Retro ist schwer in Mode. Die im Automobilsektor nun schon eine ganze Weile gängige Praxis, aktuelle Technik in rückwärtsgewandter Optik zu präsentieren (New Beetle, Fiat 500, etc.), etabliert sich immer mehr auch unter den Zweiradherstellern. So viel ist nicht erst mit der Markteinführung der neuen Ducati Scrambler offenkundig. „Die ist aber nicht Retro, die ist Post-Heritage“, gibt Ducati zu bedenken – und hat irgendwie recht. Denn im Gegensatz etwa zu den eher old-schooligen, konservativen Classic-Modellen von Triumph oder den seligen Sport-Classics der Bologneser selbst, zitieren die vier Scrambler-Varianten eher versatzstückhaft das von den alten Einzylinder-Scramblern vor einem halben Jahrhundert zugrunde gelegte Thema. Wenn man so will, eher ein Elektro-Remix statt einer detailgetreuen Coverversion des Originals.
Die Resonanz auf die neue Ducati Scrambler gibt den Machern jedenfalls recht. Mit ihrer schlichten, unaufgeregten und unaufdringlichen Machart gefällt die von uns getestete Scrambler Icon (8490 Euro) offenkundig besonders denjenigen, die mit dem Thema Zweirad eigentlich nichts am Hut haben. Passanten scheinen auf seltsame Weise intuitiv wahrzunehmen, dass hier etwas andersartiges, frisches durch die Gassen bollert. Auch am Café erweist sich die Icon als ausgemachter Sympathieträger, sie ist, aufgepasst Junggesellen und -innen, das zweirädrige Äquivalent zum Hundewelpen. Zu viel Hype? Lassen wir den Markt entscheiden.
2 Kurze Sitzbank taugt für frisch Verliebte
So oder so stimmt der Auftritt nicht nur von Weitem betrachtet, auch in den Details steckt viel Liebe. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Die schicke Alu-Lampenfassung, das edle Finish der Tankembleme (ebenfalls Alu), das Gaszuggehäuse alter Schule, der Tankdeckel – überall finden sich kleine Gimmicks und Reminiszenzen, die den Blick magnetisch anziehen und vom Herzblut der Designer künden. Den Rolf Henniges-Lackmustest für ein Motorrad besteht die Ducati Scrambler jedenfalls, mit ihr würde der Autor abends in der Garage ein Bier trinken. Wie steht es aber mit der eigentlichen Messlatte, dem 1000-Punkte-Top-Test? So sehr sich die Ducati Scrambler mit ihrer simplen, aufs Wesentliche reduzierten Art dem auch zu entziehen versucht, es nützt nichts: Auch Stilikonen sollten in der Lage sein, sich die Schnürsenkel zu binden. Also weg mit dem Latte macchiato und Claudias Telefonnummer, und her mit Helm und Zündschlüssel!
Wer zum ersten Mal auf der Ducati Scrambler Platz nimmt, dürfte von der grazilen Gestalt des Motorrads überrascht sein. Mit 790 Millimetern fällt die Sitzhöhe niedrig aus, dazu baut die Maschine um Tank und Sitzbank schön schmal. Die Reckstange von einem Lenker dagegen ist breit, liegt weit oben und nahe beim Piloten, was eine aufrechte, chefmäßig lässige, aber kaum fahraktive Haltung aufnötigt. Wer so kompakt wie die Maschine gebaut ist, sitzt automatisch in einer kleinen Kuhle direkt hinterm Tank. Größere Fahrer können nach hinten rutschen, dann allerdings hockt der Allerwerteste auf einer Kante in der Polsterung, was auf Dauer unbequem ist. Der Kniewinkel fällt aufgrund moderat hoch montierter Fußrasten schon für Fahrer um 1,75 Meter ein wenig spitz, aber erträglich aus. Wer zum Kirschenpflücken keine Leiter braucht, wird sich auf der kompakten Ducati Scrambler allerdings etwas überdimensioniert fühlen. Kuschelig sind die Platzverhältnisse auf Sitzplatz Numero due: Zwar passt der Kniewinkel, die kurze Sitzbank taugt aber eher für frisch Verliebte oder solche, die es werden wollen.
3 Ducati Scrambler gelingt der Spagat zwischen mild und wild
Der Motor der Ducati Scrambler sollte eigentlich aus dem Programm genommen werden, kommunizierte Ducati doch vor nicht allzu langer Zeit mit dem Ende der Monster 796 auch das Ende des luft-/ölgekühlten Zweiventilers. Komisch, wie die ausgedienten Aggregate vergangener Tage heute ihren zweiten Frühling erleben – siehe BMW R nineT. Hier, in der Ducati Scrambler, liefert der mittels geänderter Drosselklappenkörper und Nockenwellen modifizierte 803-Kubik-L-Twin eine ausgezeichnete Vorstellung ab. Solch umgängliche Manieren hätte man dem Motor früher kaum zugetraut. Das etwas unwirsche Hacken der alten Monster ist der Scrambler fremd, stattdessen gibt es verschluckfreies Durchziehen schon ab 2500 Touren und ein ordentliches Drehmomentplateau von über 60 Nm ab 4000 Touren. Auch obenheraus macht der Desmodue nicht schlapp und bietet Drehzahlreserven bis über 9000 Umdrehungen.
Klar, 75 PS bringen keine 180er-Schlappen in Verlegenheit, doch der wahnsinnig sanfte und berechenbare, lineare Schub des Antriebs erlaubt es dem Piloten jederzeit, ansprechende Fahrleistungen herbeizudrehen. Der Ducati Scrambler gelingt der Spagat zwischen mild und wild: Einsteiger werden nicht überfordert, Fortgeschrittene dürfen den Twin nach Herzenslust mosten und zirkeln dann ziemlich zügig. Das Ganze ist akustisch unterlegt von einem Soundtrack, der Herzen erwärmt und Nachbarn verschont. Harter, bassiger L-Twin-Beat, am Prellblech abgerundet, mezzoforte ausgepufft, kernig und doch sozialverträglich, und als Tüpfelchen auf dem i ein dezentes Tennisball-Bratzeln im Schiebebetrieb. Voilà, fertig ist der Gehörgangschmeichler.
4 Kurzen, knochentrockene Schaltwege
Die Kupplung arbeitet unauffällig und unterstreicht mit guter Dosierbarkeit und geringer Handkraft den spielerischen Charakter der Ducati Scrambler. Die versprochene Anti-Hopping-Funktion der APTC-Einheit muss man zwar mit der Lupe suchen, Hinterradstempeln ist dennoch kein Thema. Das Sechsganggetriebe ist – Überraschung! – ein typisches Ducati-Getriebe mit kurzen, knochentrockenen Schaltwegen. Es will seine Schaltbefehle am liebsten von einem autoritären Fuß erhalten, belohnt dafür aber mit satter Rastung. Die Übersetzung fällt praxisgerecht kurz aus. Zwar werden beachtliche 195 Stundenkilometer Topspeed angegeben, aber längere Autobahnetappen verbieten sich aufgrund des nicht vorhandenen Windschutzes. Das würde auch so gar nicht zum Charakter der Ducati Scrambler passen.
Lieber genüsslicher Swing auf der Landstraße, wo die Ducati Scrambler ein weitgehend stimmiges Bild abliefert. Über die breite Lenkerstange lässt sie sich mit sehr geringem Kraftaufwand durch Radien aller Art zirkeln, sie lenkt leicht und gleichmäßig ein und bleibt sauber auf Spur. Der Geradeauslauf ist tadellos, auch die Schräglagenfreiheit ist gut. Nur rechtsherum setzt – spät, aber doch – die Auspuffblende hart kratzend noch vor der Fußraste auf. Gut, wenn dann keine Bodenwelle folgt.
Überhaupt sind Bodenwellen und die Ducati Scrambler nicht gerade allerbeste Freunde, da besonders das direkt angelenkte, unterdämpfte hintere Federbein kurze Schläge per Eilzustellung an den Fahrerhintern durchreicht. Vorne passt es halbwegs, aber ein etwas weicheres Setup und besseres Ansprechverhalten würde dem Easy-Going-Wesen der Scrambler besser stehen. So verbuchen wir das simple, nur hinten in der Vorspannung einstellbare Fahrwerk mal etwas optimistisch unter „kernig und ehrlich“. Für Zweipersonenbetrieb muss zudem hinten unbedingt stärker vorgespannt werden, da die Schräglagenfreiheit sonst arg zusammenschrumpft.
5 Die halbe Bremsanlage der Panigale
Eigens für die Ducati Scrambler neu aufgelegt wurde der grob profilierte Pirelli MT 60 RS in den Dimensionen 110/80/18 vorne und 180/55/17 hinten. Der Gummi gefiel mit geringem Aufstellmoment sowie gutem Gripniveau, besonders bei Nässe, und im Gegensatz zum antiken, seinerzeit unter Supermoto-Piloten beliebten Vorgänger geringen Fahrgeräuschen. Allerdings zeigte der Null-Grad-Stahlgürtelpneu nach gut 1300 Kilometern Testbetrieb an den vorderen Flanken schon akute Abnutzungserscheinungen. Nichts also für Kilometerfresser, aber bei Bedarf finden sich im Handel auch aktuelle Gummis in den genannten Dimensionen mit haltbareren Mischungen – nur sehen die dann halt nicht mehr so cool aus. Wer es wissen muss: Der Reifen spielt auch auf Wald- und Schotterwegen noch mit, echte Offroad-Einlagen verbieten sich aber aufgrund knapper Federwege und der ungeeigneten Sitzposition selbstredend, wenn’s auch noch so spektakulär ausschaut. Viel eher liegt dem Retro-Raketchen der Großstadtdschungel, wo einfache Bedienbarkeit und komfortable Sitzposition stressfreies A-nach-B ermöglichen. Nur die Breite des Lenkers stört ein wenig beim frechen Durchschlängeln an der Ampel.
Zum Verzögern kommt am Vorderrad der Ducati Scrambler eine einzelne 330-Millimeter-Scheibe nebst Brembo-Monoblock zum Einsatz, im Prinzip die halbe Bremsanlage der Panigale. Die ankert gut dosier- und berechenbar, für heftiges Verzögern muss der Pilot aber auch ordentlich reinlangen. Fading konnten wir keines feststellen, ebenso ist die Verwindungsneigung der asymmetrischen Einscheibenanlage zu vernachlässigen. Auch das abschaltbare Bosch-ABS macht mit kurzen Regelintervallen und geringem Pulsieren im einstellbaren Bremshebel einen guten Job. Hinten heißt es dann noch einmal „typisch Ducati“. Hier ist die Bremsleistung bescheiden und von eher kosmetischer Natur, ganz egal wie heftig man reintritt.
6 4,7 Liter Verbrauch auf 100 Kilometer
Auch in Alltagsbelangen gibt sich die Ducati Scrambler umgänglich. Mit 4,7 Litern auf 100 Kilometer liegt der Verbrauch im klassen-üblichen Rahmen, das ergibt bei 13,5 Litern Tankinhalt eine theoretische Reichweite von rund 300 Kilometern. 12.000er-Wartungsintervalle schonen den Geldbeutel, Standard-Ducati-Bedienelemente die Nerven des Fahrers. Die Ausstattung fällt spartanisch aus, als einziger Luxus findet sich eine USB-Steckdose unter der Sitzbank. Fans dürfen das aber als Purismus verbuchen. Der kleine Digitaltacho informiert über das Nötigste, nämlich Geschwindigkeit, Tageskilometer, Uhr, und, kaum zu entziffern, die Drehzahl als im Uhrzeigersinn umlaufender Balken.
Doch derlei Kleinigkeiten will man der Ducati Scrambler eigentlich nicht ankreiden, denn sie macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass ihr die Alltagskategorie ziemlich schnuppe ist. Vieles, was Punkte bringt, ist ihr eben egal, und das macht sie irgendwie sympathisch. Für Zyniker mag sie ein Fashion-Item sein, für Racer eine Krücke, für die Custom-Szene zu gewöhnlich und für Nutzwert-Fetischisten ein Rätsel. Für alle, die Spaß am einfachen, unkomplizierten Motorradfahren, an schön gemachten Gegenständen und an italienischen Momenten haben, könnte sie genau das Richtige sein. Ihr gutmütiges, ehrliches Fahrverhalten stellt keinen vor ein Rätsel, und die Perle von einem Motor fügt sich wunderbar ins Gesamtkonzept ein. Um es noch einmal zu sagen: Wir hatten Spaß mit der neuen Ducati Scrambler.
Fazit
Wer sich schwer in eine verliebt hat, den wird es nur am Rande interessieren – trotzdem können wir vermelden, dass die Ducati Scrambler, von kleinen Fahrwerksschwächen abgesehen, ein gutes Motorrad mit einem tollen Motor ist. Sicher, anderswo gibt es genauso viel für weniger Geld, doch darum geht es nicht. Die Ducati Scrambler macht keine Gefangenen, wenn es darum geht, Herzen zu erobern und Eisdielen zu regieren.
Motor Scrambler Icon/Monster 796

Totgesagte leben länger
Eigentlich sollte er gehen, jetzt bleibt er doch: Der luft-/ölgekühlte L-Twin sollte mit dem Ausscheiden der Monster 696 und 796 aus dem Ducati-Portfolio ebenfalls verschwinden. In der Ducati Scrambler lebt der Zweiventiler jetzt weiter.
Nachdem Monster 821 und 1200 mit ihren wassergekühlten Aggregaten zwar in neue Leistungsbereiche vorgestoßen sind, dabei aber nicht unbedingt Schönheitspreise gewannen (ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Wassermonster meist von der rechten Seite abgelichtet werden?), dürfen Freunde des luftgekühlten Zweiventilers frohlocken. In der Ducati Scrambler erlebt der mit desmodromischer Zwangsventilsteuerung ausgestattete 803-Kubik-L-Twin seinen zweiten Frühling.
Für den Einsatz in dem Retro-Bike wurde der Antrieb ordentlich modifiziert: Ein einzelner statt zwei Drosselklappenkörper (50 Millimeter Durchmesser), geänderte Nockenwellen und zahme elf Grad Ventilüberschneidung – das kostet in der Spitze rund 12 PS, bringt aber ein wesentlich sanfteres Ansprechen und eine wunderbar gleichmäßige Leistungsentfaltung.
Der überarbeitete Motor geht wesentlich früher ohne Rucken und Hacken ans Gas, hat keine Drehmoment- oder Leistungsdellen und kernigen Druck in der Mitte. Obenheraus fehlt ihm etwas die Monster-Drehfreude, aber damit kann man in der Ducati Scrambler gut leben. Und mal ehrlich: Schaut er nicht hinreißend aus?
Technische Daten Ducati Scrambler





Gebrauchte Ducati Scrambler Icon im Preisvergleich

Mit dem großen Zubehörprogramm von Ducati ist der Scrambler Icon eine gute Basis für diverse Umbauten. Deshalb überrascht es, dass so viele Exemplare am Gebrauchtmarkt noch serienmäßig sind. Die Auswahl ist trotzdem sehr groß. Hier ein Preisvergleich: gebrauchte Ducati Scrambler Icon in Deutschland.