im Gegensatz zu Beschwörern übernatürlicher Mächte offenbart die Aprilia Dorsoduro 1200 ihre Magie sehr real: Sie verzaubert mit Ästhetik. Ihre aufrechte, stolze Haltung und die attraktiven Linien schmeicheln dem Auge, die Leistungsdaten der Sportlerseele. 130 PS und 115 Nm sind im Supermoto-Segment einzigartig und wickeln sportive Zauberlehrlinge reihenweise um den Finger. Nix wie ran an die Magierin, um sich ihrer vielversprechenden Künste zu bedienen!
Bereits im Leerlauf hämmert die Dorsoduro ihren Sound wie mystische Zaubersprüche in die Weite Andalusiens. Das dumpfe und mächtige Grollen aus 1197 Kubikzentimetern Hubraum belebt den Fahrer und entmutigt Gegner - der Bann wirkt! Schon knapp über 2000/min verwandelt der mit Doppelzündung bestückte 90-Grad-V2 Gasbefehle unmittelbar in Vortrieb: kein Hacken, kein Kettenpeitschen, kein Stottern. Überirdisch! Bei zirka 5000 Touren serviert der mit einem Bohrung-Hub-Verhältnis von 106 zu 67,8 Millimetern recht kurzhubig und damit sportlich ausgelegte Zweizylinder einen Nachschlag, und die Fuhre prescht wie von Geisterhand gezogen auf und davon. Lediglich bei rund 8000 Umdrehungen legt der komplett neu entwickelte 1200er eine Mini-Gedenkpause ein, um danach munter bis zur Abriegel-Drehzahl weiter zu orgeln. Die Vibrationen fallen im gesamten Drehzahlband angenehm gering aus; der satte und gleichermaßen kultivierte Schlag des äußerst kompakt gebauten V2 charakterisiert den Auftritt der großen Dorsoduro.
Wie ihre kleine Schwester mit 750 Kubikzentimetern bietet auch die 1200er drei verschiedene Modi für die Motorsteuerung: "R" für Rain, "T" für Touring und "S" für Sport. Die volle Power liefern nur die beiden letztgenannten Modi. In "T"-Stellung lastwechselt die Dorsoduro zwar kaum, für Sportgeister, die stets die ganze Dosis abrufen möchten, geht sie jedoch einen Tick zu verhalten zu Werke. Bleibt der S-Modus. Hier setzt die 1200er Gasbefehle ultradirekt um; allerdings geht die Power-Sumo in dieser Einstellung recht hart ans Gas. Unterm Strich weckt der neue Treibsatz selbst bei Nicht-Schamanen viel positive Energie.

Kein Hexenwerk, sondern das Resultat zeitintensiver Abstimmungsarbeiten steckt hinter der Traktionskontrolle. Auch sie bietet drei Einstellmöglichkeiten. Bei zu viel Schlupf reguliert die Elektronik den Öffnungswinkel der Drosselklappen. Das geschieht sanft und funktioniert insbesondere auf den Stufen zwei und drei prima, da sie deutlich später eingreifen als in der empfindlichen Stufe eins. Vollprofis auf der letzten Rille wählen die letzte Position. Ob und wie die Traktionskontrolle (ATC) auf dieser Stufe ein ausbrechendes Hinterrad einfängt, konnten die Tester allerdings nicht ermitteln. Denn auf der trockenen Landstraße und mit Serienreifen - Pirelli Diablo Corsa III - brachten sie das System selbst bei stattlicher Schräglage und mutig gespanntem Kabel nicht zum Regeln. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Grip moderne Reifen übertragen.
Ein kleiner Teufel steckt dennoch im Detail der ATC: Im aktivierten Zustand lässt sie keine Wheelies zu. Undenkbar bei Supermotos! Um die ATC ein- oder auszuschalten, muss der Treiber anhalten und sich durchs Menü arbeiten. Das recht simpel aufgebaute System gleicht lediglich die Geschwindigkeiten von Vorder- und Hinterrad ab. Unterscheiden sie sich zu stark, wertet die ATC das als Schlupf und setzt dem Treiben ein Ende. Dennoch bietet die Elektronik keinen magischen Schutzzirkel vor Abflügen. Reißt der Hexenmeister beispielsweise bei niedriger Geschwindigkeit und kleinem Gang den Hahn auf, schießt das Vorderrad teils schlagartig in die Höhe; das System reagiert in diesem Fall zu langsam. Trotz der Assistenzsysteme sollte der Treiber seine Instinkte also nie völlig ausblenden.
Gleiches gilt beim Ankern. Weil das ABS extrem spät regelt, kann es passieren, dass die Dorsoduro selbst auf ebener Strecke das Heck schnurstracks in die Höhe streckt. Bei Schreckbremsungen und idealen Gripverhältnissen droht Ungeübten der Überschlag. Aprilia gibt dieser sehr sportlichen Abstimmung den Vorrang vor einem früh regelnden System. Die Italiener bieten ABS und ATC nur im Verbund an. Aufpreis: 1000 Euro. Unabhängig von der Wirkung des Blockierverhinderers überzeugen die Beißer mit tollem Druckpunkt, astreiner Dosierbarkeit, hoher Transparenz und fantastischer Bremsleistung.

Das Orakel weissagt Kurven, Brause auf! Eine Melange aus der Dorsoduro 750 und Neuteilen bildet das Fahrwerk. Mit ihm zirkelt die 1200er zielgenau um die Ecken. Auch das Handling der laut Hersteller 223 Kilogramm schweren Sumo geht in Ordnung, der Verbund aus Sechs-Zoll-Felge und dem 180er-Pirelli funktioniert bei gut angewärmten Sohlen bestens. Bei niedrigen Außentemperaturen lenken die italienischen Gummis erfahrungsgemäß allerdings recht sperrig ein.
Fazit: Der Zauber der Dorsoduro 1200 wirkt. Die Italienerin bietet ein tolles Gesamtpaket aus kräftigem, kultiviertem Motor und gelungenem Fahrwerk. Sie spricht vorwiegend sportlich orientierte und erfahrene Treiber an, da speziell das ABS im Grenzbereich erhöhte Aufmerksamkeit erfordert. Trotz ihrer Magie stammt die Dorsoduro eindeutig von dieser Welt. Dem Himmel sei Dank!
Technische Daten

Antrieb:
Zweizylinder-90-Grad-V-Motor, 4 Ventile/Zylinder, 95,5 kW (130 PS) bei 8700/min*, 115 Nm bei 7200/min*, 1197 cm3, Bohrung/Hub: 106/ 67,8 mm, Verdichtung: 12,0:1, Zünd-/Einspritzanlage, 52-mm-Drosselklappen, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe
Fahrwerk:
Stahl-Gitterrohrrahmen mit angeschraubten Alu-Gussprofilen, Lenkkopfwinkel: 65,1 Grad, Nachlauf: 118 mm, Radstand: 1528 mm, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, Federweg v./h.: 160/155 mm
Räder und Bremsen:
Leichtmetall-Gussräder, 3.50 x 17"/6.00 x 17", Reifen vorn: 120/70 ZR 17, hinten: 180/55 ZR 17, 320-mm-Doppelscheibenbremse mit radial angeschlagenen Vierkolben-Festsätteln vorn, 240-mm-Einzelscheibenbremse mit Einkolben-Schwimmsattel hinten
Gewicht (vollgetankt): 223 kg*, Tankinhalt/davon Reserve: 15/2,5 Liter Super
Grundpreis: 11 799 Euro (inkl. Nk)
Aufpreis ABS/ATC: 1000 Euro