Voge 650 DSX im Intensiv-Test

Voge 650 DSX im Intensivtest
Einzylinder-Reiseenduro mit 48 PS

Zuletzt aktualisiert am 15.05.2023

Aufruhr am Motorradtreff: Bewunderer umkreisen neugierig diese futuristisch-aggressiv gestylte Maschine mit dem markant stechenden Blick. "Ist das eine Kawasaki?", will jemand wissen. Nein, Reiseenduros mit Einzylinder-Motor aus Japan und Europa gibt es schon länger nicht mehr. Hat niemand den schön blau verfärbten, einzelnen Krümmer bemerkt? Nun, dies ist die frische, 48 PS starke Voge 650 DSX aus China. Hinter Voge (gesprochen "Woutsch") steht der Konzern Loncin, immerhin Kooperationspartner von BMW.

Single wie von BMWs Ur-F-650 von 1994

Ab 2007 fertigte Loncin für BMW den 650er-Motor der G 650 Xcountry. Da lag wohl die passende Kopiervorlage in Loncins Entwicklungsabteilung herum. So übernahm der Single der Voge exakt jene 652 cm3 der einstigen Rotax-Motoren, inklusive identischer Werte von Bohrung und Hub: Ein 100er-Kolben bewältigt 83 Millimeter Hub zwischen den Totpunkten, ganz so wie bei BMWs Ur-F-650 aus dem Jahr 1994. Nun, Kopieren gilt in China ja generell als Zeichen der Ehrerbietung. Motto: Wer baut schon Schund nach?

Abschaltbares Bosch-ABS

Zumal die Voge 650 DSX den konstruktiv bewährten Single mit gehobener Ausstattung kombiniert. Wir notieren: Nissin-Bremsen mit im Geländebetrieb abschaltbarem ABS von Bosch, Federelemente von Kayaba, Drahtspeichenräder (vorn 19, hinten 17 Zoll) mit Schlauchlosreifen von Pirelli, Voll-LED-Beleuchtung mit schicken Lauflicht-Blinkern, verstellbarer Windschild, Sturzbügel, Hauptständer und Gepäckbrücke mit Haken ebenso serienmäßig wie gezackte Enduro-Fußrasten mit abnehmbarer Gummi-Auflage. Es gibt einstellbare Handhebel, Warnblinker, Edelstahl-Auspuffanlage und USB-Ladebuchse im Cockpit plus Bordsteckdose im linken Seitendeckel. Uff.

Ein Glanzpunkt ist das kontrastreiche, klar anzeigende TFT-Cockpit. Es beinhaltet Ganganzeige, vermeldet den Reifenfülldruck vorn und hinten, Uhrzeit, Durchschnittsverbrauch und Batteriespannung, hat einen Anzeige-Modus für Tag und Nacht sowie Connectivity-Funktion zum Smartphone. Die ein oder andere Anzeige könnte etwas größer sein, der Drehzahlmesser ist etwas schlecht ablesbar gestaltet. Aber das hat man bei etablierten Herstellern auch schon schlimmer gesehen. Dass der Lauflichtblinker erst mal drei Sekunden nur leuchtet und nicht blinkt, ist beim schnellen Ausscheren oder im Kreisverkehr aber blöd.

Voge 650 DSX mit stolzen 850 mm Sitzhöhe

Jetzt will die Voge 650 DSX geentert werden. Nicht ganz einfach. Trotz ausgeprägt tiefer Sitzmulde – die mächtig wirkende Voge ist ein hochbeiniges Motorrad. Bei stolzen 850 Millimetern Sitzhöhe müssen Kurzbeinige fußeln. Dann sind dabei noch die weit vorn angebrachten Fußrasten im Weg.

Das Herzstück der Voge 650 DSX, ihr Single, startet spontan, erwacht mit einem schönen, satten Schlag. Der Einzylinder klingt dumpf, bollert angenehm, doch nicht aufdringlich. Schon bald nach dem Kaltstart regelt das digitale Motormanagement die Leerlauf-Drehzahl auf ein moderates Niveau herunter. Die Seilzug-Kupplung lässt sich zwar mit zwei Fingern ziehen, rückt aber erst auf dem letzten Millimeter Hebelweg ein und ist daher nicht ideal dosierbar. Der erste Gang rastet wie seine vier Kollegen in der Gangbox exakt. Allein die Schaltwege beim Hoch- wie Runterschalten fallen ziemlich lang aus. Butterweich und berechenbar hängt der Single von Anfang an am Gas. Da haben die chinesischen Software-Applikateure gut gearbeitet. Selbst aus dem Schiebebetrieb heraus geht beim Wieder-ans-Gas-Nehmen kein Ruck durch die Maschine. Kompliment. Der Motor präsentiert mit steigender Drehzahl eine völlig linear-gleichmäßige Leistungszunahme. Er gibt sich relativ elastisch, bietet fleischiges Drehmoment in der Mitte.

Real mit 46 statt 48 PS und 221 Kilo

Punch ist durchaus vorhanden. Charaktervoll serviert der China-Single 48 PS – real traben 46 Pferde an. Subjektiv zieht der Single tapfer. Doch spätestens im lang übersetzten fünften Gang wird’s zäh, der Durchzug ist ziemlich mau, die Fahrleistungen sind eher mittelprächtig.

Dieses große Motorrad wiegt ja auch moppelige 221 Kilogramm. Trotzdem reicht es, um beim Ampelstart fast jedes Auto stehenzulassen. Vmax sind 160 km/h, mehr ist nicht drin (auch wenn der Tacho auf der Autobahn mal 170 km/h angezeigt hat). Eine BMW F 650 GS Dakar mit Kopiervorlagen-Motor (der drückte echte 50 PS) wog "nur" 203 Kilogramm.

Voge 650 DSX verbraucht 3,8 Liter/100 km

Vor fast 20 Jahren konsumierte die 650er-BMW noch einen Tick weniger Benzin. Trotzdem sind die 3,8 Liter der 650er-Voge bei vorsichtiger Fahrweise auf Landstraßen annehmbar. Dies ergibt satte 473 Kilometer Reichweite. Reiseenduro eben.

So lange hält man es aber im brettharten Fahrersitz der Voge 650 DSX nicht aus. In der Mulde sitzt es sich unverrückbar, und man hat das Gefühl, unter dem Bezug direkt auf einer Holzbank zu hocken. Der hohe, breite Lenker lässt einen aufrecht erhaben thronen. Passt bestens offroad beim Fahren im Stehen. Doch im Sitzen wünscht man sich den Lenker einen Tick niedriger, zumal für Leute über 1,80 m die ganze Ergonomie durch den tiefen Sitz und weit vorn abgestellte Füßen doch sehr "eigenständig" wirkt.

6. Gang wäre eine gute Idee

Marternd sind außerdem die metallisch-harten Vibrationen des Singles. Extremes Kribbeln ist spätestens auf der Landstraße spürbar. Was die Voge 650 DSX präsentiert, ist kein sanftes Pulsieren mehr, keine Seelenmassage auf Rädern. Sondern einfach nervtötend. All dies wird bei Schnellstraßen-Tempo unangenehm bis belästigend-brutal. Vielleicht wäre ein sechster Gang zum Absenken der Drehzahl ja eine gute Idee. Die Pendelneigung bei über 140 km/h um den Lenkkopf auf der Autobahn könnte der aber auch nicht ausmerzen.

Komfort kommt auf der Voge 650 DSX zu kurz. Das unnachgiebige Federbein erhöht die chinesische Folter der Sitzbank noch und sackt beim Aufsteigen kaum ein, das Heck bleibt fast in Nulllage. Ein Beleg für eine zu hart gewählte Feder. So lässt sich der volle Federweg hinten kaum jemals ausnutzen.

Erst mit Sozius überredet man das Federbein zur Arbeitsaufnahme. Selbst im Gelände sollte die Federung im Heck sensibler arbeiten. Sinnvoller wäre eine weichere Feder mit deutlicher Progression. Zum Glück weiß die ordentlich ansprechende Upside-down-Gabel nichts von der Abstimmung im Heck. Sie hat 180 Millimeter Federweg und wirkt eher weich, das kostet etwas Feedback und Vertrauen.

Herrlich handlich

Das Souveräne einer Reiseenduro, völlig gelassen zu bleiben, wenn es straßenbautechnisch knüppeldick kommt, geht leider verloren. Schade, denn die Ansätze sind gut, spaßig-quirlig sogar: Herrlich handlich und leicht klappt die Voge 650 DSX ab. Sie rollt locker-fluffig und behände durchs Kurvendickicht, zieht präzise und berechenbar ihre Bahn. Sofern welliger Asphalt das straffe Federbein nicht aus der Ruhe bringt. Pirelli-Pneus des Typs Scorpion STR Rally "made in China" rollen kalt etwas hölzern ab und haften warmgefahren gut.

Immerhin ist die Schräglagenfreiheit beinahe unauslotbar. Erst spät nehmen die Stiefelspitzen noch vor den Rasten Bodenproben. 24 Zentimeter Bodenfreiheit unterm Auspuff-Kiel sind ein guter Wert. Doch die Aufnahmen des Hauptständers ragen vier Zentimeter weiter nach unten. Also Vorsicht beim Kletterern über Geröll.

"etwas anstrengend zu fahren"

Beim schnellen Hin- und Herwerfen auf Bilderbuch-Asphalt wiederum versteift sich die Voge 650 DSX kräftezehrend. Ist offensichtlich der Tribut an den hohen Schwerpunkt und die schweren Speichenräder samt daraus resultierenden Kreiselkräften.

Löblich: Die Voge 650 DSX hält selbst enge Radien. Allenfalls in Kehren kippt die sonst recht neutrale Voge von allein etwas weiter ab. Timo Morbitzer, als Tester bei MOTORRAD ein Freund der schrägen Gangart, findet die Voge 650 DSX alles in allem "etwas anstrengend zu fahren".

Vorn bremst eine Doppelscheibe, das ist gar nicht typisch für 48-PS-Bikes. Die Nissin-Stopper benötigen etwas Handkraft, ihr Dosierbereich fällt trotz harten Druckpunkts eher klein aus. Das Bosch-ABS regelt manierlich, doch mit etwas langen Intervallen. Bei einer Vollbremsung kann das Hinterrad ganz minimal den Bodenkontakt verlieren. Positiv: Gänzlich ohne Aufstellmoment kann man herzhaft in Kurven reinbremsen. Für reinen Offroad-Betrieb lässt sich das ABS abschalten, komplett vorn und hinten. Unser Testbike quietschte allerdings mächtig mit der Vorderrad-Bremse.

Dreifach höheneinstellbare Scheibe

Für einen Mitfahrer ist der Kniewinkel im Gegensatz zu dem des Fahrers dank tief liegender Sozius-Rasten offen-entspannt. Zudem ist der hintere Sitz deutlich weicher gepolstert und von recht tauglichen, an den Gepäckträger integrierten Haltegriffen flankiert. 189 Kilogramm Zuladung sind okay. Den Fahrer schirmt die dreifach höheneinstellbare Scheibe ziemlich gut ab: Allenfalls die Schultern liegen im Fahrtwind, der Helm befindet sich je nach Rumpflänge recht ruhig in laminarer Strömung. Zum Verstellen muss man anhalten und den langen Drehknauf raus- und wieder aufschrauben, um insgesamt sieben Zentimeter Höhenunterschied auszuprobieren.

Sicherheit beim Wenden auf engsten Sträßchen gibt der enge Wendekreis von 4,10 Metern. Die Laufblinker sind zwar adrett, strahlen aber nicht gerade hell. Gilt auch für das fleckige, nicht besonders erhellende LED-Abblendlicht. Nachts in Kurven braucht es zusätzlich das kräftige, aber wenig weitreichende Fernlicht. Durchaus fein präsentiert sich das Oberflächen-Finish. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich hier und da grobschlächtigere Detaillösungen. Die Auspufftülle (Austrittsöffnung) ist nicht perfekt kreisrund gefertigt, und der Versteller des Kupplungshebels ging entzwei. Der Test zeigt: die Kopie eines älteren Motors und ein hübsches Drumherum allein reichen nicht. Da muss Voge schon noch zulegen!