Yamaha hatte gerade wieder einmal ein anderes Pärchen Reifen spendiert bekommen. Die Reaktion der XJ auf unterschiedliche Besohlungen war dann auch Anlaß, sie noch einmal nach Spanien zu entführen: In Calafat mußte der Tourendampfer auf der Rennstrecke und im Hinterland seine Reifenprüfung ablegen und in direktem Vergleich fünf verschiedene Paar Schuhe ausprobieren (siehe Kasten Seite XX).
Und weil die Versuchsküche gerade aufgebaut war, mußte auch das XJ-Fahrwerk als Versuchskaninchen herhalten. White Power-Federn für Gabel und Zentralfederbein wurden auf ihre Tauglichkeit untersucht, den Fahrwerksschwächen der Maschine - zu weiche Frontpartie, zu unkonfortable Hinterradfederung - abzuhelfen. Die Eregbisse der Fahrversuche - solo und mit Sozius, auf der Rennstrecke und auf holprigen Landstraßen - zeichnen kein klares Bild zugunsten einer Nachrüstaktion. Die Gabel ging auch mit den holländischen Federn beim Bremsen allzuleicht auf Anschlag, während an der Hinterhand auf schlechter Wegstrecke mit White Power-Federn bei gutem Willen allenfalls einen Hauch mehr Komfort zu verzeichnen war. Anmerkung der Testcrew am Rande: Das Unterfangen, die Federvorspannung am Zentralfederbein ändern zu wollen, artet in ein unzumutbares Gefummel aus. Eine hydraulische »Fernbedienung« der Federbasis wäre bei einem Motorrad, das häufig abwechselnd im Solo- und Soziusbetrieb eingesetzt wird, eigentlich nicht zuviel verlangt.
Nicht zuviel verlangt ist bei einer Maschine vom Schlag der XJ 900 auch eine überdurchschnittliche Unempfindlichkeit gegenüber dem nagenden Zahn der Zeit, weil sie tendentiell mehr gefahren als geputzt wird. Tatsächlich präsentiert sich das Dauertestmotorrad nach zwei Wintern, viel Fahren und wenig Putzen äußerlich in gutem Erhaltungszustand. Die wenigen Chromteile strahlen in altem Glanz, die Oberflächen der »Karosserie«teile haben ebensowenig gelitten wie die Lackierung von Rahmen, Motor und Rädern. Nicht einmal verrostete Schraubenköpfe trüben das gute Bild. Die Bremsscheiben zeigen zur Laufleistung passende Gebrauchsspuren. Sie haben in der Dicke ein wenig abgenommen und sind leicht riefig, liefern aber noch längst keinen Grund, an Austausch zu denken.
Über die inneren Werte des XJ-Triebwerks geben die Messungen von Kompression und Leistung Aufschluß. Die geringen Druckdifferenzen zwischen den einzelnen Zylindern und das hohe Druckniveau deuten auf einen guten Zustand von Ventilsitzen, Kolben und Zylindern hin. Was sich dann auch auf dem Leistungsprüfstand bestätigt: Knapp 50 000 Kilometer haben den Vierzylinder kein bißchen geschwächt. Im Gegenteil, über die gesamte Drehzahlspanne hat der XJ-Motor ein wenig zugelegt. In puncto Wirtschaftlichkeit zeigte der Langstreckler Licht und Schatten. Einerseits lag er der Redaktion in Sachen Werkstatt- und Reifenkosten nicht allzu schwer auf der Tasche, andererseits stellte sich unter dem Strich heraus, daß die im Fahrtenbuch immer wieder geäußerste Kritik an der Trinksitten der Maschine nicht aus einzelnen Ausreißeren resultierten: Mit einem Durchschschnittsverbrauch von knapp sieben Litern auf 100 Kilometer zeigte sich die XJ unzeitgemäß durstig.
Vor den kommenden 50 000 Kilometern muß der Mineralölbranche nicht bange sein. Der Yamaha angesichts des guten Zwischenergebnisses auch nicht. Wie es aussieht, wird sie am Ende doch nicht von allein, sondern unter den Händen emsiger Schrauber auseinanderfallen.