An anderer Stelle haben wir uns bereits mit den Kreiselkräften und -momenten beschäftigt und den Einfluss der rotierenden Massen der Räder auf das Handling unseres Motorrads erklärt.
Doch natürlich fließen in das Fahrverhalten noch viele weitere Faktoren ein. Einer davon ist die Fahrgeometrie, zu der auch Lenkachswinkel und Nachlauf zählen. Diese oft genannten Kenndaten schauen wir uns zusammen mit den Experten Benno Brandlhuber und Dirk Wisselmann sowie Renn- und Testfahrer Stefan Nebel genauer an. Außerdem klären wir, was Normalos und Experten unter dem Begriff "Handling" eigentlich verstehen.
Nachlauf und Lenkachswinkel
Unter den meisten Motorradfahrern gilt es als ausgemachte Sache, dass ein kurzer Nachlauf und ein steiler Lenkachswinkel das Handling positiv beeinflussen. Deshalb schauen wir uns an, was Nachlauf und Lenkachswinkel eigentlich sind.
Der Nachlauf ist ein nützlicher Begleiter unseres Lebens, auch wenn wir nicht Motorrad fahren. Er ist nicht unmittelbar zu sehen, erleichtert aber unser tägliches Dasein z. B. beim Einkaufen. Gemeinhin verfügt ein Einkaufswagen über vier Räder, die lenkbar im Fahrgestell des Wagens gelagert sind und immer in die Richtung zeigen, in die wir unser Gefährt schieben. Der Einkaufswagen beugt sich damit unserem Willen, und die Ursache dafür ist der Nachlauf.
Wie sieht das aus?
Um das zu verstehen, schauen wir uns so eine Einkaufswagen-Konstruktion in der Abbildung oben genau an. Die Radaufhängung kann sich relativ zum Fahrgestell um die Lenkachse drehen, die in diesem Fall senkrecht verläuft. Das Rad wiederum dreht sich in der Aufhängung um die Raddrehachse. Die Fläche, auf der der Reifen den Boden berührt, bezeichnet man als Radaufstandsfläche.

In dieser Fläche entstehen Rollwiderstandskräfte, die wir beim Schieben des Wagens auf ebener Fläche überwinden müssen. Der Rollwiderstand greift am Radaufstandspunkt "R" an, der in etwa in der Mitte der Radaufstandsfläche liegt. Nun ist in der Abbildung unschwer zu erkennen, dass "R" in Fahrtrichtung gesehen hinter der gedanklichen Verlängerung der Lenkachse durch die Fahrbahn "D", dem Durchstoßpunkt, liegt. Die Strecke zwischen R und D ist nun nichts anderes als der Nachlauf "n".
Wie läuft das in der Praxis?
Um die Wirkung des Nachlaufs zu erklären, werfen wir einen Blick von oben auf unsere Radaufhängung und stellen uns vor, das Rad sei wie in der Grafik oben ausgelenkt worden, weil es z. B. über eine Bodenwelle von der Fahrbahn abgehoben ist. Sobald es den Boden leicht versetzt wieder berührt, zieht die Reifenkraft über den Nachlauf den Radaufstandspunkt zurück auf die Spurlinie.
Er stabilisiert also das Rad, das wie ein Anhänger an einer Deichsel einem Auto hinterherfährt. Der Nachlauf ist für ein Motorrad in der Praxis folglich unerlässlich, denn er sorgt für einen stabilen Geradeauslauf. Bei einer gleich großen Reifenkraft wird das Rückstellmoment der Lenkung umso größer, je länger die Deichsel ist.
Der Lenkachswinkel beim Motorrad
Beim Motorrad ist nun die Lenkachse nach hinten geneigt. Es könnte theoretisch auch mit einer senkrechten Lenkachse stabil fahren, würde aber früher zum Pendeln neigen. Kurz gesagt: Der Winkel der Lenkachse zur Waagerechten heißt Lenkachswinkel. Bei geringen Gradzahlen ist er flach, bei hohen steil. Er beeinflusst (mit Radgröße und Offset, das ist der Abstand der Lenk- zur Radachse) die Länge des Nachlaufs.

Wenn wir uns nun anschauen, mit welchen Kombinationen aus Lenkachswinkel und Nachlauf Motorräder durch die Gegend fahren, stellen wir fest, dass es bezogen auf das Handling womöglich doch nicht ganz so eindeutig ist wie eingangs behauptet.
Die Grafik oben zeigt nämlich, dass zwischen 60 bis 67 Grad Lenkachswinkel und 85 bis 120 mm Nachlauf eine Menge Kombinationen zu finden sind. Während die Supersportler (rote Ellipse) noch einigermaßen eng beieinanderliegen, herrscht bei den Groß-Enduros (blau), Naked Bikes (weiß) und Supermotos (grün) ein wildes Durcheinander.
Uns beschleichen daher erste Zweifel, ob die These "Kurzer Nachlauf und steiler Lenkachswinkel sind gut fürs Handling" stimmt, denn eine BMW R 1300 GS zum Beispiel, mit relativ flachem Lenkachswinkel (63,8 Grad) und relativ langem Nachlauf (112 mm), kann schwerlich als unhandlich bezeichnet werden. Und damit drängt sich die nächste Frage auf:
Was bedeutet eigentlich "gut fürs Handling"?
Nun, unter gutem Handling versteht man gewöhnlich, wie leicht und präzise ein Bike durch ein Kurvengeschlängel gesteuert werden kann. Einem Fahrdynamiker wäre diese Definition aber zu ungenau. Er würde sagen: "Handling ist die notwendige Kraft bzw. das erforderliche Moment, um den Rollwinkel (die Schräglage) eines Motorrads zu verändern."
In der Realität empfindet der Fahrer allerdings noch viel mehr als dieses Moment und vermischt die "Handlichkeit" oft mit dem sogenannten Eigenlenkverhalten eines Motorrads.
Eigenlenkverhalten, was ist das nun wieder?
Vielleicht ist dem sensiblen Leser schon aufgefallen, dass sein Bike nach links fahren will, sofern er die Packtasche hinten links beladen hat und die rechte leer ist. Ihm ist das aufgefallen, weil er beim Geradeausfahren die Hände vom Lenker genommen hat.
Um den Drang nach links auszugleichen, musste er entweder seinen Oberkörper nach rechts neigen, um den durch die linke Packtasche nach links verschobenen Schwerpunkt wieder über die Spurlinie zu verschieben, oder er musste am Lenker gegensteuern. Ähnlich ist es bei Kurvenfahrt, auch wenn der Schwerpunkt aus Motorrad, Fahrer und Beladung perfekt in der Fahrzeug-Mittenebene liegt.
Untersteuern und Übersteuern
Manche Motorräder verhalten sich in Kurven störrisch, man muss in einer Linkskurve bei gleichbleibender Schräglage ständig nach rechts lenken, um auf Kurs zu bleiben, und umgekehrt. Lässt man den Lenker los (hält aber den Gasgriff mit zwei Fingern fest, um nicht langsamer zu werden), will sich die Fuhre aufrichten und aus der Kurve fahren.
Man bezeichnet ein derartiges Fahrverhalten als "Untersteuern". Andersherum spricht man von "Übersteuern", wenn das Motorrad von sich aus weiter in die Kurve lenkt oder gar fällt.
Eine Philosophiefrage
Wir wollen eigentlich beides nicht, sondern ein "neutrales" Fahrverhalten. Das Eigenlenkverhalten wird von den Versuchsingenieuren der Hersteller durch die Abstimmung von Lenkachswinkel, Nachlauf und der hier zur Vereinfachung nicht weiter berücksichtigten Reifen eingestellt.
Wir schauen noch einmal auf die Grafik oben, das wilde Durcheinander vorhandener Fahrgeometrien, und erkennen: Es ist (auch) eine Philosophiefrage. Ein bisschen Untersteuern fühlt sich etwas "sicherer" an, ein bisschen Übersteuern eher sportlich und "kurvengieriger".
Im Grenzbereich der Reifenhaftung bei Kurvenfahrt ist es dagegen extrem wichtig, ein neutrales Fahrverhalten zu haben. Da will man nicht, dass sich störende Eigenlenkkräfte einmischen.