Steht den Crossern eine klassenlose Gesellschaft bevor? KTM eröffnet mit der neuen 350 SX-F eine neue Hubraumkategorie.
Steht den Crossern eine klassenlose Gesellschaft bevor? KTM eröffnet mit der neuen 350 SX-F eine neue Hubraumkategorie.
Es ist schon ein wenig seltsam: Viele Jahre lang hatten wir Journalisten an der wenig geschmeidigen Federung der österreichischen Offroad-Maschinen herumgenörgelt. Wir hatten Traktion vermisst, uns mehr Komfort und Progression gewünscht; und die Stabilität war zeitweise auch ein heikler Punkt. Zuletzt mussten aber selbst strenge Kritiker zugeben, dass die direkt angelenkte PDS-Federung nach all den Jahren vielleicht nicht perfekt, aber mehr als passabel funktionierte. Und immerhin holte KTM Weltmeistertitel in Cross und Enduro mit PDS-Federung.
Doch nun lassen die KTM-Techniker ihren Alleingang in Sachen Federung fallen wie eine heiße Kartoffel - zumindest bei den Viertakt-Crossern. Was irgendwie auch mit dem Engagement von Cross-Legende Stefan Everts zu tun hat, der seit Ende 2006 in Diensten der Österreicher steht. Denn im Werk gab es eine starke PDS-Fraktion, erst der belgische Superstar konnte die Strukturen aufbrechen und seine ganze Erfahrung in das neue Projekt einbringen.
Mit der neuen 350 SX-F beginnt aber auch in Sachen Motor eine neue Ära. Der neue Hubraum soll den idealen Kompromiss zwischen übermotorisierten 450ern und drehzahlgierigen 250ern darstellen. Quasi die ultimative Fahrmaschine für eine klassenlose Gesellschaft der Zukunft.
Nachdem die 350er unter Toni Cairoli bereits WM-Siege gegen erheblich kräftigere 450er einfuhr, konnten sich nun kurz vor Auslieferung der ersten Serienmaschinen die Journalisten einen ersten Eindruck verschaffen. MOTORRAD-Stammtester Didi Lacher war vom ersten Meter an hellauf begeistert. Die Wende beginnt bereits beim Aufsitzen. Das typische KTM-Feeling ist passé, man sitzt beim neuen Chassis - das auch 250er- und 450er-Viertakter bekamen - mehr drin als drauf. Das wird vor allem weniger groß gewachsene Piloten freuen, die sich bislang auf einem Japan-Crosser wohler fühlten. Das Motorrad geriet zudem ausgesprochen schmal, wirkt schon im Stand zierlich und handlich.
Ein Eindruck, der sich auf der ersten Runde umgehend bestätigt. Die 350er ist hervorragend ausbalanciert, bleibt präzise auf Kurs und lässt sich spielerisch leicht dirigieren. Im Gegensatz zu früher oft störrisch agierenden PDS-Maschinen ist die Neue eher komfortabel abgestimmt. Sie saugt die Unebenheiten förmlich auf, planiert wellige Geraden geradezu. Trotzdem schlägt die Federung bei harten Landungen nicht wie bisher metallisch hart durch, sondern setzt weicher auf dem Anschlagdämpfer auf.
Der Grund ist in der progressiveren Kennlinie der Hebelei zu suchen. Nicht nur die Dämpfung, auch die Federung verhärtet sich zum Ende des Federwegs hin zunehmend. Daher kann man die 350er - wie die beiden anderen, fahrwerksmäßig identischen Viertakter - tendenziell softer abstimmen. Die PDS-Modelle verlangten eine härtere Einstellung von Federung und Dämpfung, was dann zu Lasten der Traktion und des Fahrkomforts ging. Besonders bei Supercross-ähnlichen Pisten war das ein Problem, weswegen zum Beispiel in den entsprechenden Serien kaum KTM-Maschinen in den Starterfeldern zu finden waren. Das wird sich ändern.
Die progressive Hebelei macht die Einstellung auf die Strecke und individuelle Fahrweise einfacher. Die PDS-Federung funktionierte bisher nur dann gut, wenn man die optimale Einstellung ausgetüftelt hatte. Die Hebelfederung ist unkritischer und simpler einzustellen. Sie funktioniert auch dann noch ganz ordentlich, wenn man mal ein paar Klicks danebenliegt.
Fahrwerk und Motor kann man nie isoliert betrachten. Der weich einsetzende, gleichmäßig zulegende und fast vibrationsfrei laufende 350er-Motor trägt auch seinen Teil zum tollen Fahrverhalten bei. Und er hat bei aller Leichtigkeit viel Druck oben heraus. 50 PS gibt KTM bei enormen 13000 Umdrehungen an. Damit dreht er so hoch wie manche 250er, liegt aber in der Spitzenleistung auf dem Niveau einer aktuellen 450er-Honda.
In dieser Verfassung hat die 350er nicht nur bei den Rundenzeiten, sondern auch beim Start gute Karten gegen die 450er, gegen die sie ja meistens antreten muss. Während die Viertelliter-Maschinen oft schnellere Rundenzeiten fahren können, im Beschleunigungsduell aber praktisch chancenlos sind, kann eine 350er dank linearer Kraftentwicklung und guter Traktion beim Spurt zur ersten Kurve locker Paroli bieten. Des Weiteren kann die Motorcharakteristik in drei Modi den Streckenverhältnissen angepasst werden, die Unterschiede sind deutlich spürbar. Unterm Strich vereinigt die 350er nicht - wie so oft bei Zwischenlösungen - die Nachteile beider bisherigen Hubraum-klassen, sondern eher deren Vorteile.