Eine halbe Stunde vor dem Start des 125-cm3-Rennens in Barcelona, um genau 10.42 Uhr, wurde das Garagentor zur Zukunft im Grand-Prix-Sport aufgestoßen. Ein schwarzer, nur mit einem kargen Yamaha-Schriftzug versehener Prototyp rollte aus der Box direkt auf die Strecke, wo Testfahrer Norihiko Fujiwara zwei flotte, mit vielen Wheelies garnierte Demonstrationsrunden absolvierte.
Weil Yamaha sich bei dem Viertaktprojekt für die GP1-WM 2002 nicht in die Karten schauen lassen will und auch zweitägige Testfahrten in der Woche darauf unter strenger Geheimhaltung absolvierte, wurde die OW-M1 genannte Maschine den bereit stehenden Fotografen in der Boxengasse flugs wieder entzogen. Doch auch den Fans rund um die Barcelona-Strecke kam es vor, als hätten sie ein Phantom gesehen: Statt Formel 1-ähnlichen Gebrülls gab der über 200 PS starke GP1-Renner nur ein verhaltenes Fauchen von sich, das ebensogut von einem Serienmotorrad auf der Autobahn, allenfalls von einem Superbike hätte stammen können.
Bei satten 990 cm3 Hubraum braucht man keine offenen Rohre, um die Beschleunigungs- und Topspeedwerte einer Zweitakt-500er zu erzeugen. Komplizierte technische Experimente sparte man sich bei Yamaha ebenfalls: Weil man ein schnelleres Motorrad bauen wollte, ohne dabei Erreichtes aufzugeben, wurde der neue Viertakter in das bewährte Fahrwerk der Zweitakt-YZR 500 eingepflanzt. Quadratisch, praktisch, gut ist auch der Motor selbst, ein konventioneller Reihenvierzylinder mit fünf Ventilen pro Zylinder. »Vom Leistungskonzept her ist der Reihenvierzylinder die einfachste Übung. Symmetrischer Aufbau, gleich lange Auspuffanlagen, genügend Platz für Vergaser oder Einspritzanlage. Mit einem V-Motor hast du im Vergleich dazu nur Kalamitäten«, weiß der österreichische Konstrukteur Harald Bartol.
Die rechte Begeisterung mochte bei den Stars, die die OW-M1 bislang bewegten, allerdings trotzdem nicht aufkommen. John Kocinski kam in Malaysia zwar schon knapp an jene Zeiten heran, die Carlos Checa ein Jahr zuvor mit der YZR 500 erreicht hatte. Die Laune von Superbike-Spezialist Noriyuki Haga verflog bei ersten Probefahrten dagegen schnell. »Es stimmt, ich hasse die Zweitakter und kann es nicht erwarten, bis ich wieder mit einem Viertakter Gas geben kann. Doch eine Siegermaschine ist das neue Motorrad gewiss noch nicht es ist schwerfällig und vermittelt kein Gefühl für Fahrwerk und Reifen«, urteilte der Japaner.
Dabei beherrscht Haga noch die Kunst, das Bremsmoment des Motors beim Einbiegen in die Kurve durch artistischen Umgang mit dem Gasgriff im Zaum zu halten. Den Zweitaktspezialisten ist es hingegen ein Greuel, dass ein Viertakter beim Schließen des Gasgriffs nicht einfach weiter rollt, sondern so verzögert, dass beim Erreichen der Maximalschräglage Sturzgefahr besteht.
Yamaha experimentiert mit mehr Schwungmasse an der Kurbelwelle und mit einer drehmomentbegrenzenden Kupplung, um diesen Effekt zu verringern. Trotzdem hält Max Biaggi bei den Zukunftsperspektiven den Ball ebenfalls flach. »Im nächsten Jahr werden die Zweitakter noch voraus fahren«, argwöhnte der Römer.
Bis dahin will sich auch Suzuki Zeit lassen, bevor der Rennbetrieb des Werksteams von Zwei- auf Viertakter umgestellt wird. Das geheimnisvoll XRE0 genannte Projekt XR steht bei Suzuki für Rennmaschinen, E bedeutet Evolution und 0 die Modellnummer ist noch konsequenter als die Yamaha OW-M1 an die bestehende Zweitakt-500er angelehnt. Denn Suzuki übernimmt bis auf eine modifizierte Motoraufhängung nicht nur das bestehende Fahrwerk, sondern auch die Motorkonfiguration mit vier Zylindern in V-Form, die mit 990 cm3 Hubraum, vier Ventilen pro Zylinder und elektronischer Benzineinspritzung mit zwei Einspritzdüsen pro Zylinder satte 210 PS produzieren sollen.
Während sich Suzukis Projekt noch im Anfangsstadium befindet, ist Honda schon fast fertig. Bei einer mächtigen Party am Samstagabend wurde in Anwesenheit von Altstars wie Toni Mang, Freddie Spencer, Luca Cadalora, Mick Doohan, Luigi Taveri und Jim Redman die historische Zahl von 500 Grand-Prix-Siegen gefeiert und eine Ära in die Vergangenheit verabschiedet. Gleichzeitig gab Honda einen Vorgeschmack auf die neue GP1-Epoche. Erst flimmerte ein Video von Tests in Sugo über den Bildschirm, worauf die V5-Honda nicht nur schnell aussah, sondern auch mit dem kernigen Ton eines echten Rennviertakters Herzklopfen erzeugte. Dann wurde der leibhaftige V5-Motor enthüllt, und Freddie Spencer, Pionier auf der legendären V4-NR 500 mit ovalen Kolben Anfang der 80er Jahre, schwelgte in Erinnerungen. »Das Motorrad drehte unglaubliche 21 500 Touren, der nutzbare Drehzahlbereich umfasste nur 3000 Touren. Mein erstes Rennen mit dieser Maschine, ein Fünf-Runden-Sprint in Laguna Seca, habe ich 1981 gegen Kenny Roberts gewonnen, und der war immerhin amtierender Weltmeister«, schmunzelt Fast Freddie, der heute Motorrad-Fahrlehrgänge in Las Vegas durchführt. »Doch eine Woche später ging es nach Silverstone, und gegen die Halbliter-Zweitakter sahen wir alt aus. Nicht mangelnde Leistung, sondern die Gewichtsverteilung machte uns zu schaffen. Die Maschine hatte ein störrisches Fahrverhalten.«
Doch Honda »hat die Erfahrungen der NR 500 sorgfältig ausgewertet«, wie Yasuo Ikenoya, Präsident der Honda Racing Corporation (HRC), erklärte. »Bei der Suche nach dem richtigen Konzept hatten wir drei Entwicklungsziele: die Fahrzeugmasse zu konzentrieren, eine möglichst kleine Stirnfläche zu schaffen und möglichst viel Trakation zu erzeugen. Ein V5 erschien uns als der beste Weg.«
Eine Maschine mit Sechszylindermotor kam wegen des hohen Mindestgewichts von 155 Kilogramm nicht in Frage (siehe Reglement im Kasten auf Seite 154), ein V2-Triebwerk nach dem Vorbild des Honda-Superbikes schied wegen der erforderlichen Bauhöhe aus. Die Idee eines V4 wurde schon ernsthafter diskutiert, am Ende aber zugunsten des V5 verworfen. Bei Hondas GP1-Kraftquelle mit 990 cm3 Hubraum zeigen drei Zylinder nach vorn und zwei nach hinten. Die Zylinder des Vierventilers mit je zwei obenliegenden, zahnradgetriebenen Nockenwellen sind im 90-Grad-Winkel angeordnet. Gut zu erkennen ist das horizontal geteilte Motorgehäuse, das sich für eine spätere Großserienproduktion des V5 geradezu anbietet.
Der nutzbare Drehzahlbereich dürfte mit konventioneller Ventilsteuerung bis etwa 15 000/min reichen, dank eines hochmodernen Einspritzsystems soll der Spritverbrauch so gering bleiben, dass der vorgeschriebene 24-Liter-Tank für eine Renndistanz ausreichen wird. Verlegt wird der Tank unter die Sitzbank, um möglichst viel Gewicht ins Zentrum der Maschine zu rücken. Experimentiert wird noch mit mechanischen und elektronischen Systemen zur Verringerung der Motor-Bremswirkung, auch die Zündfolge der fünf Zylinder ist noch nicht endgültig festgelegt. Doch daran, dass die RC 211 V bis zur Feuertaufe beim ersten Grand Prix 2002 konkurrenzfähig sein wird und Honda auf Anhieb siegen will, besteht kein Zweifel. »Honda baut nicht nur gute Motorräder. Als erfolgreichstes Werk mit dem meisten Geld und den größten Sponsoren können sie auch die besten Piloten verpflichten. Eine Kombination, die schwer zu schlagen ist«, überlegte Stargast Toni Mang. Freddie Spencer ging sogar noch einen Schritt weiter. »Es würde mich nicht wundern, wenn Honda schon 2002 mit dieser Maschine die Weltmeisterschaft gewinnen würde!«
GP1-Prototypen :Das Tor zur Zukunft
Demorunden von Yamaha, eine Motorpräsentation bei Honda: Die GP1-Zukunft hat beim GP Katalonien begonnen.