Stellt euch vor, ihr bekämt eine Strafe für etwas, das gar nicht bestraft werden kann. Exakt das ist das dauerhafte Fahrverbot in den Bezirken Reutte und Imst in Tirol seit 2020. Auf 6 Streckenabschnitten dürfen vom 15. April bis 31. Oktober keine Motorräder mehr fahren, die mehr als 95 dB(A) Standgeräusch eingetragen haben.
Unwichtige Zahl ist Grenzwert in Tirol
Dabei ist den Machern der Fahrverbote in Tirol wohl egal, dass das Standgeräusch mit dem Fahrgeräusch nichts gemein hat und obendrein nicht reglementiert ist. Und da selbst die Europäische Kommision hier keine Rechtsverletzung sieht, bleiben betroffenen Motorradbesitzern 2 Optionen. Erstens: die Region meiden. Zweitens: eines jener Motorräder fahren, die nicht mehr als 95 dB(A) Standgeräusch eingetragen haben.
Über 300 aktuelle Motorräder dürfen nach Tirol
Im Zuge eines geplanten und schlussendlich nicht zugelassenen Pilotprojekts im deutschen Kreis Holzminden, bei dem Fahrverbote über 90 dB(A) Standgeräusch drohten, durchsuchte MOTORRAD die Datenbank. Seit 2019 erfasste die Test-Crew die Standgeräusch-Werte von 414 aktuellen Modellen. 321 davon sind von den Fahrverboten in Tirol ausgenommen. Darunter bekannt laute Motorräder in Fahrt wie die italienischen V4-Modelle von Aprilia, Tuono und RSV4, sowie die Ducati Multistrada. Aber auch japanische Supersportler mit Vierzylinder und 600 Kubik, denen einst die Lautstärke als Todesursache diagnostiziert wurde. Interessant: Das genaue Gegenteil ist bei zahlreichen in der Praxis unauffälligen Motorrädern zu erkennen, die laut Standgeräusch nur ganz knapp dem Fahrverbot unterliegen, auf der Straße allerdings als flüsterleise gelten.
Unterschiede zwischen Standgeräusch und Fahrgeräusch
Problem: Die echten Fahrgeräusche einiger dieser Modelle werden mit einer sehr hohen Lautheit – einer psycho-akustischen Größe – empfunden. Die Lautstärke ist messbar, die Lautheit nehmen wir individuell wahr. Sprich: Die Chance, mit einem lauten Motorrad in Tirol legal zu fahren ist größer, als mit einem leisen Motorrad, dessen irrelevantes Standgeräusch – teils aus Altersgründen – über einer rechtlich nicht erhebbaren Grenze liegt.
Tirol legt sich Argumente zurecht
Hintergrund der Fahrverbote in Tirol anhand des irrelevanten Standgeräuschwerts ist die angeblich leichtere Prüfung vor Ort. Und dafür wird immer die Nahfeldmessung genutzt. Allerdings ist das Instrument gedacht, um verschlissene, manipulierte oder illegale Auspuffanlagen zu identifizieren. Das Messverfahren ist insbesondere dazu geeignet, Auspuffknallen zu identifizieren, das Endtöpfe je nach Zustand oder Herkunft entwickeln können. Aber: Die Einfahrt auf die Straßen wird nicht durch die Messung gestattet, sondern über den eingetragenen Wert, der laut Regierung einfach einsehbar ist, in der Zulassungsbescheinigung Teil 1 (Fahrzeugschein) oder auf der Plakette am Fahrzeug.
Interessant: Beide Orte sind Quelle des wirklich geprüften und Zulassung-relevanten Fahrgeräuschs. So gesehen satteln die Regierung in Tirol und im schlechtesten Falle in Holzminden das Pferd von hinten auf, denn eine Nahfeldmessung wird eigentlich nur durchgeführt, wenn der Verdacht eines illegal zu lauten Motorrads besteht. Und in den Ohren der Anwohner ist das bereits zu spät.
Standgeräusch nicht rechtssicher
Das geplante Fahrverbot im niedersächsischen Landkreis Holzminden brachte die treibende Kraft, die DUH, dauerhaft das Argument der Rechtssicherheit des Standgeräuschs. Und genau das bestätigte der niedersächsische Landtag bereits im Sommer 2021 nicht und begründete wie folgt:"…Nach dem sogenannten Tiroler Modell sind Strecken bzw. Streckenabschnitte in … bestimmten Jahreszeiten für alle Motorradfahrende gesperrt, deren Motorräder ein höheres Standgeräusch als 95 dB erreichen. Aus den Standgeräuschen der Fahrzeuge lassen sich allerdings nicht die Betriebsgeräusche belastbar ableiten. So können durchaus Motorräder mit niedrigen Standgeräuschen überproportional laute Fahrgeräusche erzeugen und auch umgekehrt. Damit ist schon die Basis dieses Modells rechtsunsicher und kann daher keine Grundlage für Modellversuche in Deutschland sein."
So läuft die Standgeräuschmessung ab
Bei einer Schalldruckpegelmessung im Nahfeld, der sogenannten Standgeräuschmessung nach UN-ECE R 41.04, werden mehrere Messungen seitlich hinter der Endtopfmündung genommen. Bei halber Nenndrehzahl muss die Drehzahl mindestens 1 Sekunde gehalten und dann abrupt der Gasgriff geschlossen werden. Beispiel: Wenn 98 PS (72 kW) bei 10.000/min eingetragen sind, bei 5.000 Touren. Aus mindestens drei Messungen, die nacheinander nicht weiter als 2 dB(A) voneinander abweichen dürfen, errechnet man den Mittelwert, der mathematisch gerundet das Ergebnis ergibt. Nach UN-ECE R 41.04 ist zwar keine Toleranz vorgesehen, in der Praxis ist das regional wohl möglich. Hier die Modelle bis 95 dB(A) aus der MOTORRAD-Test-Datenbank, von 2019 bis Ende 2023 (zuerst die mit 91 bis 95 Dezibel, darunter die bis 90 Dezibel):