Der Testalltag zwingt jeden Testredakteur in ein enges Korsett. Die eigene Denke orientiert sich streng am 1000-Punkte-Plan. Wohl und Wehe eines jeden Zweirads gefangen im Raster objektivster Bewertung. Verbrauch, Fahrleistungen, Brems-Performance – alles fließt feinsäuberlich als unumstößliche Datensammlung in die finale Beurteilung. Das trifft den technischen Kern eines jeden Motorrads – aber nicht zwingend vollständig sein Wesen, seinen Charakter. Deshalb musste für diesen Vergleich was anderes her, weniger Sachlichkeit, mehr Wagnis. Drei Scrambler – BMW R nineT Scrambler, Ducati Scrambler Classic und SWM Silver Vase – standen schon gespannt wie Flitzbögen in den Startlöchern. Der geneigte Leser würde jetzt einwerfen, dass der Vergleich doch längst entschieden wäre – schließlich ist ein bajuwarisches Krad mit dabei!
Ein Grund mehr, den üblichen Rahmen aufzubrechen, nach einem neuen Vergleichsumfeld zu suchen. Der Testchef nickt ab, wir haben freie Hand. Am nächsten Tag stehen die drei Bikes BMW R nineT Scrambler, Ducati Scrambler Classic und SWM Silver Vase im Transporter. Im Dunkel des Laderaums reisen sie quer durch Deutschland, bevor sie ein Kleinod für stollenbereifte Motorrad-Fans im Glanz der letzten Abendsonne empfängt. Hier sind wir richtig. Der sachte Wind pustet uns salzige Luft ins Gesicht, das gewünschte und legal befahrbare Ziel namens Strand liegt nur einen Steinwurf entfernt. An diesem Ort sollen die Scrambler zeigen, ob das Thema Offroad wirklich in ihren Seelen aus Stahl, Alu und Leder steckt. Wo genau wir unser Lager aufschlagen, verschweigen wir lieber. Der Geheimtipp möge ein solcher bleiben.
Grobstöller für mehr Freude im Sand
So ganz lässt sich das tief in der Testerseele verankerte Streben nach Vergleichen, nach der eigentlichen Frage des Besseren aber nicht abschütteln, weshalb der nächste Tag geprägt ist von spannenden Wettkämpfen. Einfach nur so durch den Sand zu fräsen, wäre nicht angemessen. Da muss ein Mehrwert her, ein Fünfkampf Motorrad gegen Motorrad, ohne die Ernsthaftigkeit jemals in den Vordergrund zu stellen. Um diesen Anflug von Seriosität angemessen zu bedienen, zieren die Felgen der BMW R nineT Scrambler frische Karoo 3. Die Grobstöller versprechen im Sand mehr Freude als die serienmäßig montierten Tourance Next. Mit dieser Umrüstaktion sind fast alle Vorbereitungsmaßnahmen abgeschlossen. Schnell noch die Spiegel abgeschraubt, denn was nicht dran ist, kann auch nicht kaputtgehen, und die ersten Sandfontänen sind unsere.
Nachdem sich Mensch und Maschine an den für sie neuen Untergrund gewöhnt haben, eröffnen wir die Spiele. Contest Nummer eins widmet sich der Beschleunigung im direkten Duell. Drei unterschiedliche Hubräume, 1170 cm³ bei der BMW R nineT Scrambler, 803 cm³ bei der Ducati Scrambler Classic und 445 cm³ bei der SWM Silver Vase 440, drei völlig verschiedene Leistungen (BMW: 110 PS, Ducati: 73 PS, SWM: 30 PS) und drei Durchgänge. Top-Tester Schorschi prustet auf der Italienerin aus Borgo Panigale noch schnell sein Selbstbewusstsein heraus: „Bevor ihr eingekuppelt habt, bin ich schon längst weg …!“ Stefan, auf der BMW, und der Autor auf der SWM tauschen kurz einen flüchtigen Blick aus. Jetzt erst recht. Die Flagge fällt, die Motoren brüllen los. Sand schießt von den Hinterrädern hoch. Mehr quer als geradeaus fräsen sich die drei nach vorn. Und am Ende von Lauf eins hat die SWM die Nase vorn. Nimm das, Top-Tester.
Material für eine Foto-Love-Story vorhanden
Der Schlag saß wie der gut getimte Haken eines Boxers auf den ungeschützten Solarplexus. Bäm. Doch bevor Schorschi komplett die Fassung verliert, Start frei für Lauf Nummer zwei. Stefan hat auf der BMW R nineT Scrambler die optionale Traktionskontrolle aktiviert. Der dicke Boxer schiebt unnachahmlich wie ein Panzer im tiefsten Matsch nach vorne. Die anderen beiden versinken im Sandstrahlbad. Bei Lauf drei steht der Beschleunigungsverbesserer wieder in Off-Position. Die SWM Silver Vase 440 bricht hinten massiv aus, münzt ihre paar PS nicht im Vortrieb, sondern in Querbeschleunigung um. Die Linie der BMW liegt exakt im Einschussfeld. Kontakt, Gas raus, der Lauf ist verloren. Endlich hat es Schorschi auf der Ducati Scrambler Classic nach vorne geschafft.
Nach so viel Aufregung braucht’s jetzt etwas Ruhigeres. Weite Strände sind wie gemacht fürs Drachensteigen. Das müsste sich auch mit einer Soziuswertung vereinen lassen. Fahrer vorne, Beifahrer hinten, und die Schnur zum Flugobjekt immer schön gespannt halten: Vorhang auf für Aufgabe Nummer zwei – Drachensteigen vom Motorrad aus. Um es kurz zu machen: Die SWM Silver Vase meistert das am besten, gewinnt die Soziuswertung zwischen Brandung und Dünen. Der Grund: ihr Haltebügel. Punkt. Was aber egal ist, weil Fahrer und Beifahrer auf allen dreien selten in solcher Eintracht und Glückseligkeit auf einem Motorrad gesessen haben. Das böte genug Material für eine Foto-Love-Story und das Potenzial für einen Krankenkassen-verordneten Slowdown aus dem stressigen Alltag.
„Hinfallen unter 30 km/h zählt nicht als Sturz“
Bevor sich die nach oben gezogenen Mundwinkel nur noch unter Zuhilfenahme roher Gewalt und eines Bohrhammers aus den Gesichtern kloppen lassen, wieder zu etwas Anstrengenderem. In Anlehnung an den Top-Test-Slalom-Parcours folgt nun Tiefsandwedeln mit rasanter Kehrtwendung. Stefan prescht mit der BMW R nineT Scrambler durch die Schwünge. Seine Enduroerfahrung hilft, den 220 Kilo schweren Boxer auf Kurs zu halten. Den Rest erledigt das turmhohe Drehmoment von 116 Nm bei 6000 Umdrehungen des Flattwins zusammen mit den Grobstöllern im Format 120/70 R19 und 170/60 R17 auf den Felgen. Am Wendepunkt schickt er das Hinterrad mit viel Gas auf die äußere Umlaufbahn, formt eine Furche in den Sand, die in ihren Ausmaßen der Tiefe des Marianengrabens gleicht. Jedenfalls ungefähr. Und auch nur, bis sich das Vorderrad dazu entschließt, zielführende Traktion zu verlieren. Durch den großen, schicken, aber weit nach hinten reichenden Stahltank bekommt Stefan nicht genug Druck auf die Front. Einen kurzen Gasstoß der Hoffnung auf Stabilisierung schickt er noch gen Hinterrad, dann nehmen die hervorstehenden Zylinder ihr Bett im weichen Strand. Der Fotograf jubelt. Sein Credo: Die besten Bilder sind immer die kurz vorm Sturz. Stefan zischt zurück: „Hinfallen unter 30 km/h zählt nicht als Sturz.“ „Na dann noch mal bitte“, wirft der Mann am Auslöser zurück.
Georg ahnt nichts Gutes. Bemüht behände bugsiert er die Ducati Scrambler Classic durch die Rechts-links-Abfolge. Der 18-Zöller der Abmessung 110/80 vorne drückt ihm seinen Willen auf, verlangt vollen Einsatz an der breiten und hohen Lenkstange, um halbwegs auf Kurs zu bleiben. Am Wendepunkt klebt der Sand wie Schmiere zwischen den zarten Profilblöcken der MT60-Reifen von Pirelli. Traktion am fetten 180/55er-Hinterreifen bleibt Wunsch, nicht Wirklichkeit. Dennoch gelingt es Schorschi, die Duc im beachtlichen Drift um 180 Grad zu drehen – ohne Bodenprobe wohlgemerkt. Die SWM Silver Vase 440 folgt als Nächstes. Als völliger Sand-Novize versucht der Autor, Nicht-Können durch Mut an der Gashand auszugleichen. Das fühlt sich innerlich an, als ob die bis dato unbekannten Gene aus dem Erbmaterial-Pool von Ken Roczen endlich zum Vorschein kämen, nach außen hin sieht’s anders aus. Es ist ein Kampf, es bleibt ein Kampf. Die SWM wühlt sich zwar ob ihrer geringen, gut beherrschbaren Leistung durchaus anfängertauglich durch den Sand. Wenn es drauf ankommt, vermittelt sie aber klar und deutlich, dass ihr lässiges Tuckern mehr liegt als spontane Rasanz. 36 Nm bei 5500/min sind eben nicht allzu viel. Trotzdem: Für zarte Drifts und Bodenproben zur Erforschung der genauen Sandkornform reicht es auch mit ihr. Unterm Strich geht damit diese Aufgabe an die BMW R nineT Scrambler, die mit Schmackes Boden gutmacht. Aber wehe, Speed und Schräglage finden nur kurz nicht zusammen, dann geht’s abwärts. Ein Werkzeug für Experten.
Wasserdurchfahrt und das Tiefsandfeld
Was nicht nur diese meistern sollten, sind Wasserdurchfahrten. Der Boden glitschig, die Fontänen hoch, das bringt im Ergebnis beeindruckende Bilder und die Erkenntnis, dass das Material hält. Ein undichter Kerzenstecker, lieblos verlegte Elektrik oder schlechte Steckverbindungen mögen die Salzdusche gar nicht. Um daher die Qualität des Materials lückenlos zu testen, stand diese Prüfung als Nummer drei mehrmals auf dem Programm. Beteiligte Zeitgenossen haben sich nur darüber gewundert, dass der Fotograf just in dem Moment mit der begleitenden Knipserei fertig war, als auf den feschen Kleidern der Tester kein trockener Fleck mehr zu entdecken war. Wir stempeln das als Einzelfall ab und freuen uns lieber darüber, dass weder BMW R nineT Scrambler noch Ducati Scrambler Classic oder SWM Silver Vase 440 das Bad im salzigen Meerwasser vordergründig etwas anhaben konnte. Allein die Silver Vase nervte in der Folge zunehmend mit harten Aussetzern, zudem verweigerte ihre Benzinpumpe einmal den Dienst. Diese Tücken blieben auch nach gründlicher Wäsche erhalten. War wohl nicht ganz ihr Tag.
Eine letzte Prüfung wartet noch: Das Tiefsandfeld vor uns erstreckt sich auf gut 200 Meter Länge. Einmal hin, einmal zurück – und das möglichst flott. Wie ein Lanz Bulldog stampft die BMW R nineT Scrambler voran. 1.522 Millimeter Radstand und ein 61 Grad flacher Lenkkopfwinkel sind hierfür ideale Zutaten, weswegen ihr Speed beeindruckt. Der Boxer schiebt und schiebt. Das Vorderrad tänzelt, sucht sich seine Spur. Stefan korrigiert mit zarter Hand am Alulenker. Dann steht die Bayerische wieder am Ausgangspunkt. Die SWM Silver Vase 440 will es ihr gleichtun. Doch dem Autor sackt das Herz in die Hose. Ihr Lenkkopfwinkel steht zwar mit 62 Grad auch eher flach und fördert damit die Stabilität, ihr Radstand fällt mit 1.427 Millimetern aber ungleich kürzer als bei der BMW aus. So müht sich der 445er-Motor in Gangstufe eins zwar tapfer durch diese Prüfung, an die BMW kommen Fahrer und Motorrad aber nicht heran. Was ausnahmslos am Piloten liegt. Angst essen eben Rundenzeiten auf. Daran gibt es nichts zu rütteln. Fehlt noch die Ducati Scrambler Classic. Schorschi will es jetzt wissen. Nimmt nicht das Sandfeld ins Visier, sondern sogar die daneben liegende Düne, quasi ein Sandfeld mit Anstieg. Wenn das klappt, stünde der Sieger dieser Prüfung fest. Zweifel sind aber angebracht.
Schließlich besitzt die Ducati Scrambler Classic mit einem Radstand von 1445 Millimetern und einem steilen Lenkkopfwinkel von 66 Grad klar die am stärksten auf Straßeneinsatz ausgelegten Werte, will mehr handlich ums Eck rennen als ultrastabil geradeaus. Den Top-Tester juckt das in diesem Moment nicht. Er holt Schwung, der Anlauf stimmt, die Italienerin gräbt sich mit durchdrehendem Hinterrad den Hang hoch, ihr luftgekühlter Desmo-Zweizylinder jubelt, und doch scheitern Mensch und Maschine. Kurz vorm tiefen Gipfel steht die Fuhre wie willentlich geparkt im Sand. Da helfen nur sechs Hände und ein Hauruck, um das Motorrad wieder freizubekommen. Schorschi gibt sich nicht geschlagen. Noch mehr Gas, noch mehr Anlauf, nicht zucken – und er hat es geschafft, blickt triumphierend in die Runde. Manchmal sind es eben wirklich Kleinigkeiten, die gestandene Männer glücklich machen. Und weil wir das alle so sehen – egal wie viel Talent in einem wohnt – schicken wir den Fotografen jetzt nach Hause, beenden die Sandspiele und bollern nur so zum Spaß noch ein bisschen am Strand herum. Genießen die Weite, das leise Plätschern der heranrauschenden Wellen und jeden zarten Drift.
Der schickt jedes Mal pures Endorphin durch deinen Körper, weckt die Sinne – oder um es mal ganz anders zu sagen: macht einfach Spaß. Warum das so ist? Keine Ahnung. Daher der Rat: Selbst ausprobieren, ein wenig Mut mitbringen und sich trauen. Am Ende gewinnt man immer viel mehr, als man zu verlieren glaubt. Daher sind auch alle drei Motorräder hier und heute Sieger, egal ob sie teuer sind wie die BMW R nineT Scrambler (14.020 Euro), preislich im Mittelfeld liegen wie die Ducati Scrambler Classic (10.595 Euro) oder als Budget-Angebot wie die SWM Silver Vase 440 (5.240 Euro) durchgehen. Jeder Fahrer hat in diesem Feld seinen Favoriten gefunden, der ihm für seine Heldentaten taugt. Mehr braucht es nicht. Die strenge Punktezählerei folgt dann demnächst wieder. Versprochen. Wir nutzen noch die kurze Zeit, bis die Sonne zart den Horizont küsst, für den Spaß unseres Lebens.