Die Nase läuft, dicker Hals, fiebriger Schüttelfrost: »Grippe, bleiben Sie ein paar Tage im Bett, Ruhe, kein Stress, keine Aufregung, einfach schön auskurieren.« Der Arzt hat keinen blassen Schimmer. Bettruhe? Keine Aufregung? Haaa, und übermorgen stehen 20 brandneue R1en in den Boxen von Barcelona. Eine davon ist für mich. Für mich ganz allein. Zwei Tage lang, so viel Runden wie ich will – oder besser kann. Und ich soll jetzt ins Bett. Was hat Oma immer gesagt: »Den Kopf halt kühl, die Füße warm, das macht den besten Doktor arm.« Also her mit den Wadenwickel, aufgebrüht mit heißem Wasser und einer kräftigen Essenz, mit der man sicher auch einen Motor zum Laufen bringt. Kamillendämpfe inhalieren bis zur Bewusstlosigkeit, grässlicher Kräutertee – runter damit. Alles, nur keinen vorzeitigen Ausfall. Nicht jetzt, nicht morgen, nicht übermorgen.
Immer noch verschnupft, aber dank Wadenwickel auf dem Weg der Besserung, steig ich ins bunte Leder – ready to go. »Wenig geschlafen, was? Aber keine Angst, die macht Sie wach«. Der freundliche Yamaha-Techniker drückt mir den Schlüssel in die Hand: Nummer sieben von zwanzig blitzblank polierten YZF-R1 aus der Vorserien-Produktion. Meine. Für heute und morgen zumindest. Rot/Weiß natürlich, die R1-Farben. Sieht aber auch in Silber/Schwarz klasse aus. Überhaupt kommt die kantige Yamaha gut rüber, weil die Designer zwar den aktuellen Trend zu eckigen Formen aufgenommen, doch mit viel Fingerspitzengefühl und in maßvoller Dosierung umgesetzt haben. Trotz spitzem Heck und kantigen Linien ist die Neue kein Playmobil-Verschnitt, sondern unverkennbar und glasklar R1. Geduckt, aggressiv, supersportlich. Immer noch ein markantes Gesicht in der Menge. Mit komplett verstärktem Chassis unterm Kleid, noch ein bisschen mehr Power im Motor und umweltverträglicher Technik. Die neue Einspritzung plus Katalysator und Sekundärluftsystem sorgen ab sofort auch bei der Tausender für vorzügliche Abgaswerte. Die Liste aller Änderungen (Kasten Seite XX) aufzurollen, wollen wir uns hier ersparen. Denn lange genug hat die Supersport-Fraktion der neuen R1 entgegen-gefiebert, jetzt steht sie da. Tempo, Tempo, schnell noch die Nase geputzt, und raus aus der Boxengasse, rein ins Kurvenlabyrinth der spanischen Grand Prix-Strecke.
Hoppla, bin ich hier richtig? Die schiere Kraft legt sich mit der neuen Einspritzung weich wie ein Elektromotor ins Zeug, unglaublich. Sanft und ruckfrei geht die R1 ans Gas, zieht samtig an, drückt bei aufgerollter Gasschnur aber vorwärts wie eh und je. Einfach brachial, der Yamaha-Fünfventiler. Ab sofort steht dem eiligen Reiter neben den urtypischen R1-Gewalten ab der Mitte des Derehzahlbandes eine brüllende Drehfreudigkeit zur Verfügung. Bis über 11000/min legt die überarbeitete Schub-Karre mit konstant ansteigender Power zu, bis das optische Schaltsignal im Cockpit mit wildem Geflacker den nächsten Gangwechsel einfordert.
Das ungestüme Anreißen der schieren Kraft, verbunden mit halbem Salto rückwärts oder durchdrehendem Hinterrad, ist jetzt kultivierter, genießbarer. Was nicht heißt, dass in den Gangstufen eins bis drei zu spaßen ist. Wer unbedacht am Kabel zieht, hat alle Hände voll zu tun, damit die Fuhre nicht komplett aus dem Ruder läuft.
Einer der Gründe für die freundlich neue Art der Leistungsentfaltung: Die unterdruckgesteuerten Flachschieber, die der konventionellen Drosselklappen der Einspritzanlage wie ein Gleichdruckvergaser vorgeschaltet sind und durch ihr leicht verzögertes Öffnen beim Gasaufziehen den Leistungseinsatz sehr geschmeidig gestalten. Andererseits reagiert der Motor sehr direkt und verlässlich selbst auf zarte Befehle über den Gasgriff. Was zum Beispiel dann entscheidend ist, wenn die Yamaha auf der letzten Rille aus Schräglage heraus beschleunigt und der Hinterradreifen auf riskant schmalem Grat zwischen Haftung und Abflug entlangtänzelt.
Ein weiteres Bauteil, die viel beschworenen Fahrbarkeit der nominell 152 PS in effizienten Fahrspaß umzumünzen: das neue Exup-System, das über vier, vom Zentralrechner gesteuerten Drosselklappen den Staudruck in den Titankrümmern der Zylinder 1 und 4, sowie 2 und 3reguliert. Abhängig von der Drosselklappenposition, Drehzahl und der jeweils eingelegten Gangstufe, wirkt sich der Staudruck unmittelbar auf Leistung und Drehmoment aus.
Alles in allem ein sehr komplexes System, dass schon fast an die aufwendigen Auslasssteuerungen bei Zweitaktmotoren erinnert, sich bei der bärenstarken Yamaha YZF-R1 prima in Szene setzt.
Und das Fahrwerk? Profitiert in allen Punkten von der gezielten Überarbeitung. Thema Handling: Auch die neue YZF-R1 ist nicht das hyperagile Sportmotorrad, immer noch erfordert die Yamaha einen kräftigen Impuls an den jetzt neu und sehr angenehm und moderat positionierten Lenkerstummeln. Speziell in blitzschnellen Wechselkurven über 100 km/h kommt die versprochene Leichtigkeit nur wenig zur Geltung. Das ändert sich schlagartig, wenn der Pilot im engagiert vorgetragenen Hanging-off-Fahrstil ganz bewusst die Last von der kurveninneren Fußraste auf die andere überträgt. Ähnlich einer Wippe, klappt die R1 durch diesen Impuls vehement von einer Schräglage in die andere. Was wiederum zeigt: Dieses Motorrad will richtig angepackt, richtig verstanden werden. Wer nur lässig im Sitz lümmelt, wirds nicht so richtig hinbiegen. Hier ist der agile Sportsmann gefragt.
Auch bei der Bremse. Denn die beiden 300er- Scheiben bringen nur unter kräftigem Händedruck eine maximale Verzögerung zustande, und die Dosierbarkeit ist eher befriedigend als gut. Seltsam, denn die einteilig gegossenen Yamaha-Zangen gelten seit Jahren mit als Referenz im Serienbau. Ob die Umstellung auf leichte Alubremskolben oder nur eine missratene Bremsbelagmischung dafür verantwortlich sind? Die Yamaha-Techniker sind der Sache auf der Spur. Und MOTORRAD bleibt dran. Und noch ein Schwachpunkt der Neuen: Die Oberfläche der im seitlichen Tankbereich angeordneten Kunststoffblenden ist so glatt, dass es dem Piloten beim harten Bremsen und beim akrobatischen Hanging-Off schwerfällt, einen festen Kontakt herzustellen. Mögliche Lösung: eine nachträglich aufgeklebte, transparente Kunststofffolie.
Thema Lenkpräzision. Eine Angelegenheit, die vielen R1-Treibern bislang etwas Kopfzerbrechen bereitete. In langgezogenen Kurven drängte das alte Modell beim Beschleunigen gerne nach außen und hielt nur durch konsequentes Dagegenhalten die gewünschte Spur. Damit ist jetzt Schluss: Die neue Lenkgeometrie und vor allem die wesentlich steiler angelenkte Schwinge sowie die straffere Abstimmung von Federbein und Gabel ermöglichen, dass die YZF-R1 auf kurzem Weg um die Ecken zirkelt und beim Herausbeschleunigen nur noch sehr wenig in die Hinterradfederung abtaucht, weshalb Lenk- und Rahmengeometrie weitgehendst im Lot bleiben. Der Grund: Die Kettenzugkraft wirkt bei stark angestellter Schwinge (durch große Höhendifferenz zwischen Schwingen – und Hinterradachse) einem Einfedern stark entgegen und hält somit die Maschine in einer nahezu neutralen Lage.
Einziges Fragezeichen nach dem ersten Probegalopp mit der Yamaha R1: die aufgezogenen Dunlop D 208-Reifen in L-Spezifikation. Überwiegend für den Straßeneinsatz konzipiert, sind diese Dunlops in den pfeilschnellen Kurven und bei welligen Bremszonen einfach überfordert. Sie lenken zwar leicht und ohne nennenswertes Aufstellen ein, lassen jedoch vorne an klarer Rückmeldung und hinten an sportlichem Grip und Stabilität vermissen. Bei der Auslieferung der neuen Yamaha in Deutschland werden Michelin Pilot Sport montiert sein, womit sich das Fahrverhalten in einigen Punkten durchaus verändern kann. So bleibt abzuwarten, ob das in manchen Passagen der schnellen Rennpiste von Barcelona aufgetretene, hochfrequente Pendeln um die Lenkachse bei den Michelin-bereiften Yamaha verschwunden ist.
Verschwunden ist auf jeden Fall meine Grippe. Ob Omas Wadenwickel oder Yamahas R1 die Viren gekillt haben – keine Ahnung. Rundum genesen, schwinge ich mich am zweiten Tag über die abenteuerliche Küstenstraße entlang der Costa Brava. Was auf der Rennpiste bereits für Freude sorgte, eskaliert auf den kurvigen Landstraßen fast zu Euphorie. Mit einer bestechenden Lenkpräzision und Stabilität wetzt die R1 durch Biegungen aller Art, ziert sich in noch so verwundenen Haarnadelkombinationen keinen Fatz, bügelt ohne zu zucken über Verwerfungen und Längsrillen. Einfach klasse, weil der Spagat zwischen Handlichkeit und übernervöser Kippeligkeit hier perfekt gelungen ist. Hinzu kommt natürlich der geniale Motor mit Leistung und Schub in allen Drehzahlen, die samtweichen Lastwechsel, und das nochmals verbesserte und leichter zu schaltenden Sechsganggetriebe.
Immer noch unbefriedigend dagegen der Windschutz der knapp geschnittenen Verkleidungskuppe und das Fehlen eines Lenkungsdämpfers. Ob auch die neue R1 vom alten Problem des Lenekschlagens geplagt wird, kann erst mit einer korrekt bereiften Testmaschine auf der anspruchsvollen MOTORRAD-Teststrecke zuverlässig geklärt werden. Bis dahin gilt auf jeden Fall: ein tadelloser Kracher, die kantige, die neue Yamaha YZF-R1.
Die wichtigsten Neuerungen im Detail – Yamaha YZF-R1 Modell 2002
Motor/Antrieb0 Einspritzung mit vorgeschalteten, unterdruckgesteuerten Flachschiebern (bessere Gemischaufbereitung und Dosierbarkeit) 0 Kürzere Einlasskanäle (für mehr Leistung im oberen Drehzahlbereich)0 Neue Airbox mit nach vorn gerichtetem Lufteintritt (für kühlere Ansaugluft) 0 Leichtere Auslassventile 0 Verstärkte, einsatzgehärtete Pleuel und eine zehnprozentig höhere Zugfestigkeit der Pleuelschrauben (für verbesserte Standfestigkeit bei hohen Drehzahlen)0 Auspuffanlage mit Titankrümmer und vier Exup-Drosselklappen (für mehr Drehmoment und geringere Auspuffgeräusche)0 Sekundärluftsystem und ungeregelter Katalysator im Auspuffsammelrohr0 Schaltwalze mit reibungsarmer Beschichtung (für leichtere Schaltvorgänge)0 In die Kerzenstecker integrierten Zündspulen0 Stärkere Lichtmaschine mit 448 anstatt 365 Watt Leistung (notwendig für die Versorgung der elektronischen Einspritzanlage)0 Vergrößerter Ölkühler und 0,2 Liter mehr Motoröl (für bessere Kühlung).Fahrwerk0 Um 30 Prozent steiferer Hauptrahmen mit verschraubtem Rahmenheck und 20 Millimeter höher platziertem Motor (bessere Stabilität, reparaturfreundlicher, neue Schwerpunktlage) 0 Gabelversatz in den Brücken um zehn Millimeter reduziert, was zu einem längeren Nachlauf von 103 Millimeter führt (mehr Lenkstabilität)0 Hinterradschwinge mit hochgezogenem rechtem Holm (mehr Schräglagenfreiheit des Schalldämpfers)0 Schwingendrehpunkt um 17,5 Millimeter angehoben (größerer Auslenkwinkel der Schwinge für mehr Stabilität beim Beschleunigen)0 Neue Uside-down-Gabel mit 43er- statt 41er-Standrohren, um 15 Milimeter verkürzte Federwege und breiterem nutzbaren Einstellbereich der Dämpfung (bessere Lenkpräzison, mehr Möglichkeiten zur Abstimmung)0 Federbein mit härterer Feder und breitem nutzbaren Einstellbereich der Dämpfung (bessere Kurvenstabilität, mehr Möglichkeiten zur Abstimmung)0 Vordere Bremsen mit beschichteten Alubremskolben, kürzere Bremschläuche (eins-in-zwei) 0 Hintere Bremsscheibe im Durchmesser von 245 auf 220 Millimeter reduziert0 Leichtere Räder (für weniger ungefederte Massen und besseres Handling) 0 Bequemere und für den aktiv sportlichen Fahrstil verbesserte SitzpositionAusstattung0 Komplett neu gestaltet: Verkleidung, Tank, Sitzbank und Spritzschutz am Hinterrad0 Im Heckbürzel integriertes Dioden-Rücklicht 0 In Helligkeit und gewünschter Drehzahl einstellbarer Schaltblitz0 Einteilige, geschmiedete Lenkerstummel mit griffgünstiger Kröpfung
Interview mit dem Projektleiter der neuen Yamaha YZF-R1, Yoshikazu Koike.
MOTORRAD: Herr Koike, Die jüngste Generation der R1 hat 152 PS. Ist aus diesem Motor nicht mehr herauszuholen? Yoshikazu Koike: Möglich wären 170 PS und mehr, doch für uns hat die Fahrbarkeit, für die wir alle erdenklichen Register gezogen haben. Vom elektronischen Motormanagement, dem nochmals verringerte Gewicht, bis hin zu unserem Exup-System. MOTORRAD: Stichwort Lenkerschlagen: Die alte YZF R1 hatte Probleme damit, wäre da ein Lenkungsdämpfer nicht die richtige Lösung?Yoshikazu Koike: Wir streben eine perfekte Handlichkeit und Manövrierfähigkeit im Landstraßenbetrieb an. Und dafür ist, wie die Fahrversuche zeigen, ein hydraulischer Lenkungsdämpfer eher hinderlich. Zudem bietet Yamaha für den supersportlichen Einsatz einen Öhlins-Lenkungsdämpfer als Zubehör an. MOTORRAD: Auch wenn die Leistungsspirale sich nur noch langsam dreht: Droht nicht ein neuer Leistungswettlauf? Yoshikazu Koike: Unsere Philosophie der R1 ist nach wie vor gleich: die hohe Leistung einer 1000er im handlichen Chassis einer 600er. Eine Maximierung von Leistung und Höchstgeschwindigkeit streben wir mit den Strassenmodellen nicht an.MOTORRAD: Weshalb kommen die neuen Yamahas erst jetzt mit der Einspritztechnik?Yoshikazu Koike: Wir haben uns mit der Entwicklung der neuen Einspritzung und der Motorabstimmung die Zeit gelassen, die für eine perfekte Abstimmung notwendig war. MOTORRAD: Warum verwendet Yamaha an der neuen R1 keine geregelten Katalysator?Yoshikazu Koike: Wir erreichen mit dem jetzigen System sehr gute Abgaswerte in Verbindung mit einem hervorragenden Verhalten in Sachen Lastwechsel und sportlich orientiertem Leistungsvermögen.