Impression Yamaha XJ 650 Turbo

Impression Yamaha XJ 650 Turbo 315

Nur 315 Exemplare der Yamaha XJ 650 Turbo wurden in den Achtzigern in Deutschland verkauft. Eine davon hat einen verrückten Lebenslauf.

315 Künstle

Becker-Träger, Hepco-Koffer...steht im Keller...läuft nicht mehr...nee, supergünstig...hab’ keine Zeit mehr.« Es muss der Alkohol gewesen sein. Man schrieb das Jahr 1992. Ich war halbwegs jung, verhalten ungestüm und an diesem Partyabend zweipromillig verblendet. Und hab’ deshalb nicht so recht verstanden, um was es am Nachbartisch meiner Stamm-
kneipe ging. Der nächste Urlaub stand an. Ich war auf der Suche nach einem stabilen Gepäckträger für meine XT. Zum Sprechen und Verhandeln reichte es nicht mehr. Zum Adressenaustausch schon.
Die Mittagssonne des folgenden Tages stach wie ein Laserstrahl. Ich blickte auf den Bierdeckel mit der Anschrift, schellte
bei M. Bertram, Hausnummer 3, und stolperte schließlich mit
ihm durch die Untiefen seines Kellers. In einer verrümpelten
Ecke kauerte sie. Eine verlebte XJ 650 Turbo mit stabilem Becker-
Träger und Hepco-Koffern. »1200 Mark«, sagte M. Bertram und verscheuchte mit der flachen Hand eine dicke Staubschicht. Wir handelten uns wund. Bei 750 deuchte es mir. M. Bertram meinte das Gesamtpaket. Ich nur die Koffer mit Träger. Ich schlug ein
und erwarb mein erstes Straßenmotorrad. Die T war angemeldet. Und sollte laut Prüfplakette vor schlappen 28 Monaten zum TÜV. Auf einen mehr oder weniger kam es also nicht an. Ich frickelte den Gepäckträger um und fuhr mit der XT in Urlaub.
Vier Wochen später stand die Turbo in meiner Werkstatt. Mein Kumpel Mateng, Arme wie Flaschenzüge, Beine wie Brückenpfeiler, hockte in seiner hinreichend sturzgeprüften Lederkombi einfach da und starrte die T wortlos an. Ich starrte mit. Acht Minuten, 40 Sekunden. Eine kleine Ewigkeit. »Gab’s die geschenkt?« »Nee, halb umsonst.« »Das erklärt alles.« Mateng war Naked-Bike-Fan und fuhr XJ 650. Turbofrei. Mit einem Sturz pro Woche kam
er nicht aus. »Sieht aus wie eine landende Concorde«, sinnierte ich. »Und geht spätestens bei der ersten harten Landung kaputt«, brummte er. Ich hatte nicht vor, es auszuprobieren.
30 Monate im Keller eingesperrt. Wer würde da nicht depressiv? Die Turbo verweigerte jeglichen Atemzug. Wiederbelebungsversuche in Form einer ehrgeizigen Batterie und leckerem 10/40er-Öl schlugen fehl. Sie reagierte erst, als sich Blitzschläge von jungfräulichen Zündkerzen hinzugesellten. Dichter Nebel zwang sich aus dem linken Schalldämpfer der Vier-in-zwei. Die T hustete sich frei, das kleine Mäusekino, eine elektronische Anzeige von Öltemperatur und -druck, Seitenständerposition, Benzinstand, Batterie und Fernlicht, spulte einen Kurzfilm ab und signalisierte damit freie Fahrt. »Klingt nicht anders als eine ohne Turbo«, nuschelte Mateng, der, frisch auf einem Kuhfladen gestürzt, dieser Auferstehung beiwohnte. »Ist aber definitiv lädiert – schau mal: Aus dem rechten Schalldämpfer weht nicht das laueste Lüftchen.«
Das hatte seinen Grund. Die Vier-in-zwei-Anlage entpuppte sich im normalen Leben als eine Vier-in-eins. Nur für den Fall, dass der Ladedruck über 0,53 bar steigt, öffnet ein Bypassventil eine kleine Klappe am Sammler und entlässt den Überdruck ins rechte Auspuffrohr. Um ehrlich zu sein: Davor hatte ich Angst. Denn die durch Rostfraß entstandenen Löcher im rechten Schalldämpfer hatte M. Bertram, ein Krankenpfleger, nicht geschweißt, sondern zugegipst und schwarz übersprüht. Dem TÜV-Prüfer
war’s egal. Mir irgendwann auch. Ich genoss zum ersten Mal im Leben Geschwindigkeiten jenseits echter 150 km/h und freute mich über jeden Turboschub wie ein Kind, wenn es das Geheimversteck der Schokolade entdeckt.
Dieser Schub war weit weniger spektakulär als meine ausschweifenden Vorträge darüber. Knapp über 6000/min packte eine kraftvolle, doch zärtliche Faust zu und zog uns bis 9000
Touren sanft, aber bestimmt vorwärts. Zu mehr Drehzahl fehlte mir Vertrauen. Das war’s. Kursierende Gerüchte über unvorstellbare Naturgewalten des Laders – ausgerenkte Nackenwirbel, vier g
Beschleunigungsdruck, Blutleere im Hirn, unbezahlbarer Reifenabrieb – blieben unbestätigt. Im Grunde genommen ist die 262-Kilo-Turbine ein verkappter, liebesbedürftiger 90-PS-Tourer. Eine ausladende Verkleidung schützt effektiv vor Fahrtwind und Regen, die Sitzbank ist urgemütlich und bedingungslos soziustauglich,
19 Liter Tankinhalt ermöglichen entspannte 330 Kilometer Reichweite. Natürlich nur im Wanderflug.
Es ging auch anders. Auf rund 800 Kilometern hatte ich es irgendwann mal brandeilig. Fahrzeit: sechs Stunden. Inklusive sechs Tankstopps. Durchschnittsverbrauch: 11,8 Liter auf 100
Kilometer. Rechter Endtopf handwarm. Vier Monate später saß Mateng auf einer halb vollen Kiste Pils und begutachtete den rechten Endschalldämpfer. »Du weißt, ich war der Beste im Schweißkurs«, raunte er. »Lass uns den Gips abklopfen, ich brat’ dir die Löcher so zu, dass der danach besser aussieht als neu.«
Sah er nicht. Denn das Ding bestand zu 90 Prozent aus Gips, der lediglich von einer metallischen Lochkonstruktion trichterförmig zusammengehalten wurde. Im Klartext: Es gab nichts mehr, was man schweißen konnte. Am nächsten Tag erwarb ich einen Eimer Gips und eine Dose schwarze Farbe. Wer verdoppelt schon freiwillig den Wert seines Bikes durch Anbau eines neuen Endschalldämpfers? »Du solltest auf keinen Fall übermäßigen Ladedruck aufbauen«, riet Mateng. Ich befolgte seinen Rat. 34000
Kilometer später stand die T in der Tageszeitung unter der Spalte »Motorräder Verkauf«. Verhandlungsbasis: 3500 Mark. Gipsauspuff und Koffer inklusive.

Vom Wort Turbo angelockt, umschlichen zwei Interessenten die Maschine. Dirk E. bekam den Zuschlag. Seine erste
Frage galt der Anzeige »Boost Control« im Cockpit. Bereitwillig
erklärte ich die Zusammenhänge von Überdruck, Bypassventil und der Vier-in-zwei. »Funktioniert?« »Na klar!« Das Letzte, was ich von Dirk E. sah, war das eckige Rücklicht der Turbo.
Das Erste, was ich wieder hörte, war ein tiefer Seufzer am anderen Ende der Telefonleitung. Und zwar exakt zwei Tage später, einem Montag. »Bist du jemals Vollgas gefahren?« zischte es aus der Leitung. »Verhalten«, stotterte ich. »Also, ich werde dir jetzt
erzählen, was bei 10000 Touren passiert.«
Es war eine traurige Story. Zunächst hielt das angegammelte Bypassventil dem Druck stand. Um dann urplötzlich zu öffnen. Fragmente des Gips-Schalldämpfers werden noch in diesen Tagen auf der A 7 zwischen Nörten-Hardenberg und Göttingen im
Bereich der Mittelleitplanke gefunden. »Macht aber nix«, raunte Dirk E. damals, »bin schließlich Installateur. Hab’ direkt hinters
Bypassventil einen zweizölligen Stahlbogen geschweißt. So wird das heiße Abgas direkt auf den Reifen gelenkt. Was meinst du, wie der jetzt haftet...«
Neun Jahre sind seitdem vergangen. Immer wenn ich eine
der raren Turbo-Maschinen sichte, denke ich an Gips. Das passiert allerdings selten. Denn nur 315 Exemplare der XJ 650 T, Typ 11T, hat Yamaha zwischen 1982 und 1986 in Deutschland
verkauft. Durch Zufall erfuhr ich im August 2004 den Standort meiner Ex. Sie dämmerte in der Garage eines Sammlers in Winsen/Luhe der Wiederbelebung entgegen. Ungeputzt, stabile Endschalldämpfer. Abgemeldet. 35 Monate TÜV überzogen. Nichts Ungewohntes also. Keine fünf Tage später nahm ich auf ihr Platz. Für wenige Stunden waren wir beide wieder vereint.
»Tomorrows motorcyle today” – so lautete Yamahas Werbebotschaft 1982. Nun, irgendwie ist doch alles anders gekommen.
Turbo-Motoren waren schneller wieder out als in, und Tourer vom Fünf-Zentner-Kaliber haben heute rund 120 PS. Die FJR 1300, der späte optische Nachfolger der T, wenn man so will, presst nahe-
zu das doppelte Drehmoment ans Hinterrad und trägt vorn stolz 120er-Bereifung. Damit rüstete der Hersteller die Turbo seinerzeit am Heck aus. Zitat aus einem Test in der MOTORRAD-Ausgabe 11/1982: »...plötzliches Einsetzen der Mehrleistung durch den Lader und die damit verbundenen Gefahren: Wenn mitten in der Kurve beim Beschleunigen der Turbo-Bums kommt und der Reifen nicht mehr mithalten kann.«
Es ist fraglich, wie viel von den ehemals versprochenen 90 PS nach rund 83000 Kilometer Laufleistung noch in der Koppel
grasen. Die mit Bridgestone BT 45 besohlte Turbo zickt jedenfalls weder mit ungewollten Drifts noch Rutschern. Die Vertrautheit
von einst stellt sich sofort wieder ein. Untermalt vom Pfeifen der Steuerkette und des einsetzenden Turbos, sprudeln Erinnerun-
gen. Wie ich die T damals in Österreich vor dem Werbeschild »Zersägen Sie Ihr Motorrad« parkte und zwei lustige Gestalten mit der Säge ankamen. Oder die T wegen des immens schweren Tankrucksacks vom Hauptständer direkt in die Güllegrube kippte. Wie wir das per Druckknopf aufschnellende Plastik-Cover des Tankverschlusses dazu nutzten, Erdnüsse in die Münder zu katapultieren. Man auf fast jedem Motorradtreff entweder verlacht oder indiskret zum Rennen aufgefordert wurde. Und verlor.
Kann sein, dass die T nicht meine beste Maschine war. Eine der wichtigsten war sie allemal. Denn das Wertvollste, was jeder von uns besitzt, sind Erinnerungen. Und sei es an Gipseimer.

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Impression Yamaha XJ 650 Turbo 315
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Techische Daten

Motor: luftgekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, Abgasturbolader, 653 cm3, Bohrung x Hub 63 x 52,4 mm, 90 PS bei 9000/min.
Fahrwerk: Doppelschleifen-Rohrrahmen, 36er-
Telegabel, Stahlrohrschwinge mit zwei Federbeinen, Kardanantrieb, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 270 mm, Trommelbremse hinten,
Ø 230 mm, Bereifung 3.25 V 19 vorn, 120/90 V 18 hinten, Radstand 1430 mm,
Gewicht vollgetankt 262 kg.
Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit solo liegend 203 km/h, 0–100 km/h 4,9 sek.
Bauzeit: 1982–1986
Preis: 12158 Mark (1982)

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