Test Vertemati 495
Techtelmechtel

Der leidenschaftliche Flirt der Vertemati-Brüder mit der Technik hat endlich Konsequenzen: Der Serienableger der High-Tech-Werksmaschine ist nun für jedermann erhältlich.

Viertakter haben derzeit im Off-Road-Bereich Rückenwind, nicht zuletzt durch Yamahas YZ 400 F. Den Anstoß für die aktuelle Renaissance der Dampfhämmer gab jedoch die kleine italienische Firma Vertemati, ehemals Husaberg. Sie konnte mit modifizierten Husaberg-Maschinen 1992 erste Erfolge in der Halbliter-Crossweltmeisterschaft erringen. Tiefgreifende technische Modifikationen machten aus der Husaberg immer mehr ein eigenständiges Produkt, eine Serienfertigung schien aufgrund des hohen technischen Aufwands und den begrenzten witrtschaftlichen Möglichkeiten der Vertemati-Brüder jedoch utopisch. Daß es nun einen Production-Racer gibt, ist externen Geldgebern zu verdanken, die die Firma V.O.R. Motori gründeten und im kommenden Jahr bereits mehr als 1000 Motorräder produzieren wollen.
Gegenüber den Werksrennern (Fahrbericht in MOTORRAD 2/1995) hat sich der Serienableger technisch kaum geändert (siehe Kasten). Die Sitzprobe bestätigt den visuellen Eindruck: Die Vertemati ist ein Viertakt-Crosser klassischer Natur, also hochbeinig, breit und ergonomisch völlig anders als ein Zweitakter. Man thront über der Maschine, für Kurzbeinige eine echte Hürde. Das Startprozedere ist unüblich: Der Kickstarter muß nach vorn getreten werden. Nach einer Eingewöhnungsphase kein Problem, besonders kooperativ verhält sich der Vierventiler dabei aber nicht. Gewöhnungsbedürftig ist auch die Schaltung mit dem Leerlauf unterhalb der drei Gänge, beim Fahren tappt man anfangs häufig in die Leerlauf-Falle.
Der Motor ist nicht nur das technische, sondern auch das fahrdynamische Highlight. Er bietet deutlich mehr Druck als eine Yamaha, geht sanfter zur Sache als eine Husaberg und dreht spontaner und höher als eine Husky. Durch das breite Drehzahlband und die enorme Spitzenleistung kann sich der Vertemati-Fahrer bereits in der Startkurve eine optimale Ausgangsposition sichern. Drei Gänge reichen, auf flüssigen Pisten werden sogar nur zwei genutzt. Für den weiteren Rennverlauf nach der Startphase sind gute Federelemente wichtig, auch hier überzeugt der Italo-Crosser weitgehend. Die Hinterradaufhängung arbeitet phänomenal, der Öhlins-Dämpfer läßt auch nach einer guten halben Stunde auf einer Buckelpiste keinen Deut nach und sorgt beim Beschleunigen für hervorragende Traktion. Die 50er Marzocchi-Gabel ist gut abgestimmt, schlägt nur in Extremfällen gnadenlos durch.
Die quirligen Yamaha dürften es somit schwer haben, ihren Leistungsnachteil wettzumachen. Auch wenn die leichter zu fahrenden Japaner auf bessere Rundenzeiten kämen, sie müssen an einer Vertemati erst einmal vorbei. Einziger Hoffnungsschimmer: Die Vertemati verlangt mehr Körpereinsatz und Konzentration, das ermüdet.
Für nicht gerade wenig Geld wird ein reeller Gegenwert geboten: aufwendige Technik, exotische Materialien, edle Teile, nett arrangiert. Wenn auch noch nicht perfekt: Die Fußrasten hängen nach außen, der Kickstarter schabt am Bremszylinder entlang, die Griffgummis sind von der billigsten Sorte. Der ungeschützte Krümmer verschmorte die Hose bereits während der ersten Testsitzung.
Fazit: Die hochbeinige Vertemati spricht vorwiegend den klassischen Viertaktfan an, der bis dato bereits europäisches Material bewegte. Bei Zweitakt-Umsteigern oder YZ 400-Fahrern würde aus dem ersten Flirt wohl kaum eine glückliche Beziehung.

Unsere Highlights

Exklusivste Technik für jedermann

Die Vertemati ist gespickt mit eigenwilligen, edel verarbeiteten Lösungen

High-Tech in Serie, unter diesem Motto steht die Vertemati. Viele technische Finessen der Italienerin gibt es sonst nur bei sündhaft teuren Werksmaschinen zu bewundern. Zum Beispiel der Stirnradantrieb der Nockenwelle, dessen Zahnradhälften zum Zwecke der Geräuschminderung durch Federn verspannt sind. Im Gegensatz zur üblichen Steuerkette ist die Übertragung durch Zahnräder exakter und drehzahlfest. Die Ventilsitze sind aus einer superharten Beryllium-Legierung, daher finden sich an den Kipphebeln keine Einstellschrauben. Eine Korrektur des Spiels ist laut Vertemati nicht nötig. Das Kassettengetriebe erlaubt bei eingebautem Motor den Tausch von Zahnrädern zwecks Reparatur oder Änderung der Übersetzung, dazu stehen für die einzelnen Gänge unterschiedliche Abstufungen zur Wahl. Auch der Wechsel zwischen Drei- und Fünfgang-Version für Cross und Enduro ist schnell möglich. Der Kickstarter wird nach vorn getreten, das bringt mehr Weg, da die Fußraste nicht im Weg steht. Das Gehäuse besteht aus leichtem Magnesium (Motorgewicht 26 Kilogramm). Die Kupplung wird hydraulisch betätigt, das Spiel am Hebel ist somit konstant.Der Rahmen wird aus fünf Teilen verschraubt. Risse sollen durch Vermeidung von Spannungspitzen und weitgehenden Verzicht auf Schweißnähte verhindert werden. Zudem lassen sich bei Beschädigungen Einzelteile des Rohrwerks ersetzen. Luft saugt der Motor wie eine Husaberg durch das zentrale Kastenrohr, auf dem sich der relativ kleine Luftfilter unterhalb der Sitzbank befindet. Die Schwinge ist verschraubt. Die Arme sind jeweils vom Schwingenlager bis zur Achse aus einem geschmiedeten Teil, empfindliche Schweißnähte entfallen dadurch. Mit 116 Kilogramm (ohne Benzin) ist die Vertemati kein Federgewicht, allerdings ist sie bereits im Serienzustand absolut rennfertig.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023