Wunderlich R nineT Scrambler Six Days im Fahrbericht
Nix Café, Erzberg!

Wunderlich veredelt mit jeder Menge feinen Teilen die BMW R nineT zum herrlichen "Six Days"-Scrambler. Bürst-Aluminium und Verstand sagen Szene-Café, aber der TKC 80 will Erzbergrodeo.

Nix Café, Erzberg!
Foto: www.r-photography.info

Sie hat es wirklich nicht verdient. Wunderlichs Scrambler ist eine herrlich stimmige, detailverliebte Machbarkeitsstudie. Mit der „Six Days“ auf Basis der R nineT erinnert der Eifler Veredler an die bayerischen Werksmotorräder der 70er. Sie zeigt, was ein Plan, ein prall gefülltes Lager mit feinstem Zubehör, Bürst- und Polierwerkzeug und viele Stunden akribischer Arbeit möglich machen. Ein bisschen ist sie auch Vorgeschmack auf den BMW-Scrambler, der bald kommt. Sie ist für alle Glemsecker, alle Wheels and Waves-Gänger und für alle, denen Handwerkskunst auf zwei Rädern die Mundwinkel nach oben zieht.

Kompletten Artikel kaufen
Wunderlich R nineT Scrambler Six Days im Fahrbericht
Nix Café, Erzberg!
Sie erhalten den kompletten Artikel (6 Seiten) als PDF
2,00 € | Jetzt kaufen

Die Wunderlich R nineT Scrambler Six Days ist auch das perfekte Motorrad, um mit vernichtendem Stil durch die Zombie-Apokalypse zu knattern. Schon deshalb hat sie es nicht verdient, auf Funktionalität und auf Nutzen hin beurteilt zu werden. Aber es nützt nichts. Denn eher früher als später drängt sich unweigerlich die leidige Sinnfrage auf. Das ist unwürdig, denkt man, und kleingeistig, angesichts von so viel Herzblut und Glitter. Nebenbei komme bloß keiner mit dem Auge des Betrachters, bei dieser Maschine kann es keine zwei Meinungen geben. Jedenfalls ist die Sinnfrage unausweichlich. Und zwar spätestens, wenn es daran geht, das bewundernswerte Stehzeug seiner Bestimmung als Fahrzeug zuzuführen. Zündschlüssel ins Schloss, den Starterknopf über dem rechten Zylinder gefunden (ein stilechtes und unverzichtbares Gimmick), und ein alter Kumpel, der luft-/ölgekühlte 1200er-Boxer, schüttelt sich die Nachtruhe aus den Pleueln. Eine kernige Fanfare aus der hochverlegten GPR-Tröte signalisiert: „Moin, Capt’n. Maschinenraum an Brücke. Alle Pferde bereit zur Arbeit!“

Bestens. Nur: Was jetzt? Wohin damit? Raus auf die Landstraße, wo die nineT zu Hause ist? Wunderlichs Cartridge-Gabeleinsatz und das neue Federbein testen? Prüfen, ob die voll einstellbaren Teile besser tun als die etwas trampelig-straffen Originalkomponenten? Böte sich an, aber die hölzern tackernden Stollenblöcke des martialischen Conti stellen sich da im wahrsten Sinne des Wortes quer. Asphaltsurfen auf TKC 80, das ist ungefähr so wie Wiener Opernball mit Fußballschuhen. Könnte man schon machen, nur gut ist das halt nicht. Lieber direkt zum Café rollen und schön einen auf dicke Hose machen? Bei aller Liebe zum großen Auftritt, darum allein darf es doch nicht gehen. Gut, dass wir einen Draht ins Schotterwerk haben. Eben noch die Versicherungspolice gecheckt, und unter mittelschwerer Missachtung des gesunden Menschenverstands ab ins Scrambler-Spielparadies vom Schotter-Leibfritz. Ein bisschen Scherren bloß …

Geschmiedete und gefräste Alu-Naben

www.r-photography.info
Unmöglich, sich daran sattzusehen: CNC-gefertigte Felge und Nabe von Kineo.

Und passt sie hier nicht bestens hin, Wunderlichs „Six Days“-Scrambler? Es folgt eine kleine Auflistung der verbauten Teile, beinahe alles findet sich so auch im Katalog und auf der Firmen-Homepage. Von vorne nach hinten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Lampenmaske „Vintage“, Verkleidungsscheibe, XXXL-Chromlenker, Ochsenaugenblinker, Kotflügel „hoch“ in Alu gebürstet, Bremsstaub-Schmutzfang, Originaltank poliert (man beachte die aufwendige Form und die feinen Schweißnähte), Lenkungsdämpfer, Motorschutzbügel- und Schutzplatte, Ölkühlerschutzgitter, Ansaugrohrgitter, Zusatzscheinwerfer (ebenfalls unverzichtbar), mehrfach verstellbare Brems-und Kupplungshebel, Achsschutzpads vorne und hinten, Schalt- und Bremshebelvergrößerung, Alu-Nummerntafeln, Paralever-Strebe „Vario“ (ein Kunstwerk), GPR-Auspuff und Halter, Einzelsitz, Heckkotflügel Alu gebürstet, Blinker „Cube“ (winzig und genial eng integriert), Rücklicht „Texas“. Nicht zu vergessen die sündigen „Kineo“-Räder mit ihren geschmiedeten und gefrästen Alu-Naben, auch Kunstwerke für sich. Dazu ungezählte Deckelchen und Schützer, samt und sonders, wie alle verbauten Teile, von makelloser Fertigungsqualität. Schmuckstücke eben.

Aber macht das alles aus der BMW R nineT in Verbindung mit der Stolle ein Schotterwerk-kompatibles Gerät? Selbstverständlich nicht. Ja, der Conti baut stellenweise beängstigenden Grip auf und führt auch seitlich ganz achtbar, und ja, die aufgerüsteten Federelemente sprechen deutlich feiner an als ihre Serienvorgänger. Was es aber braucht für ehrliches Scramblern ist Federweg, ein größeres Vorderrad und eine Ergonomie, die das Fahren im Stehen erlaubt. Das haben weder die NineT noch der Wunderlich-Scrambler. Wie die Basis ist auch das Wunderding durch und durch Straßenmotorrad. Mehr, als kräftig Staub aufwirbeln ist also nicht drin. Man driftet nicht mit der Wunderlich R nineT Scrambler Six Days, sondern sie mit einem. Wird aber auch, sind wir ehrlich, kein Mensch bei Verstand von so einem Motorrad verlangen. Deshalb, und weil auch die geschätzte Konkurrenz nach uns noch etwas von der Schönheit haben will, beenden wir das Rumalbern, bevor noch etwas passiert. Und kehren dann doch noch einmal, zwangsläufig, zurück zur Sinnfrage.

Befreit vom Zwang der reinen Zweckdienlichkeit

Natürlich geht es dem BMW-Spezialisten nicht um Sinn, sondern darum zu zeigen, was geht. Und das Ergebnis spricht für sich. Andererseits könnte man auch einfach einen anderen Gummi aufziehen und auf der Straße glücklich werden. Aber viel vom rauen Charme des Wunderlings kommt halt von der rustikalen Bereifung. Der Look funktioniert eben nur mit Stolle so richtig. Vielleicht veranschaulicht der Wunderlich-Scrambler damit ganz gut eine bemerkenswerte Entwicklung. Ende der 60er-Jahre wurde das Motorrad befreit vom Zwang der reinen Zweckdienlichkeit als schnödes Transportmittel, durfte zum Freizeit- und Spaßobjekt werden. Sicher, schon immer drückte sich in der Wahl des Untersatzes auch die eigene Persönlichkeit aus, das Verlangen des Marktes, die Stoßrichtung der Ingenieure, war vornehmlich das Streben nach technischer Perfektion, nach Fahrspaß durch Fahrleistung und Funktionalität. Je mehr man sich diesem Ideal angenähert hat, und es lässt sich durchaus argumentieren, dass diese Annäherung im Jahr 2016 für die allermeisten Fahrer sehr weit fortgeschritten ist, umso eher verschiebt sich der Fokus weg von Technologie und Leistung hin zu Ästhetik und Stil. Wir beobachten heute, dass eine Unterkategorie der Motorräder ein Stück weit befreit wird vom Zwang der Funktionalität. Charme, Wertigkeit, Manufakturcharakter, Individualität sind bei Retro-Bikes die handfesten Kaufkriterien.

Damit tun sich viele Hersteller verständlicherweise noch schwer, einmal davon abgesehen, dass Individualität von der Stange nicht funktionieren kann. Und weil darüber hinaus die wenigsten Zeit und Geschick haben, selbst Hand anzulegen, eröffnet sich den Zubehörspezialisten hier ein schönes Betätigungsfeld. Das kann man durchaus feiern, denn die Veredler dürfen auch mal verrückt spielen und etwas schaffen, was den Herstellern bis auf Weiteres wohl noch verwehrt bleiben wird. Etwas, das sinnlos ist, aber geil.

Kommt bald: BMW-Scrambler

BMW
Auch BMW selbst wird noch dieses Jahr den Trend zum Scrambler bedienen. Basis ist ebenfalls die erfolgreiche R nineT.

Der Baukasten macht’s wieder einmal möglich. Auch BMW wird die Scrambler-Welle absurfen, und zwar mit einer noch in diesem Jahr erscheinenden Variante der R nineT. Antriebseinheit und Rahmen bleiben im Wesentlichen unverändert, allerdings erhält der Motor eine Euro 4-Homologation. Die Leistung wird unverändert bei 110 PS liegen, nur das maximale Drehmoment sinkt leicht um drei auf 116 Nm. Die Peripherie wird entsprechend der Gattung angepasst. Das bedeutet: 19-Zoll-Vorderrad, wahlweise mit gröberem Metzeler Karoo bereift (Speichenräder kosten extra), hoher und breiter Lenker, hochverlegte Zwei-in-eins-Auspuffanlage, schlankeres Heck. Als größte technische Änderung wird eine günstige Telegabel statt der Up­side-down-Forke der nineT verbaut, klassische Faltenbälge unterstreichen dann den Look. Der BMW-Scrambler soll preislich etwas unterhalb der rund 15.000 Euro teuren BMW R nineT angesiedelt sein. Den Fahrbericht gibt’s in MOTORRAD 16/2016.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023