Vorstellung Honda RC 450 F
Unbekanntes Flugobjekt

Das lange Spekulieren hat ein Ende. Honda setzte den seit Jahren erwarteten neuen Viertakt-Crosser erstmals bei einem Rennen in Japan ein – doch die technischen Details bleiben weiterhin unbekannt.

Die Szene erinnert an die glorreichen Jahre des Motorradsports in den sechziger Jahren. Auf jedem Meter, auf dem die neue Viertakt-Motocross-Maschine von Honda außerhalb der Rennstrecke im japanischen Saitama nahe Tokio bewegt wird, schirmen übergeworfene Decken die Neuentwicklung des weltgrößten Motorradherstellers vor neugierigen Blicken ab. Verständlich? Kaum, denn der Auftritt des Viertakters war längst überfällig.
Rückblick. Das Jahr 1997. Die Werksmaschine Yamaha YZF 400 läutet eine neue Ära im Motocross-Sport ein – der des kleinen, kompakten Viertaktmotors, der in einem Fahrwerk in den Dimensionen eines Viertelliter-Zweitakt-Crossers steckt. Im Frühjahr 1998 steht die Serienversion der 400er bei den Händlern. Auf Anhieb ein Markterfolg. 1999 holt Yamaha mit der Werksmaschine den WM-Titel, KTM antwortet mit dem Prototyp der 520er-Racing auf das neue Konzept. Achtungserfolgen in der letzten Saison folgt die souveräne Weltmeisterschaft in diesem Jahr, die Serien-KTM und ein Verkaufsrenner. Auch Suzuki springt zu Beginn dieses Jahres auf die Bühne der neuen Offroad-Viertakter. Die DR-Z 400 lässt aber die kompromisslose sportliche Ausrichtung vermissen und muss sich bislang mit einer Nebenrolle begnügen.
Insofern ist die Entwicklungsrichtung künftiger Generationen von Offroad-Maschinen im Sog der Schrittmacher vorgegeben: der Viertakter wird auch auf Stollenrädern das dominierende Motorenkonzept der Zukunft sein. Zum einen wegen geringerer Schadstoffemissionen, die sich durch die Option einer Einspritzung weiter verringern lassen, und zum anderen dank der universelleren Einsatzmöglichkeiten dieser Basis vom Vollblut-Crosser über die gemäßigte Wettbewerbsmaschine bis hin zur sportlichen, zulassungsfähigen Alltagsenduro. Moderate Hubräume zwischen 400 und 520 cm3 erlauben besagte kleine Motordimensionen und damit schlanke und leichte Fahrwerke. Zudem außerordentlich wichtig: Die geringen oszillierenden Massen dieser Viertaktmotoren ermöglichen es, dass auch das Handling auf dem Niveau der spielerisch leicht zu fahrenden Zweitakt-Maschinen bleibt.
Zurück zur Honda. Entgegen der in MOTORRAD 23/2000 geäußertenVermutung dürfte der Hubraum um 450 cm3 liegen. Der Grund: In der japanischen Meisterschaft sind in der 250er-Kategorie Viertaktmaschinen bis 450 cm3 Hubraum zugelassen. Zudem werden ab der Saison 2003 auch in der 250er-Motocross-WM Viertakter bis 450 cm3 Hubraum erlaubt sein, in der 500er-WM wird ein Mindesthubraum von 475 cm3 gefordert. Der neue Motor könnte also mit minimalen Änderungen in beiden WM-Klassen eingesetzt werden. Auf den ersten Blick bietet das Aggregat wenig Überraschungen: konventionelles Design mit dem im Viertakt-Bereich derzeit üblichen Keihin-Flachschieber-Vergaser. Rätsel gibt lediglich der Ventiltrieb auf. Eine einzelne obenliegende Nockenwelle kommt für die in dieser Hubraumklasse notwendigen hohen Drehzahlen von mindestens 10 000 Umdrehungen kaum in Betracht. Für zwei über Kette angetriebene zwei Nockenwellen erscheint der Zylinderkopf aber zu kompakt. Ein einzelner, außermittiger Lagersitz (siehe Foto unten links) am Zylinderkopf lässt auf einen Ventiltrieb schließen, bei dem zunächst nur eine Nockenwelle per Kette oder Stirnräder von der Kurbelwelle angetrieben wird. Über ein weiteres Stirnradpaar könnte von dieser Einlassnockenwelle dann die Auslassnockenwelle angetrieben werden. Ein platzsparendes System, das gerade im raummäßig beengten Bereich zwischen den Rahmenprofilen durchaus seine Berechtigung besitzen könnte.
Thema Rahmen. Bei der Fahrwerkskonstruktion bleibt Honda seiner bisherigen Vorreiter-Rolle im Motocross-Bereich treu und verwendet einen Brückenrahmen aus steifen Aluprofilen. Verständlich, denn neben Marketing-Vorteilen ermöglicht diese Rahmenauslegung, dass der relativ hoch bauende Viertakt-Zylinderkopf ideal zwischen den Rahmenrohren Platz findet. Eine extrem dünne Sitzbank, wie sie Yamaha den 426er-Piloten als Folge des hohen Motors zugunsten einer moderaten Sitzhöhe zumutet, oder eine unzureichende Bodenfreiheit bleibt dem neuen Honda-Crosser damit erspart.
Auch wenn die technische Sensation beim lang ersehnten Honda-Viertakter weitgehend ausblieb, stellte er seine sportliche Leistungsfähigkeit auf Anhieb unter Beweis. Honda-Werksfahrer Sébastien Tortelli holte trotz internationaler Konkurrenz beim japanischen Saisonfinale in Saitama mit ihm den Gesamtsieg. Und dass der Franzose derzeit Honda zu überreden versucht, ihn mit der RC 450 F bereits in der nächstjährigen US-Meisterschaft auf Titeljagd zu schicken, dürfte über das Potenzial des Neulings schon zu diesem Zeitpunkt genug aussagen.

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