Eigentlich ist es ein ganz unschuldiges Vergnügen: im dritten Gang einfach so dahincruisen, bei etwa 4000/min, und dann das Gas aufziehen. Der prasselnde Auspuffton des 70-Grad-V4 verschmilzt mit steigender Frequenz zu einem heiseren Röhren, ab 6000/min sorgen die Klappen in den Ansaugtrakten der beiden Zylinderbänke dafür, dass jeder Zylinder in der Ansaugphase von zwei Vergasern mit Gemisch versorgt wird. Dann reißt es die Yamaha Vmax plötzlich nach vorn wie von einem – es gibt einfach keinen besseren Vergleich – überstarken Gummiband gezogen. Der Motor verbreitet jetzt einen harten, trockenen Klang.
So schnalzt er auf 9000 Umdrehungen hoch, und es wird Zeit für den nächsten Gang, die Wiederholung. Vierter, fünfter, jenseits der 200 wird die Sache langsam ungemütlich; die Sitzposition auf der Yamaha Vmax ist nicht dafür geschaffen, dass sich der Fahrer dauernd gegen den reißenden Fahrtwind stemmen kann. Den größten Teil der viel kritisierten Fahrwerksunruhen bei höherem Tempo verursacht er deshalb selbst. Zeit, das Gas zuzudrehen und wieder mit 130 Sachen dahinzuprötteln. Bis einen das nächste Mal die Lust auf den V-Boost packt.
Leicht überproportionierter V-Motor im Zentrum des Fahrwerks
Am liebsten würde man das ganz für sich allein genießen; ein Publikum braucht es dafür nicht. Aber wann ist man auf der Autobahn schon einmal allein? Und wann kann man dem oben beschriebenen, unschuldigen Vergnügen frönen, ohne dass sich jemand provoziert fühlt? Immer läuft in der Phase des Nachlassens einer von hinten auf, den man vorher hat stehen lassen, und regt sich auf, schimpft, gestikuliert. Gut, dass die Lichthupe eines solchen Zeitgenossen nicht scharf schießt. Wahrscheinlich ist da viel Neid auf die grandiose Beschleunigung der Vmax im Spiel. Wahrscheinlich war das aber auch genau so beabsichtigt, als die Yamaha Vmax 1984 vorgestellt wurde und im Jahr darauf auf den Markt kam: als überstarkes Provokationsobjekt, gemacht für böse Jungs - und böse Mädchen. Damit die Böses damit anstellen können: den Hinterreifen auf der Viertelmeile des Öfteren übel malträtieren, um sich möglichst schnell darüberzerren zu lassen.
Das macht naturgemäß diejenigen zornig, welche diese grandiose Art von Bosheit mit unterlegenem Gerät so nicht ausleben können. Gedrungen, dunkel, mit ihrem leicht überproportionierten V-Motor im Zentrum des Fahrwerks, vor allem aber mit den auffällig von der dunklen Umgebung abstechenden Lufthutzen signalisiert die Yamaha Vmax ungeniert ihren Status als Beschleunigungskraftwerk. Dabei sind die Lufthutzen nur Attrappen, und das provokante Äußere lenkt davon ab, wie wertig und gediegen sie gebaut ist. Zum Beispiel der Kardanantrieb. Seinerzeit haben sich die Ingenieure für ihn entschieden, weil sie die gewaltigen 145 PS nicht auf eine Kette loslassen wollten. Und so stämmig wie er sich präsentiert, glaubt man dem Antriebsstrang ohne Weiteres, dass er auch 290 PS störungsfrei auf die Straße bringen würde.
V4 als Sinnbild der Motorgewalt
Die Oberflächenbearbeitung am ganzen Motorrad ist ein Gedicht, und der V4, das Sinnbild der Motorgewalt, läuft sehr kultiviert. Nicht säuselnd-glatt wie ein gut ausbalancierter kleiner Reihenvierzylinder, sondern stets angenehm pulsierend, wie eine Massage. Die hier vorgestellte Yamaha Vmax gehört Thomas Heim aus Stuttgart. Es handelt sich um einen US-Import, Baujahr 1996, der im Unterschied zur leistungsreduzierten Europa-Version mit dem V-Boost ausgestattet ist und bereits das überarbeitete Fahrwerk mit einer kräftigeren Gabel und der Bremsanlage der FZR 1000 besitzt. Ab 1993 wurde diese Ausführung gebaut. Mit einem Lenkkopflager von Emil Schwarz und einem zarten Umbau der Gabel hält sie selbst bei hohem Tempo auf der Autobahn weitgehend still.
Gut 38.000 Kilometer hat die ansonsten im gepflegten Originalzustand gehaltene Yamaha Vmax auf der Uhr, und sie wirkt frisch wie an ihrem ersten Tag. In den letzten Jahren hat Thomas Heim sie allerdings eher selten gefahren. Der Grund dafür ist eine neue Vmax, die 1800er, mit der er auch Sprintrennen bestreitet. „Dagegen beschleunigt meine alte wie ein Moped“, sagt der Besitzer. Da untertreibt er ein wenig. Nach seiner Vorliebe für diese Art von Motorrädern gefragt, antwortet er: „Ich mag Eisenhaufen; mein Traummotorrad ist eine Münch. Und im Gegensatz zu vielen Motorradfahrern, die betonen, dass nach jeder Geraden eine Kurve kommt, sage ich, dass auf jede Kurve eine Gerade folgt.“
Frische Reifen müssen her
Dabei schwingt seine „alte“ Yamaha Vmax auf der Landstraße durchaus behände durch jede Links-rechts-Kombination, und umgekehrt. Voraussetzung ist allerdings, dass ihr Fahrer sie laufen lässt, schöne weite Bögen fährt, ihre nicht allzu reichliche Schräglagenfreiheit achtet und ihr keine harten Anbrems- oder Einlenkmanöver aufzwingt. Wichtig ist auch, dass die Reifen frisch sind und speziell der hintere nicht schon halb platt beschleunigt wurde. Genau das war aber bei Thomas Heims Yamaha Vmax der Fall. Mehr noch, die Pneus waren schon sieben und zehn Jahre alt, und der Vorderreifen zeigte Risse in den Flanken.
Während die Yamaha Vmax, ihr Besitzer und der MOTORRAD-Redakteur also auf den von Bridgestone gelieferten Ersatz warteten, entstand das Aufmacherfoto: ein Rauchopfer für den Gott der Beschleunigung und der Provokation. Wie, den gibt es nicht? Dann wurde er eigens für die Vmax erfunden. Als Hohepriester, der das Opfer darbrachte, fungierte Stuntman Jo Bauer. Vielen Dank!