Bremsperformance im Vergleich: MotoGP gegen Formel 1
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Ein Werksbesuch bei Brembo, Bremsen­ausstatter von Formel 1- und MotoGP-Teams, ermöglichte einen Blick hinter die Kulissen und einen exklusiven Datenvergleich des Bremsverhaltens in den beiden Königsklassen.

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Foto: Brembo

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"Valentino, denke ich." Fragt man Eugenio Gandolfi, Sales Manager bei Brembo Racing, nach dem härtesten Bremser des MotoGP, antwortet er eindeutig. Er muss es wissen: Seit über 20 Jahren reist der höfliche Italiener mit seinem Team um die Welt, um die Ställe von Formel 1, MotoGP und Superbike-WM zu betreuen, über mögliche Weiterentwicklungen zu diskutieren und Daten zu interpretieren. Ein Stressjob, der aus einer einzigartigen Monopolstellung von Brembo im Motorsport resultiert und Vergleiche ermöglicht, die sonst nicht denkbar wären: eine Gegenüberstellung der Bremsperformance eines Formel-1-Piloten und der von Valentino Rossi beispielsweise. Doch zuvor steht ein Werksbesuch beim italienischen Traditionsunternehmen auf dem Programm. Die Reise führt nach Bergamo, genauer gesagt: in den Wissenschaftspark Kilometro Rosso, benannt nach der roten Mauer, die entlang des großen Industriegeländes errichtet wurde. Dabei ist die Farbe nicht der einzige Bezug zu Brembo. Auch der Firmenname stammt von einem Tal in der Nähe von Bergamo. Der Legende nach hatte ein Mitglied der Brembo-Familie Bombassei dort in den 1950er-Jahren einen Autounfall und musste tagelang auf neue Bremsscheiben warten. Daraufhin beschloss er, diese künftig selbst zu produzieren.

Natürlich ist die Anekdote mit einem Augenzwinkern zu genießen, aber seit der Firmengründung 1961 hat sich das Unternehmen stetig weiterentwickelt. Nahezu alle namhaften Automobil- und Motorradhersteller arbeiten mit Brembo als Bremsenerstausrüster zusammen, wenn auch teilweise unter eigener Flagge. So protzen die Bremssättel einer Zuffenhausener Sportwagenschmiede zwar mit dem eigenen Firmennamen, die Zangen selbst stammen jedoch von Brembo. Dazu gesellt sich ein großer Zubehörmarkt mit allen erdenklichen Teilen von der Bremspumpe bis zum Bremsbelag – und schließlich der Motorsport. Alle Formel-1- und nahezu alle MotoGP-Teams fahren mit Teilen der Brembo Group, zu der auch AP und Marchesini gehören.Entsprechend hoch sind die Qualitätsansprüche. Brembo scheut offenbar keine Kosten und keine Mühen, um dieser Sonderstellung gerecht zu werden. Allein die Herstellung des Rohmaterials für Rossis Bremszangen aus Aluminium und teurem Lithium dauert beispielsweise acht Monate, die der Carbonbremsscheiben ein gutes halbes Jahr. Dafür wiegen die Kohlefaserteile dann auch 1,4 Kilogramm weniger als die Stahlscheiben, die in der Superbike-WM verwendet werden.

Um stets auf dem aktuellsten technischen Stand zu sein, beschäftigt Brembo knapp zehn Prozent seiner über 5700 Mitarbeiter im Bereich Forschung und Entwicklung. Entsprechend beeindruckend fallen Prüfstände und Produktionsmaschinen aus: Stolz schlendert Gandolfi vorbei an riesigen Metallkästen, in denen Formel-1-Bremsscheiben rot glühend an ihre Belastungsgrenzen gebracht werden. Er erklärt hochmoderne computergesteuerte Fünfachsen-Fräsen, die aus einem massiven Block Metall wunderschön geschwungene MotoGP-Bremszangen formen. Ein Traum für jeden Technik-Fan, ein kaum fassbarer Aufwand für jeden Controller.

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Der Formel-Renner lässt sich dank höherem Antrieb und größerer Reifenaufstandsfläche deutlich später und härter zusammenstauchen als das Racebike.

Und wie hart bremst er nun, der Herr Rossi? Die Antwort von Brembo kommt einige Tage später per E-Mail. Eine durchnummerierte Skizze der Grand-Prix-Strecke von Barcelona und eine Tabelle mit Bremsdaten aus Formel 1 und MotoGP offenbaren einige Geheimnisse aus dem firmeneigenen Datenschatz: Der Unterschied zwischen beiden Klassen ist noch größer als erwartet. Zum Beispiel am Ende der Start/Ziel-Geraden. Obwohl der achtfache Weltmeister laut einer Berechnung von Brembo mit maximal 15,67 m/s², also 1,6-facher Erdbeschleunigung verzögert, benötigt er 336 Meter, um seine Yamaha von Tempo 300 (V1) auf 105 km/h (V2) abzubremsen.Über diese Werte kann Felippe Massa in seinem Ferrari nur schmunzeln: Mit Vollgas fliegt er an Rossis Bremspunkt vorbei und geht wesentlich später in die Eisen. Dem Formel-1-Boliden genügen 112 Meter, um von 311 auf kurventaugliche 146 km/h zu verzögern. Entsprechend höher fallen auch die Verzögerungswerte aus: Mit bis zu 4,3 g wird der Pilot beim Bremsen in die Gurte gepresst.

Die Temperaturen der Bremsscheibe erreichen in manchen Kurven des nordspanischen Rundkurses bis zu 950 Grad Celsius – kein Wunder, dass Barcelona Brembo-intern als extrem belastende Strecke gilt.Die Bremsdominanz des Formel-Renners zieht sich durch alle Kurven. Dank höherem Abtrieb und größerer Reifenaufstandsfläche lässt sich das Vierrad deutlich später und härter zusammenstauchen als das Racebike. Entsprechend länger kann der Zehnzylinder beschleunigen und erreicht deshalb bis zum Tritt aufs Bremspedal etwas höhere Geschwindigkeiten als das Zweirad – in der Tabelle ablesbar als V1. Einzige Ausnahme ist Bremspunkt 6, vor dem beim Formel-1-Grand-Prix eine zusätzliche Schikane eingebaut ist, die beim MotoGP wegfällt. Beim Lösen der Bremse – V2 – ist mal das Motorrad, mal der Rennwagen schneller. Ein Resultat des unterschiedlichen Fahrstils.Insgesamt zieht Rossi pro Runde auf 1286 Metern insgesamt 27,5 Sekunden am Brembo-Hebel, während Felippe Massa auf der gleichen Strecke 15,5 Sekunden Bremszeit und 578 m genügen. Selbst dem härtesten Bremser des MotoGP gelingt es also nicht, auch nur annähernd an die Bremsperformance eines Rennwagens zu erreichen – trotz federleichtem und sündhaft teurem Topmaterial.

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Erscheinungsdatum 13.09.2023