Fragen und Antworten zum Integralhelm-Test
Thermoplasten oder Duroplasten?
Was macht eigentlich den Helmschalen-Unterschied? Da treffen seit jeher zwei Fraktionen aufeinander, und das Thema wird immer noch gern zur Glaubensfrage gemacht: billiger „Plastikhelm“ oder teurer „Fiberglashelm“? Betrachten wir es mal technisch: Unterschieden wird zwischen Thermoplasten und Duroplasten. Thermoplasten sind aus verflüssigtem Kunststoffgranulat in Spritzgussmaschinen weitgehend automatisch und in gleichbleibender Qualität hergestellte Schalen (z. B. Polycarbonat). Duroplasten (als GFK- oder Fiberglashelme bekannt) erfordern dagegen deutlich mehr Handarbeit sowie u. U. eine intensivere Qualitätskontrolle und erlauben im Vergleich geringere Stückzahlen – was sie in der Herstellung teurer macht.
Alte Helmschalen-Mythen („Plastikhelme sind total empfindlich, Fiberglashelme halten dagegen ewig“) sind in vielen Teilen längst überholt. Moderne Thermoplaste zerbröseln eben nicht mehr bei jeder erstbesten Gelegenheit, und austauschreif wird ein ansonsten unfallfreier Helm durch die gealterte und vom Tragen geweitete Innenausstattung. Trotzdem wird das Schlagwort „Fiberglashelm“ immer noch gern als Werbeargument genutzt. Was durchaus verständlich, aber wenig praxisrelevant ist.
Motorradhelme auf dem TÜV-Prüfstand
Eine erfolgreich absolvierte ECE-Prüfung war die Mindestvoraussetzung, um beim MOTORRAD-Helmtest dabei zu sein. Allerdings hält die Redaktion das profane Nachmessen der ECE-Schlagdämpfungswerte für überflüssig. Das liegt zum einen daran, dass sich die Helmhersteller untereinander selbst genau beobachten. Dazu Peter Schaudt, Helmexperte beim TÜV Rheinland: „Sobald ein Anbieter mit neuen Modellen auf dem Markt erscheint, bekommen wir diese von Mitbewerbern zur Überprüfung zugeschickt.“ Zum anderen wird nach Meinung von MOTORRAD durch die ECE nur eine Minimal-Anforderung für Motorradhelme definiert. Das liegt einerseits an den bislang teils abstrusen Prüfvorgaben, bei denen die Fallversuche mit auf minus 20 Grad tiefgefrorenen Helmen stattfanden. Außerdem waren die Aufschlagpunkte in der ECE-R 22.05 genau definiert, was wiederum manchen Hersteller dazu animierte, die Prüfpunkte entsprechend zu verstärken. Ein legales Prozedere, das Kritiker aber spotten ließ, dass man so auch eine Pudelmütze hätte ECE-tauglich stricken können.
MOTORRAD hat deshalb bereits 2009 mit TÜV-Experte Peter Schaudt und dem Unfallforscher und Biomechaniker Florian Schüler ein praxisnahes Prüfverfahren für Helme entwickelt. Seit nun 14 Jahren hat sich die „MOTORRAD-Helmnorm“ in zahlreichen Vergleichstests bewährt. Zentraler Punkt: Der Helm fällt auf dem TÜV-Prüfstand weiterhin aus rund 3 Metern Höhe, aber nicht auf den ECE-Kantenamboss, sondern auf einen echten Leitplankenträger („Sigmapfosten“), dem nach den Erkenntnissen von Florian Schüler bei Unfällen oftmals eine tragische Rolle zukommt.
Getestet werden die Helme außerdem bei Raumtemperatur, der Aufprall auf die linke und rechte Seite erfolgt sowohl bei Low- als auch bei Highspeed. Nach der ECE-R 22.05 war beim Aufprall ein Beschleunigungswert von 275 g zulässig (auch bei der neuen ECE-R 22.06, nun aber mit 8,2 statt 7,5 m/s). Der mit Sensoren bestückte Prüfkopf leitet den g-Wert an einen Computer, der daraus unter Zuhilfenahme anderer Parameter (Dauer der Krafteinwirkung) den HIC-Wert berechnet. Das „Head Injury Criterion“ gilt bei Medizinern und Biomechanikern als aufschlussreicher Wert, um Aussagen über mögliche Hirn-/Schädelverletzungen zu treffen. Die ECE-R 22.05 erlaubte einen maximalen HIC-Wert von 2400 (ECE-R 22.06 bei 8,2 m/s: 2880). Eine abstrakte Zahl, weit abseits von Gut und Böse. Die Expertencrew ist sich einig: „Im MOTORRAD-Helmtest sollte HIC 1000 machbar sein!“ Ist es auch, wie mehrere Helme bei früheren Tests bewiesen haben. Auch beim vorliegenden Test liegt der Bestwert sehr nah am Wunschwert: Der Nolan erreicht HIC 1014. Und auch der höchste HIC-Wert liegt mit 1422 immer noch deutlich unterm ECE-Maximalwert.
Helm-Prüfnorm ECE-R 22.05 oder ECE-R 22.06?
Nach 19 Jahren mit der Helm-Prüfnorm ECE-R 22.05 ist seit Anfang 2021 mit der ECE-R 22.06 eine kräftig modernisierte und deutlich praxisgerechtere Prüfnorm im Spiel. Bis zum Juni 2022 währte eine Übergangsphase, in der die Helmhersteller frei wählen konnten, nach welchen Regeln sie ihre Produkte prüfen lassen wollten. Seitdem wird nur noch nach der „Nullsechser“ geprüft und genehmigt, und ab Juni dieses Jahres darf auch kein neues Prüfnorm-Label gemäß der „Nullfünfer“ mehr am Kinnriemen vernäht werden.
Besagte Übergangsphase sorgt dafür, dass in diesem Test eine bunte Mischung von „alten“ Helmen (also nach ECE-R 22.05 geprüften) und „neuen“, also gemäß den Bestimmungen der ECE-R 22.06 genehmigten Helmen treffen.
Getestet wird von MOTORRAD und dem TÜV Rheinland seit jeher deutlich härter, und etwas salopp lässt sich sagen, dass sich die neue ECE-Norm der bisherigen MOTORRAD HIC 1000 angenähert hat – nicht etwa umgekehrt. Was nichts daran ändert, dass wir im nächsten Jahr nachlegen und das HIC-1000-Prüfprozedere verschärfen werden.
Muss ich in Deutschland überhaupt einen ECE-geprüften Helm fahren?
Nein. In Deutschland herrscht entgegen landläufiger Meinung und dank einer uralten Ausnahmeverordnung noch immer keine Pflicht zum Tragen eines ECE-konformen Helmes. Es ist seitens des Gesetzgebers nur davon die Rede, dass der Helm „aufgrund seiner Bauart als Motorradhelm geeignet“ sein muss (was z. B. Feuerwehr- oder Stahlhelme eindeutig nicht sind). Allerdings ist diese etwas schwammige Formulierung im Falle eines Unfalls bestens dazu geeignet, Versicherungen und Gutachter fest davon überzeugt sein zu lassen, dass eben nur „ECE-geprüft“ dem zwingend vorgeschriebenen „als Motorradhelm geeignet“ entspricht.
Es gibt weitere gute Gründe, auf besagtes ECE-Label Wert zu legen: die Bestimmungen im europäischen Ausland, ganz besonders in Italien. Wer dort als Motorradfahrer keinen ECE-geprüften Helm (05 oder 06 – beides gilt) trägt, ist gegebenenfalls ziemlich schnell Fußgänger.
ECE-R 22.05 und ECE-R 22.06 – Interviwe mit TÜV-Experte
Peter Schaudt (59) ist amtlich anerkannter Sachverständiger für den Kraftfahrzeugverkehr, beim TÜV Rheinland in Köln seit 2001 als „Sachverständiger Technischer Dienst“ unter anderem für Helmprüfungen zuständig und mit seinem Team seit vielen Jahren der MOTORRAD-Ansprechpartner, wenn es um Prüfstandsversuche im Rahmen von Helmtests geht. Wir sprachen mit ihm über die Auswirkungen der Umstellung auf die neue Norm ECE-R 22.06.
Wie sah euer „05er-Prüf-Finale“ aus? Gab es bis zum Juni 2022 noch viel zu tun?
Die 05 hat sich überraschend ruhig verabschiedet. Viele Hersteller hatten wohl doch schon damit abgeschlossen.
Wie entwickelte sich seither das 06er-Prüfgeschehen?
Im Herbst/Winter war das sehr hoch, mittlerweile ist es konstant, aber auf hohem Niveau. Der Bedarf an 06er-Helmen muss wohl erst gestillt werden.
Wie groß ist der zeitliche Mehraufwand für eine 06er-Prüfung, und wie viel kostet eine aktuelle Prüfung?
Der Zeitaufwand ist um zirka 30 Prozent höher als bei der 05er. Auch die Kosten sind entsprechend gestiegen. Eine komplette Helmgenehmigung für einen Helm aus drei Schalen mit Visier kostet rund 12 000 Euro. Vorausgesetzt, bei der Prüfung läuft alles „normal“.
Hat sich mit der 06er das Prüfgeschehen womöglich ins Ausland verlagert – zum Beispiel wegen geringerer Kosten oder „großzügigerer“ Nutzung von Ermessensspielräumen?
Das haben wir zum Glück nicht festgestellt. Unser Vorteil ist unsere Effizienz, die für unsere Kunden den Lohnkostenunterschied ausgleicht, sowie unser sehr gutes Verhältnis zum Kraftfahrt-Bundesamt.
Wo lagen in der 06er-Prüfpraxis bislang die größten Hürden für die Helmhersteller?
Für manche Hersteller waren dann doch die geänderten Aufprallgeschwindigkeiten eine Herausforderung. Wir prüfen ja nun nicht mehr ausschließlich bei 7,5 m/s, sondern auch bei 6,0 m/s und bei 8,2 m/s. Auch die Verschiebung des Helmes auf dem Kopf nach hinten – im Grunde die umgekehrte Helmabstreif-Prüfung als statischer Versuch – bereitet manchen Herstellern nach wie vor Probleme. Hier wird versucht nachzustellen, ob der Helm während der Fahrt nach hinten rutscht.
Wie ist eure Erfahrung mit der viel diskutierten Rotationsprüfung, die es in der 05er noch nicht gab und die für die 06er neu eingeführt wurde?
Bisher hatte noch kein Hersteller mit dieser neuen Prüfung ein Problem. Künftig werden wir uns wohl mit den Grenzwerten beschäftigen …
Stichwort „Änderungs- bzw. Ergänzungsbedarf“: Ist die aktuelle ECE-R 22.06 in Stein gemeißelt, oder gibt es aktuell noch (weitere) „Baustellen“, an denen nachgearbeitet werden muss?
Die 06 ist erst mal fertig geschrieben. Sicherlich wird die 06 aber regelmäßiger angepasst als die 05. Interpretationen werden ohnehin bei Bedarf mit anderen Technischen Diensten und Genehmigungsbehörden abgestimmt.
Für wie wahrscheinlich hältst du ein Verkaufsverbot für Helme, die nach ECE-R 22.05 geprüft sind, was theoretisch ab dem 3. Januar 2024 möglich wäre?
Die offizielle Antwort des Kraftfahrt-Bundesamtes lautet dazu: „Ein Verkaufsverbot ist in Deutschland derzeit nicht angedacht.“
Dein Rat für Helm-Käufer 2023: 05er oder nur noch 06er?
Auch mit einem guten 05er ist man sicher gut geschützt unterwegs.
In der Motorradhelm-Mittelklasse gibt's mehr als den Basis-Unfallschutz: Ausstattung, Bedienungsfreundlichkeit, Passform und Komfort. So sind integrierte Sonnenblenden in der Mittelklasse längst Standard. Herausnehmbare und waschbare Futter sowieso. Die werden immer öfter mit Notentriegelungs-Systemen kombiniert, bei denen extra Riemen das Herausnehmen der Wangenpolster ermöglichen und so den Rettungskräften das Abnehmen des Helmes erleichtern sollen. Und auch individuell anpassbare Polster sind längst kein Oberklasse-Luxus mehr. Das Beschlagen verhindernde Visier-Doppelscheiben – meist unter dem Markennamen Pinlock geführt – gehören in der Mittelklasse schon länger zum guten Ausstattungston. Falls nicht: Bitte rund 35 Euro extra einplanen.
Verarbeitungsmäßig hat sich in der Helm-Mittelklasse ebenfalls viel getan. Kein einziger Test-Integralhelm gibt sich eine gravierende Blöße. Unterm Strich sind alle Innenausstattungen gut oder sogar sehr gut verarbeitet. Was auch für die Helmschalen gilt. Testsieger ist der Nolan N80-8. Er überzeugt nicht nur in der Fahrpraxis. Unter seiner thermoplastischen Schale ("Lexan") wurden auch die besten Schlagdämpfungswerte gemessen. Auf dem zweiten Platz landet mit dem Scorpion ebenfalls ein "Gespritzter"; Dritter wird dann mit dem iXS tatsächlich ein Fiberglas-Helm. Was lernt der geneigte Leser daraus? Lassen Sie sich nicht verrückt machen! Thermoplast oder Duroplast, ECE-R 22.05 oder ECE-R 22.06 – entscheidend ist, dass der Motorradhelm perfekt zu Ihnen passt. Und darüber kann nur eine Probefahrt finale Auskunft geben.