Es geht vorwärts, zweifelsohne! Die Suzuki GSX-R 1300 Hayabusa soll auch dem Normalbürger das Erlebnis 300 km/h ermöglichen.
Es geht vorwärts, zweifelsohne! Die Suzuki GSX-R 1300 Hayabusa soll auch dem Normalbürger das Erlebnis 300 km/h ermöglichen.
1899: Die Welt steht an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, das Auto ringt um Benzin-, Dampf- oder Elektroantrieb, die Motorfliegerei ist noch nicht erfunden. Als erster Mensch treibt der verwegene Belgier Camille Jenatzy ein »Landfahrzeug« - die torpedoförmige, elektrisch getriebene »Jamais Contente« (»Nie zufrieden«) - über die magische Grenze von 100 km/h.
1947: Todesmutig läßt sich der amerikanische Pilot Chuck Yeager in der Bell X1, weniger Flugzeug denn Raketentriebwerk mit Sitz, Leitwerk und Stummelflügelchen, von einem Trägerflugzeug in die Weite der Atmosphäre abwerfen, um die Schallmauer zu durchbrechen. Die Rakete zündet, kurze Zeit später signalisiert der erste Überschallknall den am Boden Wartenden den Erfolg des Unternehmens.
Zwei Beispiele für den Run auf Geschwindigkeitsrekorde, der das ganze 20. Jahrhundert hindurch die irrwitzigsten Blüten treibt. Triumpf folgt auf Katastrophe, Katastrophe auf Triumpf. Auf dem Land purzelte bereits 1927 eine Speed-Barriere, die für Serienmotorräder bis heute unerreicht war: 300 Kilometer pro Stunde oder, etwas greifbarer, 83,3 Meter pro Sekunde - gerade noch hier, einen Augenblick später einmal über den Fußballplatz.
Klar eigentlich, daß dem ersten schnelleren Serienmoped, welches diese magische Grenze überschreiten kann, ein Platz in der Geschichte sicher ist. Und seit der INTERMOT 1998 ist klar, daß die Suzuki GSX-R 1300 Hayabusa genau diesen Meilenstein setzen könnte. Sonnenklar schließlich, daß MOTORRAD das sofort wissen wollte. Deshalb: Koffer gepackt und mit neugierigen Kollegen der europäischen Schwesterblätter (Motociclismo, Moto Journal und Moto Sprint) sowie zwei Japanern ab nach IDIADA. Der 7560 Meter lange Hochgeschwindigkeitskurs bei Barcelona verbindet zwei jeweils 2000 Meter lange Geraden durch zwei Steilkurven mit je 472 Meter Radius. Die Kurven sind so stark überhöht, daß bei Tempo 200 auf der äußersten Spur die Resultierende aus Flieh- und Normalkraft senkrecht zur Straße wirkt. Mit anderen Worten: beste Voraussetzungen zum Vollgasfahren.
Der Plan: Vier Hayabusa aus der Vorserie werden direkt von der Präsentation dorthin gebracht, gecheckt und auf Teufel komm raus um den Kurs getrieben. Damit´s hinterher keine Diskussionen gibt, erfassen neben dem MOTORRAD-Tellert-Meßgerät noch eine Formel 1-erprobte TAG-Lichtschranke und eine - ähem - freundlicherweise von der spanischen Polizei geliehene Radarpistole die Geschwindigkeit. Unabhängige Techniker überwachen die Messungen, der Fotograf fängt die Spannung, vielleicht die Sensation mit der Kamera ein. Zwei Tage soll die Rekordjagd dauern, als Referenz dienen die bisherigen Träger des blauen Bandes, die Kawasaki ZZ-R 1100 und die Honda CBR 1100 XX. Der Prüfstand läßt einiges erwarten: Hält sich die Kawa mit immerhin 146 PS noch vornehm zurück, so legt die Honda satte 160 Pferde vor. Darüber kann die Hayabusa nur milde lächeln: 176 Meßpferde legen eine neue Referenzlatte für Serienmotorräder.
Leider gibt es von anderer Seite her Ernüchterung. Als die schon seit Monaten mit allerlei Papierkram angekündigte Journalistenmeute vor den Toren des hochmodernen Testzentrums einläuft, vernimmt sie das Machträusperns eines jungvermählten, schwäbisch-amerikanischen Automobilherstellers. Dieser fühlt sich nämlich durch das Aufkreuzen lästiger Schreiberlinge gestört. Konsequenz: Statt zwei Tagen nur zwei Stunden Testzeit, Fotografieren während des Tests verboten, ein Ordner sammelt vorsorglich alle Kameras ein. Immerhin gibt´s nach dem großzügig bewilligten Testzeitraum noch etwas Zeit zum Fotorafieren, in der allerdings keine Runden mehr gedreht werden dürfen.
Aber zugegeben, auch diese zwei Stunden haben es in sich. Der grimmig dreinschauende, drahtige Tsukasa »Tsuka« Tsuji, japanischer Kollege mit Samurai-Habitus, dreht zuallererst eine Funktionsrunde, passiert als erster die Meßstelle. Ein Aufschrei: 299 zeigt die Radarpistole, 300,02 tickert der Lichtschrankendrucker aus. Helme auf, die Jagd ist eröffnet. 300 km/h, daß bedeutet äußerste Belastung für das Material. Der Motor schaufelt mit höchster Drehzahl all seinen Punch auf Kette und Reifen, der gequälte Pneu radiert die PS als schwarzen Strich auf den Asphalt. Können Sie sich unter kinetischer Energie etwas vorstellen? So eine Hayabusa, die mit etwa 300 daherbrät und mit Fahrer so an die 350 Kilo wiegt, ist mit über 1,2 Millionen Joule unterwegs. Diese Gewalt müssen die drei filigranen Bremsscheiben im Zweifelsfalle einer Notbremsung schnell in Wärme umsetzen. Bei durchschnittlichen 10 m/s² Verzögerung - und das muß man erst mal schaffen - wird der Bremsweg fast 350 Meter lang. Nur so als Hinweis, daß man hohe Geschwindigkeiten nie unterschätzen sollte.
Das machen dem Piloten auf der megabreiten IDIADA-Piste schon die Steilkurven schwer, die beim ersten, vorsichtigen Vorbeifahren furchterregend überhöht wirken, ja, wie eine Wand neben dem eingeschüchtert daherfahrenden Erstbesteiger aufragen. Läßt dieser dann die Hayabusa springen, verkehrt sich der Eindruck von Weite und Raum in Richtung Telespiel: In etwas mehr als 90 Sekunden wischt eine Runde unter den Reifen weg und die Hayabusa wieder am Meßgerät vorbei. Der kleinste Fehler bei der Fahrerhaltung rächt sich erbarmungslos in Form einer sinkenden Tachonadel. Tunnelblick auf das schmal gewordene Asphaltband, in der Ferne eine Brücke über dem Kurs, wie ein kleines Loch im Horizont - wusch - durch. Mühsam klettert die Tachonadel: 336, 337, 338, km/h für km/h setzt die Hayabusa den gewaltigen Bums ihres 1300ers in Speed um. Dann die Steilkurve, ruckzuck ist sie da, präzise auf die äußerste Bahn zielen, Nerven, Nerven, Nerven, AAAAh, verdammt, wieder kurz das Gas gelupft. Einen Meter neben dem linken Bein rast die Leitplanke mit Tacho 320 entlang, daneben der blaue Himmel, verkehrte Welt. Von ganz außen aus der Steilkurve in die Gerade hinabtauchen, jedes bißchen Schwung ausnutzen, Hintern hoch, Kopf runter, kleine Bodenwellen schlagen mit derber Gewalt in die Oberschenkel, kein Muskel, der nicht angespannt wäre. Beine, Arme, Füße, der ganze Körper quetscht sich so nah wie möglich ans Motorrad, bloß keine Stirnfläche bieten. Verdammte Schultern, zu breit. Der Wind findet jede Falte im Lederkombi, zerrt daran, brüllt wütend in den Helm.
Wusch: Tacho 344, real 296. Ich bin einfach zu groß und breit. Laurent Cochet von Moto Journal huscht mit 299 km/h am Meßpunkt vorbei, biegt in die Steilwand ein, fehlt plötzlich. Horrormeldung: ein platter Vorderreifen, mehrere Liter Adrenalin in der Luft, alles gut gegangen. Laurent sieht gealtert aus, raucht erst mal eine. Pere Casas, Kollege und Freund vom spanischen Schwesterblatt Motociclismo, hat sich einen gewaltigen Aerodynamikbuckel annähen lassen, zudem trägt er eine lange Beule hinten am Helm, ist klein und schmal: Heureka, 300,99, na also, geht doch. Markus »Braveheart« Barth, Tester bei MOTORRAD; treibt´s auf die Spitze: unter den skeptisch-besorgten Augen der Reifentechniker dreht er zwei Runden mit Konstantvollgas. 302,11 km/h markieren das Ende der Fahnenstange, zumindest auf diesem Kurs - die Geraden sind einfach noch zu kurz, der Anpreßdruck in der Steilwand kostet zuviel Schwung. Keine Frage, auf einem geeigneten Autobahnstück ginge die Hayabusa noch schneller, sowieso viel schneller als ZZ-R und CBR-XX, die mit 277,92 und 284,65 weit abgeschlagen rangieren.
Nur so zum Spaß schraubt Laurent die Spiegel seiner Hayabusa ab: Ein Aufschrei, ein Raunen: 309,38 km/h, der Sportsgeist erwacht erneut, ab auf die Piste. Mist, wie zuvor, einfach zu groß, 307,85 km/h für mich, 311,82 für »Streamline-Pere«, Rekord. Leider kommt Markus nicht mehr zum Fahren, die Herren vom Autohersteller weisen per Funk auf das Ende der Testfahrten hin.
Was haben wir gelernt? Zunächst mal wieder, daß gut Ding einfach Weile braucht. Mit ein paar Stunden mehr Feinschliff an der Fahrerhaltung wären sicher noch ein paar km/h drin gewesen. Ach ja, und daß die Hayabusa auf deutschen Autobahnen mit etwas mehr Anlauf locker über 300 geht. Das große Geschwindigkeitsplus ohne Spiegel deutet übrigens darauf hin, daß sich die Suzuki-Ingenieure ihrer Sache sicher waren und auf das letzte Quentchen Detailarbeit - etwa schmaler geführte, verkleidete Schalldämpfer oder ein über die Achsklemmung herunter gezogener Kotflügel - verzichtet haben. Aber auch die Reifen setzen allzu hurtigem Treiben Grenzen, der von Speed und Zentrifugalkräften wüst zerschundene Hinterradpneu im Bild spricht für sich. Wer möchte schon bei 300 mit sicherlich fatalen Folgen den Asphalt aufreiben? Und überhhaupt, warum 300? Warum? Weil´s einfach gut ist. Genau.